Liege im Zelt auf dem Rücken. Schaue in die Apsis. Die Sonne hebt sich aus dem Morgen. Ganz wie ich es gestern berechnet hatte, scheint sie über den Mühlbach zwischen den beiden Birken hindurch direkt aufs Zelt. Nachttau verdunstet. Die ersten Käfer verirren sich die Zeltwand hinauf ins – für sie wohl fraktale – Gewinde des fremden Universums, das sich über ihren Höhlen wie aus dem Nichts aufgebaut hat. Ob die Insekten dieses Universum erkunden? So wie ich Bayern? Ob sie eine Vorstellung von dem haben, worin sie sich befinden, wo die Grenze ist, wo der Ausweg, wo das Zurück?
Der Mühlbach plätschert gegen das Zischen der Bundesstraße an, die um die Frühstückszeit deutlich an Wucht gewinnt.
Die gestrige Etappe von der Šumava oberhalb Finsteraus über Mauth, Spiegelau und vorbei an Frauenau führte sehr oft an dieser Straße entlang. Dieser oder einer anderen Straße, die wie scharfe Klingen am feinen Hals des Naturidylls und Nationalparks Bayerischer Wald liegen. Hier die Straße, das Gezeter, der Dieselruß und jenseits meines fast immer ungeteerten Radwegs dichter, naturbelassener Wald. Abgebrochene Bäume. Felsen, Tümpel. So als habe Gott als kleines Kind hier gespielt und nicht aufgeräumt.
Was heißt nicht aufgeräumt? Was aufgeräumt bedeutet, liegt ja im Auge des Betrachters.
Ist das, was der Mensch gesäubert und aufgeräumt hat, der erstrebenswerte Zustand? Parzellierung, Aufteilung, Grenzen ziehen, Verbote aussprechen, Gesundes in zwei Hälften teilen mit der scharfen Teerklinge namens Fernstraße absolut naiv annehmen, dass daraus zwei Gesunde entstehen?
Die Narbe sind wir selbst, die wir immerzu von A nach B wollen – und das schnell und ohne ausgebremst zu werden.
Von der ehemaligen Zonengrenze rausche ich über Finsterau hinab ins Tal, stets auf einem schmalen Teerweg im Wald, vorbei an einem Freilichtmuseum. Das Museum ist zwar um halb zehn schon geöffnet, aber das Café, nachdem ich mich sehne, macht erst um 12 Uhr auf. Weiter abwärts bis kurz vor Mauth. Der Nationalparkradweg ist sehr gut beschildert, würde mich an Mauth vorbei durch den Wald führen.
Eine junge Frau erzählt mir, dass in Mauth an diesem Sonntag Markttreiben ist. Ein Umzug zieht durchs Dorf. Oben bei der Kirche gebe es auch ein Gasthaus und eine Konditorei. Konditorei, Kuchen, lecker.
Einen halben Zweibrücker Kreuzberg schwitze ich hinauf ins noch morgenverschlafene Dörfchen, doch der kommende Umzug wirft schon seine Schatten voraus. Vor der Feuerwehr bei der Kirche haben sich schon einige Menschen versammelt. Dirndln und Lederhosen. Es gibt sie tatsächlich. Das ist nicht nur ein Bayernmythos. Ich erlebe die Menschen in ihrem Festtagsstaat.
Als ich bei der Konditorei ankomme, völlig außer Puste, kommt gerade der Chef heraus, hält inne, magst an Kaffee. Jaaa. lechze ich. Da schließt er noch einmal auf, versorgt mich mit Kuchen und Apfeltasche und einer riesigen Schale Milchkaffee. Er ist selbst Radler, sagt er, und da weiß er wie das ist, wenn man außer Puste vor verschlossener Tür steht. Offiziell öffnen sie erst um 12 wegen des Umzugs und des Markttreibens. So, jetzt aber schnell schnell, so geht er nach Hause, um seine Festkleidung anzuziehen, während ich bloggend die Außenterrasse hüte.
Nach Mauth findet man am Nationalparkradweg nichts Besonderes. Nur Waldwege, keine einzige Parkbank auf den zwanzig Kilometern bis Spiegelau. Ein sanftes Auf und Ab unter dem Knirschen der Reifen auf Waldwegekies. Vermutlich haben die Planenden des Nationalpark-Radwegs eine Koombination aus Forstwegen und Loipen meist entlang der Straße mit Radwegeschildern versehen.
Einzig das Nationalpark-Zentrum am Lusen, etwa zur Mitte zwischen Mauth und Spiegelau ist eine kleine Ablenkung. Baumwipfelpfad. Restaurants, viele Leute. Würstchen kaufen, essen, rumlungern, beobachten, danach ist mir. Aber die Schlange beim Imbiss ist ewig lang, so dass ich weiterrolle, vergeblich auf der Suche nach einer Parkbank zum einfach nur Rumliegen und in die Wipfel starren.
Erst gegen Spiegelau gibt es wieder von Menschen für Menschen gemachte Areale. Ein Lauschplatz mit riesigem Trichter, durch den man in den Wald hinein lauschen kann. Eine Weile ruhe ich an einer Fichte hockend – auch hier keine Parkbank – und übertrage die Daten vom Smartphone auf den USB-Stick. Muss auch mal sein, Datensicherung. Von Spiegelau tosen Lautsprecherstimmen durch den Wald. Die Waldakustik ist wirklich berauschend. Ganz besonders. Ich kann es nicht beschreiben. Als würde man in einem riesigen Fass stehen und der Ton bricht sich zigfach. Ich verstehe nicht, was die Lautsprecherstimmen sagen. Aber als ich gegen 15 Uhr den Ortsrand von Spiegelau streife, kommen mir hunderte Menschen entgegen. Die Feuerwehr regelt den Verkehr. Was ist das? Volkslauf? Nahahaein, sagt ein Feuerwehrmann, ein Footballspiel. Football wie Football frage ich, ja, Football. Dann habt ihr hier eine Footballmannschaft? Jahahaha.
Trotzdem radele ich weiter, obschon so eine Show mit typisch Football, so wie ichs mir vorstelle, bestimmt ganz interessant wäre. So etwas habe ich noch nie gesehen und im Bayerischen Wald auch nicht erwartet.
Jenseits von Spiegelau ruhe ich auf einer Parkbank ein wenig, schließe die Augen. Ein Bus donnert vorbei und noch einer und noch einer in regelmäßigem Takt. Der Nationalpark wird nicht nur behütet wie ein Augapfel, er wird auch reguliert für den Tourismus erschlossen. Es muss sich wohl um die Ringbuslinie handeln, die ab Spiegelau zum Baumwipfelpfad und zu den Bergen Rachel und Lusen führt. Immer wenn ein Bus vorbeifährt auf der zwanzig Meter entfernten Teertrasse, vibriert der Boden wie Turnhallenboden, so weich, wie Torte aus Teer.
Weiter gehts nach Frauenau, also eigentlich an Frauenau vorbei, das unterhalb meines Forstwegs namens Nationalpark-Radweg liegt. Erst in Oberfrauenau finde ich ein Restaurant direkt am Weg, gönne mir ein Essen, weil Sonntag ist, lade die Powerbank, die sich dummerweise in der Satteltasche eingeschaltet hatte und sich in den letzten zehn Tagen selbst entleerte.
Der Forumslader kommt die letzten Langsamtage auch nicht nach mit Laden. Ich kriege ein Stromproblem.
Eine Pension oder ein Campingplatz wäre gut. Nein, wir vermieten keine Zimmer, sagt der Gastwirt, aber da unten, Zwiesel, da hats Campingplätze.
So radele ich als schweren Herzens abwärts (’niemals an Höhe verlieren!’) und quartiere mich auf dem Campingplatz Green Village, direkt am Kleinen Regen ein.
Wenn dies mein Universum ist, so wie die doppelte Zeltwand das Zufallsuniversum zahlreicher Käfer geworden ist, und wir alle nach einem Ausweg suchen, so wo ist dann mein Ausweg? Zwischen den sonnenbeschienen Zeltplanen immer Richtung Licht, gibt es da auch noch andere Wege, frage ich mich, nicht zuletzt im Hinblick, dass ich während dieses Abschnitts nie und nimmer die Runde um Bayern zu Ende bringen kann. Ich muss irgendwann abbrechen, aussteigen, zur Erde zurückstürzen, in den Alltag zurückkehren, um neu zu beginnen. So – wo gehts hier raus?
Die Antwort fließt wohl direkt neben meinem Zelt, oder sie tutet warnend vom Schienenstrang.
Ich beschließe, einen Tag Pause einzulegen und einen Abstecher per Bus und Bahn ins Nationalparkzentrum zu machen.
„niemals an Hölle verlieren“ las ich im ersten Moment.
Den Tag Pause mit Verlassen deines Vornehmuniversums wirst du sicher sehr mögen- bin gespannt!
Gruß von Sonja