Wenn ich die nächsten drei vier Kreisverkehre standhaft bleibe, habe ich eine gute Chance zu entrinnen. Ich darf nur nicht auf die Stimme hören. Vorbei an einem Billigtandladen namens Aktion, einem Rewe-Supermarkt, eingespeist in den Mahlstrom des Feierabendverkehrs. Und was für ein Gewusel das ist: alle wollen gleichzeitig überall hin und aus den Seitenstraßen tröpfelt Auto für Auto Kleinmannes-Freuabend-Hoffnung auf ein kühles Bier, die Gattin, die Kinder, ein Spaziergang mit dem Hund.
Jeden Tag das gleiche Spiel im wunderbar engen, schützenden und Halt gebenden Korsett des Alltags. Jenseits ein paar Träume und ganz viel Hoffnung. Bis dieser Fluch, der auch Segen ist vielleicht eines Tages abrupt unterbrochen wird, so wie bei meinem Freund Journalist F., der seit über eine Woche in diesem gottverdammten Krankenhaus in the Middle of fucking nowhere liegt.
Es ist bestimmt das fünfte Mal, dass ich ihn besuche in seinem Zimmer im achten Stock, das einst für ein bis zwei Patienten inklusive Krankenbett, Nachttischchen – Familie und Besuch obendrein – gebaut wurde. Nun ist es mit drei Menschen belegt. Wie Ölsardinen. Ölsardinen, die jemand vor Wochen geöffnet hat und sie auf die Heizung gestellt hat. Schlimmer als die übelste Pilgerherberge, die mir jemals auf dem Jakobsweg untergekommen ist. Es gibt keine Bettwanzen, immerhin. Dafür aber jede Menge Infusionsgestelle, Fieberthermometerablagestellen und der wenige Boden, der sich zwischen den Betten die Blöße gibt, ist ganz wund gelaufen von den China-Kunststoffschuhchen der Krankenpfleger und -pflegerinnen auf ihrer alltäglichen Odyssee durch die Blutzuckermessung.
Meine erste Begegnung mit dem Krankenhaus? Das Navigationsgerät hatte mich zuverlässig zu der Adresse geführt, aber natürlich nicht bedacht, dass der Parkplatz direkt vor der Tür belegt ist, weshalb ich in einer Seitenstraße parkte und mich von Süden dem kosmodämonischen Bauwerk näherte. Stockwerke zählte. Sind das sieben oder acht? Es könnte auch ein anderes Krankenhaus sein, denn ich hatte nur die Straße eingegeben und als Hausnummer die Eins. Auf den Hinweisschildern vor Orts war explizit der Plural, ‚Krankenhäuser‘. Da kam mir die Frau gerade recht, die aus Richtung des vielfenstrigen Bauwerks kam: Ist das das städtische Krankenhaus?, frage ich. Sie korrigiert: Das ehemals städtische. Wir wurden verkauft. Ein Hauch Kapitalismus- und Optimierungssüßgeholze liegt in der Luft, vibriert in ihrer Stimme. Offenbar arbeitet sie in dem Gebäude. Wir wurden verkauft. Das muss man sich ganz langsam zwischen den Hirnwindungen zergehen lassen. Wieviel interpretatorisches Beiwerk schwingt zwischen den Zeilen, zwischen den Worten. Wir leben in einer Welt, in der ganze Schicksalsgemeinschaften verkauft werden – wie Schlachtvieh – Gemeinschaften empfindsamer Wesen mitsamt ihren individuellen Hoffnungen, die man an Haken aufhängt, sie aufschlitzt, Knochen und Eingeweide entnimmt, die Filetstücke säubert und einen ordentlichen Gewinn einfährt. Müde sieht sie aus, die Frau. Blaue Handtasche, zerzaustes Haar. Vielleicht ist sie Krankenpflegerin?
Die Stimme mahnt, ich solle wenn möglich umkehren. Drei vier Kreisverkehre muss ich es schaffen, der Stimme zu widerstehen, dann werde ich für eine Weile Ruhe haben. In diesem labilen Moment fürchte ich, dass die Stimme von jetzt an mein Lebtag auf mich einlarmentieren wird, ich solle umkehren. Wann immer sie eine Möglichkeit sieht, wann immer der ihr zu Grunde liegende Algorithmus eine Chance sieht, mich zurückzulotsen. Im Radio dudelt Lullifullimugge. Seichtes Radiohörvolk-Zeug, das selbst Menschen, die im diabohlenschen Schund der Achtziger Jahre groß wurden mit Abscheu und Ekel überzieht. Money on my Mind, Money on my Mind, kreischt ein Lied. Kaum Hoffnung, dass das Piepsen einer Verkehrsnachricht dem ein Ende bringt. Fast bin ich froh, dass die Stimme, die mich zur Rückkehr bewegen will, den Song überlagert. Perverse Hoffnung auf Meldung eines Geisterfahrers auf der A8. Ich könnte den Ausknopf drücken, aber so läuft das Spiel nunmal nicht.
Journalist F. hat an diesem Montag noch keinen Arzt gesehen. Am Wochenende schon gar nicht. Einzig, als er samstags einmal ein paar Stunden ausgebüchst war in voller Patientenmontur, hatte man ihn gerügt, wo er sich denn herumgetrieben habe. Die heimliche Kontrolle durch die Blutzucker-V-Männer mit den quietschenden China-Schuhchen, vielleicht. Jedenfalls gibt es nicht viele Orte, an denen man sich als Patient verstecken könnte. Die beiden Aufenthaltsräume auf den jeweiligen Stationen, das kleine Bistro im Erdgeschoss und der großzügige, schmutzigste Raucherbereich des Universums, draußen vor der Tür.
Meine zweite Begegnung mit dem Krankenhaus? Letzte oder vorletzte Woche. Als eine Art Dealer muss ich dem Journalisten F. immer wieder Nikotinkaugummis bringen. Der Weg vom achten Stock in den the hell of dirtiest Raucherbereich ever ist lang und beschwerlich. Man überlegt sich gut, ob man eine Zigarette rauchen möchte. Von den drei Aufzügen sind manchmal ein oder zwei kaputt. Der dritte wird dann während der Fahrt in irgendeinem zehntausendsten Stockwerk der Verdammnis gestoppt und all die süchtigen Hansels und Hanselinen, Besucherinnen und Besucher müssen den Platz räumen, weil das Pflegepersonal ein Krankenbett hineinschiebt. Das hat natürlich Vorrang. Deshalb habe ich als gesunder Besucher den langen Weg treppauf auf mich genommen und so einen guten Blick in die Stationen erhalten. Das Ulmer Münster des kleinen Mannes. Jedes Stockwerk ist an den Treppenabsätzen mit einer gut einen Meter hohen sperrhölzernen, in den Stationsfarben bemalten Nummerntafel markiert. Auf dem gegenüberliegenden Treppenabsatz ist ein grafisch verfremdeter Baum aufgemalt. Ziemlich hässlich. Die Nummerntafel des achten Stocks hängt schief. Ich versuchte, sie gerade zu rücken, aber das geht nicht. Sie wurde wohl schief angebracht. Oder aber –hier kommt mein phantastisches Künstlerhirn auf Hochtouren – die Acht ist eigentlich eine Unendlich und sie hat Leben in sich und sie bewegt sich jeden Tag ein bisschen weiter in Schieflage, bis sie irgendwann auf der Seite liegt und dann ihr wahres Gesicht zeigt. Ich beobachte diese Acht seither. Vielleicht nehme ich beim nächsten Mal eine Wasserwaage mit und messe die Schieflage?
Die Klinik könnte gut und gerne auch als Kulisse für Lars von Triers Horror-Dystopie Kingdom (Geister) herhalten, scherze ich mit Journalist F. Das ist meine dritte Begegnung mit dem Krankenhaus. Ich bringe dem Freund das Nikotin und wir trinken einen Kaffee. Der Sturm vom Morgen hatte Unmengen von Blättern, Zigarettenstummeln und Schmutz in den Vorraum geweht, wann immer sich die Schiebetür öffnete und das tut sie oft. In einer zweiten Stufe durch eine zweite Schiebetür des Windfangs gelangten einige Blätter und Kippen sogar ins Foyer und ich stellte mir vor, wie der Sturm vor nichts halt macht und die geheimnisvollen Luftströmungen in dem unheimlichen Gebäude in Eigenregie eine Umverteilung von Schmutz und Leid und Elend und Schmerz vornähmen und über die Aufzüge – so sie denn funktionieren – jegliche vertikale Barriere überwunden wird. Dreck und Chaos dringt tief in die Poren der Klinik. Und im Gegenzug pulsiert auch das Leid der Patienten und verteilt sich in der Stadt.
So vergehen unsere gemeinsamen Momente, die des Journalisten und mir, auf und ab fahrend zwischen Raucherbereich und Bistro und dem achten Stock. Für ein paar Tage hatte man den Journalisten in einem geradezu luxuriösen Zimmer untergebracht. Es gab darin sogar eine Dusche und das Badezimmer ließ sich mit einer echten Tür verschließen. Außerdem wurde dieses Zimmer nur mit höchstens zwei Betten belegt. Ein zwei Nächte hatte er es für sich alleine. Journalist F. war glücklich und berichtete auf Facebook über den Krankenhausaufenthalt. Dass es sich bei ihm möglicherweise um eine Art Wunderheilung handele und dass er womöglich ohne OP davon käme, aber der Herr Professor, der für ein paar Tage Gefallen an seinem wunderheilenden Patienten gefunden hatte und mit einer Schar Weißkittel Führungen zu dessen Krankenbett machte, blieb irgendwann weg. Offenbar genügte es, die Wunderheilungsansätze vorzuweisen … wie auch immer, seit einer Woche herrscht Funkstille und letzten Samstag wurde Journalist F. zurück verlegt in sein altes Dreibettzimmer.
Warum er überhaupt noch hier ist? Die Option OP ist noch nicht vom Tisch. Damoklesk baumelt das Skalpell. Irgendwann steckte ihm aber ein Pfleger, dass man die Antibiotika abgesetzt habe. Man beobachte weiter. Die Kommunikation im Team ist miserabel. Ich versuchte, Journalist F. mit einer alten Geschichte zu beruhigen, dass ich einmal drei Tage nach der Aufnahme in ein Krankenhaus erstmals Arztkontakt hatte, dass man falsch medikamentierte und die linke Hand nicht wusste, was die rechte Hand tat. Genau wie in Deinem Fall. Es ging glimpflich aus. Schwarze Ironie hilft manchmal, die Gemütslage ein bisschen zu erhellen, zumindest Typen wie Journalist F. und mich kann es trösten.
Scherzhaft kursiert folgende Theorie: Journalist F. erwähnte in einem Facebookpost, dass die Symptome seines Mitpatienten auf eine Gallenkolik hinweisen würden. Die Pflegenden und Ärzte hatten gerätselt, was denn dem Mann fehle. Kurz nach der Facebook-Diagnose von F. wurde der Mann auf die Innere Medizin verlegt und wird schon bald an der Galle operiert. Ganz klar, sage ich, jetzt weißt Du, warum Du noch hier bist. Die saugen Dich aus. Die lesen Deine Facebook-Einträge, übernehmen Deine Diagnosen, heilen die Leute. Mach‘ Dir keine Hoffnung. Du kommst hier nie raus. Die brauchen Dich, um den Laden am Laufen zu halten und sie werden Dich bis zum Sankt Nimmerleinstag zu den rätselhaftesten Mitpatienten verlegen und begierig Deine Facebook-Diagnose abwarten. Du bist die Cashcow der modernen Medizin.
Wir lachen. Das war die vielleicht fünfte Begegnung mit dem unheimlichen Krankenhausbau in der unheimlichen, windumzausten Stadt. Jounalist F. könnte wirklich dringend eine eigene – hoffentlich gute – positive Diagnose brauchen. Und täglichen Besuch.
Ich habe den finalen Kreisverkehr vor der Autobahnauffahrt erreicht. Die Stimme säuselt, ich soll die dritte Ausfahrt nehmen, was mich zurückführen würde in die Klinik und sie übertönt den Refrain des Popsongs, der mit einer Stimme à la Prince unaufhörlich jammert ‚Money on my Mind, Money on my mind‘. Bald habe ich es geschafft! Die Stimme wird auf der Autobahn verstummen und mir elf Kilometer Ruhe geben bis zur nächsten Auffahrt.
Die nächste Begegnung mit dem Krankenhaus? Ich werde Nikotinkaugummis kaufen. Und eine Wasserwaage mitnehmen. Und ich will versuchen, dieses Scheiß-Navigationsgerät endlich abzuschalten. Bloß wie?
Dieser Beitrag wurde für Dich finanziert von Irgendlink-Shop – Jeden Tag ein Kunstwerk
»Kapitalismus- und Optimierungssüßgeholze«
Begriffe, auf die die Welt gewartet hat.
darf ich dem patienten auch folgen bei fb – darfst du mir seinen namen verraten?
du erlebst romane, mitunter ganz ohne faschingssitzungsklima, ojeee
gruß von sonja