Kleiner grüner Traktor

Die gefährlichste Kreuzung der Stadt liegt in einer Haarnadelkurve, unübersichtlich, steil, mit allerlei Ablenkung garniert, so dass man als Autofahrer mit einem Unaufmerksamkeitsmalus in den stets fließenden Verkehr einfädelt. Es ist nicht immer einfach. Eine befreundete Autofahrerin hatte vor einigen Jahren an der Kreuzung einen Blechschaden und auch ich musste kürzlich hart bremsen, weil mir jemand aus der Seitenstraße die Vorfahrt nahm. Ich schimpfte nicht, sondern lächelte dem schuldbewussten Jungen, der am Steuer eines schwarzen Transporters saß milde zu.

Dieses Glück hatte meine Freundin nicht. Sie hatte in den Wirren der Kreuzung einen sturen, rechthaberischen Kerl übersehen, der kaum Anstalten machte, zu bremsen oder auszuweichen und sie, so vermutet meine Freundin, eigentlich absichtlich gerammt hatte. Das Gezeter war groß, die Polizei nahm den Schaden auf, meine Freundin erhielt die volle Schuld, da dem Unfallpartner keine Absicht nachzuweisen war.

Ich denke, auch mir wäre keine Absicht nachzuweisen gewesen. Wenn mein testosteronschwangeres Jungdeutschemannautofahrerego richtig funktioniert hätte, hätte ich dem Schwein im schwarzen Van, das mir die Vorfahrt genommen hat, voll in die Seite fahren können. Vielleicht hätte ich ihn sogar schwer verletzt, ein Totalschaden und eine massive Gehirnerschütterung wären ihm jedenfalls sicher gewesen.

Stattdessen bremste ich bis zum Stillstand und lächelte meinem potentiellen Unfallgegner auch noch zu, was er mit einem entschuldigenden Lächeln quittierte und wir fuhren beide in unsere Richtungen weiter.

Warum hatte überhaupt ich Vorfahrt und nicht er? Warum war es nicht umgekehrt? Warum steht an seinem Teil der Kreuzung ein Vorfahrtbeachtenschild und an meinem eines für Vorfahrtsstraße? Was wäre, wenn keine Schilder da stehen würden? Dann gälte rechts vor links. Dann hätte er Vorfahrt gehabt und nicht ich.

Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber in England gibt es noch nicht einmal rechts vor links. Ich hatte mich 2012, als ich auf der North Sea Cycle Route das Land durchquerte hunderte Meilen weit gefragt, wie die Engländer das denn handhaben mit rechts vor links, wenn sie doch auf der falschen Straßenseite fahren. Müsste es dann nicht links vor rechts heißen? Ich fuhr vorsichtig und wartete im Zweifelsfall immer ab, bzw. verständigte mich durch Blickkontakt und Zunicken mit vielen hundert potentiellen englischen Unfallgegnern. Nichts passierte und eines Tages konnte ich einen Freund fragen, der schon lange in dem merkwürdigen Land lebt und der mir erzählte, dass es tatsächlich kein generelles rechts vor links oder links vor rechts gibt. Ich erlebte die englischen Autofahrerinnen und Autofahrer als äußerst rücksichtsvoll, zurückhaltend zuvorkommend, eben genauso wie man sich den typischen englischen Gentleman oder die typische englische Lady vorstellt. Verschroben, das auch.

Dieser Tage hatte ich den kleinen grünen Hoftraktor gestartet, um meiner Tante ein bisschen bei Holztransportarbeiten unten in der Stadt zu helfen. Der kleine grüne Traktor hat vier Gänge und schafft es im größten auf gerade Mal 25 Kilometer pro Stunde. Mit dem Fahrrad könnte ich ihn auf ebener Strecke ohne aus der Puste zu kommen überholen. Eigentlich ist der uralte, kleine grüne Traktor ein fahrbares Verkehrshindernis, weshalb ich stets ganz rechts am Straßenrand fahre, damit allfällige Überholwillige es leichter haben, an unübersichtlichen Stellen vorbeizuhuschen.

Die Landtsraße in die Stadt ist aber nicht unübersichtlich. Sie ist zudem dreispurig ausgebaut, wobei die beiden Spuren aufwärts von der Abwärtsspur mit einem durchgezogenen weißen Streifen abgetrennt sind. Zudem stehen an einem gut einen halben Kilometer langen, schnurgeraden, übersichtlichen Stück warnende Überholverbotsschilder. Das heißt, wer auf der Strecke hinter einem kleinen grünen Traktor mit 25 Kilometer pro Stunde her fährt, kommt auf legale Weise nicht daran vorbei. Die Regel ist, wenn ich mich nicht irre, so drakonisch, dass einem sogar Punkte drohen und eine hohe Geldbuße, wenn man die Linie überfährt.

Schnell hatte sich ein Rattenschwanz an Autos, LKWs und Bussen hinter mir gebildet, von denen der ein oder andere aus der Schlange ausscherte und gegen die Regel, aber für sein eigenes Verständins wohl legitim, einfach überholte.

Immer wieder schaute ich in den Rückspiegel und es brach mir fast das Herz für all die armen Teufel, die nun ausgebremst, vom Verkehrsleben verachtet ein Jammerdasein in einer zu recht aufstauenden Verkehrsschlange fristeten. Ein Mülllasterfahrer auf Position fünf oder sechs hielt es irgendwann nicht mehr aus und zog rüber auf die mittlere Spur, ebenso ein Linienbus und von ganz hinten schoss mit über hundert Sachen noch ein Späteinsteiger vorbei. Im Prinzip, wenn die Regeln nicht wären, lagen die Überholmanöver an der Stelle alle im sicheren Bereich. Auch ich habe an der Stelle schon überholt, weil meilenweit freie Fahrt war und sich niemand um Recht oder Unrecht scherte.

Die Fahrt mit dem kleinen grünen Traktor geriet zu einer Art Lehrstück über Gesetze und Regeln, die mich in einem indifferenten, ratlosen Zustand hinterließ. Was müssen das für arme Teufel sein, zwanzig dreißig Autos immerhin in der Schlange, die sich gegen das Sicherheitsempfinden an die Regeln halten. Dass es schwerer wird, je weiter hinten man in der Schlange steht, wurde mir bewusst, erinnerte ich mich aus eigener Erfahrung. Wenn du der Erste bist hinter dem Hindernis, fährst du viel leichter daran vorbei, als wenn sich vor dir schon ein braver, gesetzestreuer Mensch an die Regeln hält. Ist es nicht so, als würdest du dem dann eine schallende Ohrfeige verpassen, wenn du dich einfach darüber hinwegsetzt, was er als Recht akzeptiert?

Die Straße wurde unübersichtlich. Niemand überholte mehr. Kurz vor der Stadtgrenze hatte ich mich gedanklich in ein eigenartiges Vakuum begeben, in dem ich fabulierte, dass in vollkommener Anarchie allein auf Grund der einfachen ungeschriebenen Regeln gegenseitiger Rücksichtsnahme und Respekts, überhaupt keine Gesetze nötig wären. So eine kindlich naive Basis, die da lautet, was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu. Nur viel rationaler, ehrlicher, solider und profunder, so wie es erwachsenen Menschen im Umgang miteinander gut anstehen würde.

Meine Freundin fiel mir ein, der man absichtlich und einzig fußend auf von Menschen für Menschen gemachten Regeln einen schlimmen Schaden verursachte, dieses elende Gewichse, dem sich der ein oder andere ordnungshörige Kleingeist hingibt, und ich hatte ein mulmiges Gefühl, was erst passieren würde, wenn man solchen Kleingeistern in meiner soeben erdachten, selbstgebastelten, perfekten Anarchie begegnen würde. Diese Unreife, das bigott herzlose Gebaren … so fabulierend erreichte ich den ersten Kreisverkehr der Stadt, wo sich die ellenlange Schlange hinter meinem kleinen grünen Traktor in die vier Winde zerstreute.

 

12 Antworten auf „Kleiner grüner Traktor“

  1. Ein Lehrstück für die heilsame Langsamkeit, denn bei weniger Schnell-Schnell und Ich-bin-wichtiger (im Kopf und erzwungen von „äußeren Umständen“) wäre das Einhalten der Regel Nº. 1 im Straßenverkehr in den allermeisten Fällen völlig ausreichend.

  2. Ein sehr wahrer, weiser Artikel!
    Ich lasse jetzt mal die Frage da, was wohl aus uns Menschen geworden wäre, wenn uns all die vielen Regeln nicht mehr und mehr vom Selbstdenken und Selbstverantwortungtragen weggebracht hätten (das frage ich mich übrigens auch oft im Kontext von Altersvorsorge und Rechtsstaat). Haben uns die vielen Regeln womöglich natürliches Solidaritätsverhalten eher abgewöhnt, statt uns korrektes Verhalten anzutrainieren? Das gilt für fast alle Bereiche/Belange des menschlichen Zusammenlebens. Im Straßenverkehr wird es uns am unmittelbarsten vor Augen geführt.
    Danke für das Denk- und Herzfutter!

  3. Hallo Jürgen,
    was mich hier in Amerika im Straßenverker immer wieder fasziniert, sind die 4-Way Stops. Da hat an einer Kreuzung jeder ein Stoppschild, man hält, und dann geht es genau in der Reihenfolge, in der man angekommen ist, weiter. Das ganze klappt ohne jede Probleme. Ich denke immer, das wäre in Deutschland unmöglich und stelle mir das Gehupe und Geschimpfe vor.
    Übrigens: die Tatsache, dass es hier kein rechts vor links gibt, sondern alles mit Schildern geregelt ist, dabei die Straße, die Vorfahrt hat, aber nicht extra gekennzeichnet ist, macht mir auch heute noch, nach all den Jahren, in denen ich mich eigentlich an das Fahren hierzulande gewöhnt haben sollte, Probleme. Ich halte immer noch an bzw. bremse stark ab, wenn von rechts eine Straße einmündet und ich für mich kein Schild sehe, das mir Vorfahrt gibt. Trägt mir dann immer mahnende Worte von Mary ein, die Angst hat, es könne jemand von hinten auffahren.
    Insgesamt finde ich, ist der Verkehr hierzulande vielerorts [das gilt nicht für die großen Städte] viel gelassener als bei uns. Ach ja, die Lichthupe ist hierzulande so gut wie unbekannt!
    Fazit: ich fahre lieber hier als in Deutschland.
    Hab’s fein, und liebe Grüße aus einem heute recht kalten [jetzt, um 10:44, -10 Grad C.] Fredericksburg,
    Pit

  4. „Der Mensch ist gut, die Leute sind schlecht“. Dieser Satz von Karl Valentin fällt mir da ein. Und nein, ich glaube nicht, dass die Regeln dem Menschen die Selbstverantwortung und das Selbstdenken ausgetrieben haben. Ich gehe vielmehr davon aus, dass wir uns morgens erst mal auf der Straße „Guten Tag“ sagen, damit wir uns nicht gegenseitig in Stücke reißen. Die Anfangssequenz aus „2001 Odysee im Weltraum“ hilft da durchaus weiter, für die, die es literarischer mögen „Herr der Fliegen“ von William Golding. Mit Anarchie hab ich auch mal geliebäugelt, lange lange her, aber wenn ich mir so die allernächsten Nachbarn angucke: lieber nicht. Der Straßenverkehr ist ein prima Spiegel der Gesellschaft und ich staune immer und bin erschüttert über Äußerungen auch aus dem engeren Freundeskreis. Gab es da nicht mal so eine Stadt in Norddeutschland, wo man mal in einer Wohngegend alle Verkehrsschilder entfernt hat, und es hat tatsächlich geklappt?? Ich meine mich zu erinnern. Vielleicht sollte man noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Und sowieso nicht mit einem Auto.

    1. Stimmt, ein prima Spiegel der Gesellschaft. Der Ort in – ich glaube – Nordrheinwestfalen kam mir auch in den Sinn. Ist ein paar Jahre her. Ein niederländischer Verkehrsplaner hatte angeregt, auf jegliche Regelung zu verzichten. Und es funktionierte prima. Es war glaube ich der gesamte Ort, durch den eine stark genutzte Bundesstraße führte und in dem es immer zu Staus kam, die nun nicht mehr so schlimm sind.

        1. Dankesehr, Vera. Genau das Projekt haben Klaus und ich gemeint. Der Zeit sei dank hier also die Basics: Shared Space heißt es und es handelt sich um 450 Meter Straße in der Gemeinde Bohmte, auf der es keine Schilder und auch keine ausgewiesenen Fahrbahnen oder Gehwege gibt. Ein Testprojekt.

    1. Hallo Jürgen,
      -10 Grad Celsius sind hier nicht unbedingt ungewöhnlich, aber doch auch wieder nicht sehr häufig. Vor Allem nicht so früh. Solche Temperaturen haben wir normalerweise eher Ende Januar und im Februar. Und – wie auch dieses Mal – selten für länger. Nur die nächste Nacht soll noch gut kalt werden, ehe es dann wieder aufwärts geht mit den Temperaturen. (Leichte) Nachtfröste können hier noch bis in den April hinein vorkommen.
      Hier bei uns in Fredericksburg ist das Klima, so glaube ich jedenfalls, (noch) kein kontinentales. Dafür sind wir m.E. mit etwas über 200 Meilen noch zu nah an der Golfküste. So hatten wir denn auch gestern, bevor die Kaltfront kam, noch über 25 Grad und relativ hohe Luftfeuchtigkeit, beides im Gefolge eines kräftigen Südwinds.
      Was aber hier ganz anders als in Deutschland ist: auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es keine „quer“liegenden Gebirgszüge [alle wesentlichen Gebirgszüge verlaufen hier ja in Nord-Südrichtung], die den „Durchmarsch“ arktischer/polarer Luftmassen aus dem hohen Norden von Kanada in irgendeiner Weise stoppen oder auch nur verlangsamen könnten. Wenn dann also einmal so eine Luftmasse [wir reden hier von -40 bis -50 Grad Celsius am Ursprungsort] kommt, dann schwappt sie normalerweise auch bis ganz tief in den Süden durch.
      Und da sind wir froh, dass wir mittlerweise Warmluftzentralheizung haben, im Gegensatz zu unserem früheren Haus in Karnes City, wo wir auf ein paar elektrische Öfchen und den offenen Kamin angewiesen waren, und das bei einem Haus, in dem es an allen Ecken und Enden zog, und das keine Spur von Isolierung aufwies.
      Hab’s fein, und eine schöne Vorweihnachtswoche,
      Pit

  5. Das Bild habe ich vor mir: der kleine grüne Traktor und die Ungeduldsautoschlange hinter dir, deine Gedanken dabei rauchen ein paar Selbstgedrehte kreisförmig cool in die Lüfte…
    Gute Zeiten dir und herrliche neue Projekte samt freundlichen Irgendlinknestern für die Winterruhe…
    Sonja

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