Drei Wochen Rheinwandern und ein bisschen reisemüde – oder auch nicht | #flussnoten #ibcoco

Daheim. Endlich wieder daheim in der Schweiz. Der Rucksack ist voller schmutziger Wäsche und leer von Lebensmitteln. Das letzte Wasser nur einen halben Kilometer vor Frau SoSos Wohnung, ein Genuss, wie die Plastikflasche leerläuft, Schluck um Schluck, wohl wissend um den Dorfbrunnen direkt vorm Haus, die Wasserhähne in der Wohnung, das Badezimmer, die Badewanne, wo alles fließt, wenn man es will. Von einer ressourcenbeschränkten Welt des Unterwegsseins trennt uns nur noch die Haustür. Aufschließen. Rein. Fallenlassen. Nicht so wie man es in den letzten Tagen gewohnt war, sich unter eine Brücke zu retten vor Sonne oder vor Regen, sondern auf ein echtes, weiches, sauberes Sofa fallen, alle Viere von sich strecken, die Decke anstarren und sogleich den Wunsch zu verspüren, die Decke wäre Sternenhimmel, Naturgewalt, Wolken, die sekündlich ihr Aussehen ändern und der Phantasie einen Spielplatz bieten. Oder wenigstens der graue Beton einer jener vielen Rheinbrücken, wie sie ab etwa Liechtenstein im Abstand weniger Kilometer den breit gewordenen, kanalisierten Fluss überspannen.

Die dritte Reisewoche führte uns durch ein von Menschen kultiviertes Land mit zunehmender Bebauung, Straßen, Bahnlinien, Autobahnen, Grenzübergängen. Wir denaturieren wieder, sagte Frau SoSo.

Etwa 160 bis 200 Kilometer sind wir in den 21 Tagen über Stock und Stein gewandert.

Nachdem wir wild in den Hochalpen die Wanderung begonnen haben und den Planeten ein bisschen so erlebten, wie er aussehen würde ohne uns Menschen, wie er sich anfühlen, anriechen, anhören und anschmecken würde, wenn wir Menschen nicht wären, dreht die Uhr der Reise alles wieder auf Anfang. So wie wir das Land verlassen haben, finden wir es auch wieder vor.

In der Zwischenzeit, so konnten wir in den Sozialen Medien, meist auf Twitter, mitlesen, ereignete sich Weltbewegendes. Vom Massaker in Nizza über den Putschversuch in der Türkei, die US-Wahl-Schmutzschlacht und die Amokläufe in Bayern waren wir stets dabei. Einer der ungeschrieben Blogeinträge des Flussnotenblogs trägt den Titel „Putschversuch am Gebirgsbach“. Er handelt von unserer alltäglichen Welt als Menschenvolk und wie wir virtuell und per Kurznachrichten über fast alles und überall auf dem Planeten informiert werden. Polarisiert, manipuliert, dahingeworfen in einem wilden Meinungsmeer.

Was geht es uns an? Uns persönlich, die wir hier draußen wandern? Die Antwort, die ich mir selbst gebe, wenn ich mitkriege, dass da einer mit Machete eine Ubahn aufmischt, dort ein Spinner mit dem LKW durch eine Strandpromenade rast und fast hundert unschuldige Menschen tötet, am Bosporus ein paartausend Andersmeinende versuchen, das unbequeme Staatssystem mit Gewalt zu ändern, die Antwort rangiert zwischen den beiden Extremen Nichts und Alles.

Du kannst dich in dieser Welt nicht entziehen. Du gehörst als Mensch unweigerlich und immer dazu, wenn du unter Menschen lebst. Alles gehört dazu. Alles gehört zusammen. Die armen Schweine, die hie und da in einem Stall am Alpenrhein gemästet werden, damit wir etwas zu fressen haben, gehören genauso zum System Menschengesellschaft, wie der Enzian, der einsam auf über zweitausend Metern am Pazzolastock wächst und per Gesetz unter Naturschutz gestellt wurde.

Wenn mir auf dieser Reise eines live vor Augen geführt wurde, was ich über die Menschen, über uns Menschen wissen muss, dann, dass wir alles bis ins Letzte vereinnahmen, es uns zu eigen machen, es mit Regeln schützen oder zerstören, sei es nur, dass man weit unten am Rhein, dort wo das Land lebbar und nutzbar geworden ist, ein Gewerbegebiet in die Kiesbänke baut und als Entschuldigung an die Natur andernorts ein Biotop für die enteigneten Frösche gräbt. Wie ein Indianerreservat. Das schlechte Gewissen, das wir, wenn wir unsere Eingriffe in die Natur anschauen hin und wieder entwickeln, bringt auch ein bisschen den Willen zur Sühne mit. Vielleicht ist es aber auch nur ein Funke Erkenntnis, dass es uns selbst an den Kragen geht, wenn wir so weiter machen.

Der Rhein war mal eine richtige Kloake. Ein ungenießbares, dreckiges Stück Gülle, das dem Meer entgegen trieb und das kaum noch Leben zuließ. Die Erkenntnis, dass wir auf das Wasser in Form von Uferfiltrat angewiesen sind, führte in den 1980er Jahren zu gemeinsamen Anstrengungen der acht Rheinanrainerstaaten, die Wasserqualität per Gesetz zu verbessern. Kläranlagen, Fischtreppen, Grenzwerte. Ein Minister, der im Tauchanzug den Fluss bei Mainz durchschwamm. Gutso.

Wir sind da, sagte Frau SoSo vorgestern und wies mit dem Kinn den Damm hinauf, weg von dem breiten Kiesweg, dem wir in glühender Hitze gefolgt waren zwei drei vier fünf Kilometer weit. Da hinter dem Damm ist der Bodensee, sagte sie mit Blick auf das GPS im Smartphone. So ächzten wir den vielleicht fünf Meter hohen Damm hinauf, kindlich naiv darauf bedacht, die Flora in dem befestigten Menschenwerk nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Bunte Blumen, Gräser, die voller Samen und halb vertrocknet ihre Ähren neigten, bloß keine Schnecke  zertreten, bloß keine Ameisenstraße zerwühlen. In gewisser Weise sind wir achtsam, wohl wissend, das jeder unserer Schritte, von uns nicht wahrgenommene Kollateralschäden in der Natur hinterlässt. Fast wie der Buddhist, von dem man sich erzählt, er bete jeden Abend für alles, was er in der Natur zerstört hat, jeden Käfer, jede Schnecke, jeden Grashalm, den er durch pure Existenz und des eigenen Vorankommens willen versehenlich aus dem Leben reißt.

Wir sind da. Der Rhein mündet in einem drei vier Kilometer langen, künstlichen Bett, das von Dämmen umgeben ist bei Fußach in den Bodensee. Sein eiskaltes Wasser taucht sofort ab, strömt unterseeisch weiter nach Norden, mischt sich auf vielleicht achtzig Kilometern mit dem warmen Seewasser, bis er als Seerhein in Konstanz weiterfließt.

Wir lassen uns unter einer Weide fallen, neben uns zwei Angler, mit denen wir uns anfreunden. Sie fangen einen winzigen Barsch, schuppen ihn, nehmen ihn aus. Das Fischlein zuckt auch noch im geschuppten und ausgenommenen Zustand. Barsche darf man bei jeder Größe aus dem See angeln, sagen sie. Es gibt genug davon. Zu viele. Der Barsch gehört eigentlich gar nicht hierher, so will es die Natur. Wir Menschen haben den Zierfisch einst hier ausgesetzt. Nun plagt er.

Die Weiden regnen. Die Welt schwitzt. Libellen fliegen und Zeppeline und auf dem See liegen hunderte Motorboote vor Anker. Menschen baden, kühlen sich. Sie haben sich selbst hier ausgesetzt und nun sind sie eine Plage.

Wir wissen es nur nicht.

 

12 Antworten auf „Drei Wochen Rheinwandern und ein bisschen reisemüde – oder auch nicht | #flussnoten #ibcoco“

  1. Boah, das ist mal wieder ein Erste-Sahne-Text! Ich werde ihn meinem Freund, dem Limnologen schicken. Er gibt einen Wasserrundbrief im NABU raus, vielleicht darf der Text da rein!?
    Wie wäre die Welt ohne uns?
    Dieser einsame Hirsch, der den Gang des fast zugewachsenen Parkhauses hoch schreitet…

    1. Danke liebe Sonja. Gerne darf der Freund Limnologe den Text im Wasserrundbrief nutzen (oder kürzen oder zitieren).
      Es sieht übrigens gut aus, dass ich es radelnd bis nach Rheinhessen schaffe noch in den nächsten zehn Tagen. Ich will einem Freund bei seiner Homepage assistieren.
      Seid Ihr im Lande?

    1. Ja- Ich bin besserer Dinge nun wegen des Weiterfahrens. Aber es ist eine teils taktische Entscheidung: denn das Radel steht schon bereit in der Schweiz und wenn ich erst später weitermachen würde, müsste ich es lästig zurückbringen und wieder hierher. Außerdem legen sich zu Hause sehr schnell Alltagsdinge über das Reiseleben. Morgen ist ein guter Tag zum Tourstarten für Dich, wie auch für mich, spüre ich.

  2. Gute Weiterreise-
    ich habe diesen, wie alle anderen Texte von dir sehr gerne gelesen. Ich mag deine Distanz aus der du herausschreibst und damit so vieles lebendig werden lässt, ganz zu schweigen von deinem philosophischem Blick auf Frösche und Wasser und Menschen! Danke dafür und weiterhin gute Wege, gute Tage
    herzlichst
    Ulli

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