Innenansichten eines Europenner-Zeltlagers #AnsKap

Isomatte auf nacktem Bein. Kälte kriecht durch den halb offenen Reißverschluss des Zelts. Eben noch war die Sonne da und verwandelte die Szenerie um den Landsjön in ein antikes Gemälde. Wie hieß noch mal der Maler mit den bombastischen Wolkenlandschaften? Er muss ein Radreisender gewesen sein, der morgens nach dem Aufstehen Pinsel, Öl und Leinwand zur Hand nahm und die Szenerie malte.Unsere Zelte stehen auf einer Art Kanzel, eine etwa dreißig Meter durchmessende gemähte Wiese oberhalb eines Hofes. Windgeschützt. Sichtgeschützt. Eigentlich mitten in einem weitläufigen Wohngebiet unweit von Huskvarna.

Nachts konnte man die E4 rauschen hören, die vierspurig am Vätterensee entlangbrettert. Mahlstrom des Tourismus und des Güterverkehrs.

Das Zelt ist Schlafplatz, Schutzhütte, Küche und Büro in einem. Zwei Packtaschen vom Frontgepäckträger liegen zusammen mit den entpackten Lebensmitteln neben der Isomatte auf einem dreißig Zentimeter breiten Streifen bis zur Zeltwand. An der Leine im Dach baumeln Socken und Küchenhandtuch,durch das Mieswetter der letzten Tage zu ewiger Nässe verdammt.

Der Schlagsack schlafwarm klamm. Auf dem anderen dreißig Zentimeter breiten Streifen neben der Isomatte liegen Kleider und die Techniktasche. Pufferakkus fürs Smartphone, Kabel, das Notizbuch, in dem ich mein iDogma Postkartenprojektorganisiere.

Um nicht den Überblick zu verlieren, brauche ich die Namen aller Empfänger übersichtlich auf Papier. Das Projekt muss dokumentiert werden. Wer hat wann welche Postkarte erhalten. Bloß niemanden vergessen.

Unter unserer Kanzel summt eine Maschine hundert Meter weit weg. Wind starkt auf und rauscht in den Birken. Das übertüncht die E4.

Eben schien kurz die Sonne. Wie gut das tat nach dem gestrigen Tag in tiefhängenden ständig nieselnden Wolken. Die Solarzelle hängt am Radel und füllt einen der beiden Pufferakkus. Am anderen Ende der Kanzel steht Rays Zeltlager. Seit er seinen Fahrradständer eingebüßt hat ist er auf Zeltplätze neben Bäumen zum Rad dranlehnen angewiesen.

Das Heu verfault. Schnecken kriechen aus dem Boden an den Zeltwänden hoch. Zehn Zentimeter lange, nackte, ekelerregende Viecher.

Meine Stimmung?

Sie ist zwar nicht schwermütig oder depressiv, alles andere als schlecht. Ich frage mich aber, wieviele Tage man ohne Sonne bei Wind und Regen wohl durchstehen kann. Es sieht nicht nach Wetterbesserung aus. Je weiter nördlich wir kommen, desto kälter wird es.

Wie wird das erst in Lappland, wenn die schützenden Bäume weg sind?

Bloß nicht an die Zukunft denken. Bloß nicht dem Ungewissen ein womöglich falsches Gesicht geben.

Ich könnte jetzt meinen warmen Pullover brauchen. Aber den habe ich Ray geliehen, der nur für eitel Schweden Sonnenschein gerüstet ist.

Wir müssen einen Winterkleiderladen finden. Im Juli. Tse. 

     

12 Antworten auf „Innenansichten eines Europenner-Zeltlagers #AnsKap“

  1. Ich bewundere euch zwei dafür, daß ihr euch durchkämpft. Meinereiner würde die Flinte wohl ins Korn werfen – ich brauch Unterwegswohlfühlgefühl. (Und meist ein echtes Klo, daß leicht erreichbar ist.)

    Besseres Wetter wünsche ich euch allen aus einem lauschigen ICE.

  2. ich habe eine *strahl**froi**doppelfroi* KARTE!!!! :D
    eine meine karte ist gelandet! wie geil ist das denn? die freude ist auf jedenfall groß. <3
    und als kleinen trost zu eurem wetter kann ich dir sagen, dass mein auto heute morgen wahnwitzige 8 grad außentemperatur anzeigte! und im radio vermeldete die stimme 'bodenfrost im erzgebirge'! wie bitte?! -2 grad?! da stimmt ja wohl was nicht.

    ich wünsche euch frostfreie straßen! und nach wie vor hast du meine bewunderung!
    herzlichst kerstin

    1. Hach freut mich das auch. Bei demn seltenen Waschungen denke ich auch immer an Dich. Die Erdbeer Rhabarber ist alle und die Pflaume nun dran. Mjam mjam

  3. Beim Lesen wird mir ganz blümerant, ich Luxusweibchen, ich …
    Und ja, fast habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mir meine Kunst so leicht mache. Du lehrst mich gerade, nicht beim kleinsten Widerstand ein Projekt in die Ecke zu kippen. Danke.
    Ihr seid meine Helden dieser Tage, ihr beiden.

    Liebgruß, auch an Ray
    Ele

    PS: Die Karte ist heute angekommen, schreibt mir R. gerade. Ist das nicht klasse? Dies nur für meine Freude und deine Statistik. Und R, die freut sich auch riesenmäßig.

    Ob Freude wärmt?

    1. Super. Sie hat ja heute, also jetzt, gell. Mussi gleich auf Twitter. Liebgrüß aus einem luxuriösen Café. Drohenden Regen von innen belauernd.

  4. Hallo Jürgen,
    irgendwie erinnert mich das an einen Segeltörn vor vielen Jahren [Überführungstörn von Gran Canaria nach Mallorca]. Da hatten wir zwar keinen Regen, mussten aber tagelang bei ziemlichem Wind „gegenan bolzen“, und Alles – auch unter Deck – wurde zumindest klamm und feucht. Ich habe damals mein letztes Paar trockene Unterwäsche tagelang im Plastikbeutel trocken gehalten und nicht angezogen,, weil es sonst eh nach 5 Minuten nass gewesen wäre. Und unter Ölzeug und in den Stiefeln hat sich da ein echt „duftiges“ Kleinklima entwickelt. Ich habe es nachher einmal so beschrieben, „Wenn ich die Stiefel ausgezogen habe, hat der Fußpilz an der frischen Luft gequält aufgeschrieen.“ ;) Und trotzdem: es hat auch Spaß gemacht.
    In diesem Sinne wünsche ich Dir trotz Allem viel Spaß auf Deiner Strampeltour, aber hoffentlich besseres (Radel)wetter,
    Pit
    P.S.: Ich bedaure auch heute noch die Leute, die auf dem Rückflug neben mir gesessen haben. Weil wir so extrem knapp in der Zeit waren zwischen Ankunft im Hafen und Rückflug und ich als Skipper so viel zu erledigen hatte, konnte nur meine Mitsegler noch duschen, ich aber nicht.

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