Diesseits und jenseits der digitalen Revolution

Künstler gib mal Mucks. Stille, arbeitssame Tage sind das. Ich treibe die Jahresplanung voran. Lege eine Kategorie an für den „Kapschnitt 2.0“.  Aus den drei geliebäugelten Projekten habe ich dasjenige ausgesucht, das mir am leichtesten verwirklichbar scheint und mir am meisten Freude bereiten würde.

Schutz suchen in einer Scheune Kapschnitt 1995
Schutz suchen in einer Scheune – Gewitter im schwedischen Hochsommer – Kapschnitt 1995

Der 27. Juli 1995 war der Starttag zur Radtour zum Nordkap, die Freund QQlka und mich sechs Wochen lang Richtung Norden führte. Während der Reise haben wir erstmals das Kunstkonzept „Kunststraße“ durchgeführt. Alle zehn Kilometer stoppten wir und schossen ein Foto Richtung Reiseziel. Als die Streetview laufen lernte. Eine Serie von 360 Schwarz-Weiß-Bildern ist daraus entstanden, die im Dezember 1995 in Mainz ausgestellt wurde.

Meine Mission für den Kapschnitt 2.0 lautet: finde die alten Bildstandorte. Am 15. Juni (2015) will ich losradeln von Zweibrücken über Mainz, Erfurt, Bad Doberan und Warnemünde nach Trelleborg (Schweden).

In einer zerfledderten Kladde hatte ich mir zu jedem Bild Notizen gemacht. QQlka hatte unsere Reiseroute und die Übernachtungsplätze in einer Straßenkarte eingezeichnet. Es gab ja noch kein GPS. Handys waren riesige Knochen. Windows 95 kam – glaube ich – in bester Windows-Manier ein Jahr zu spät auf den Markt. Die Computer hatten Rechenkapazitäten, die man heutzutage Defizite nennen müsste. Kein Euro (okay, in Schweden gibts den heute noch nicht, aber die Finnen haben ihn). Grenzen soweit das Auge reicht. Radwegenetz Fehlanzeige, keine LED-Taschenlampen, Funktionskleidung à la GoreTex war elend teuer. Die Räder hatten nur 18 Gänge. Es gab keine Scheibenbremsen … die Liste könnte noch ewig verlängert werden und sie wird es vielleicht auch, denn ich habe erkannt, dass dieses nächste Kunststraßenprojekt eine Reise nicht nur durch die eigene Vergangenheit wird, sondern auch durch die Ära der digitalen Frühgeschichte.

Vieles was wir heute selbstverständlich haben, gab es vor zwanzig Jahren nicht. Und mindestens eines, was es vor zwanzig Jahren gab, wird es heute nicht mehr geben: Eine Ausstellung wie 1995, zu sehen im untigen Bild, werde ich nicht mehr machen. Stattdessen findet die Reise live in Blogform, auf Twitter und Facebook statt und jeder darf virtuell mitkommen. Täglich frisch.

Kapschnitt Fotoinstallation 1995, Galerie Walpodenstraße, Mainz
Kapschnitt Fotoinstallation 1995, Galerie Walpodenstraße, Mainz. 360 Straßenfotos von Mainz Richtung Nordkap wurden auf einem Bildträger arrangiert, an dem die Besucherinnen und Besucher entlang flanierten wie an einer Straße. Die Tafel an der Wand zeigt den Grundriss der Ausstellung wie ein Straßenbauplan bzw. wie eine Landkarte.

Neben der rein physischen Reise durch Deutschland und Skandinavien tritt der Künstler auch eine Reise durch die jüngste Geschichte an, politisch, geografisch und technisch sind wohl nie so viele bahnbrechende Ereignisse auf engstem Raum eingetreten wie in diesem Jahrzwanzigt. Von „Windows 95“ bis Ubuntu „Snappy“, von papierenen Landkarten bis zum GPS, von Null bis Facebook, Twitter und noch ein Stückchen weiter hinein in die Cloud. Die Reise führt vom Europa der Grenzen und vielen Währungen in ein vereinigtes Etwas von 27 Staaten, das sich womöglich vor einer Zerreißprobe befindet. Viele Themen gibt es und täglich frisch bloggt der Reisekünstler über seine Erlebnisse. Vor der malerischen Kulisse einer Künstlervergangenheit spielt ein live erlebter Roadmovie und jeder, der sich in dieses Blog vertiefen mag, ist mit dabei.

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