Dann doch wegfahren. Obwohl kaum Geld auf dem Konto. Ein Angebot auf Francevoyage.com lockte mit einem Appartement für 170 € die Woche. Ganz unten in den Pyrenäen. Nur fünfzig Kilometer vom Meer. Nix wie gebucht. Die anfallenden Fahrtkosten und Autobahngebühren liegen zum Glück noch im Blinden Fleck.
Dienstags abends die 300 km Fahrt zur SoSo in die Schweiz sind schon speziell. Vorbei an den Vogesen, dunkle Silhouette vor Sonnenuntergang, aggreable Fahrt, wenig Verkehr. Müde und angeschlagen bin ich – morgens gab es noch eine Hörsturzdiagnose inklusive hochdosierter Kortisoninfusion – was eine Art Trotzreaktion auslöste, jetzt erst Recht. Raus aus dem alljährlichen Weihnachtstrubel. Wie auch immer hat uns am acht Uhr frühen Heiligen Abend 2014 die Straße wieder. SoSo kutschiert uns durch die morgenfrostige Schweiz vorbei an der Aargauer Industrie, Gewerbeparks, Glasfassaden, dampfende Schornsteine vor Jurafels. Hinüber ins Seeland, Solothurn und Biel-Bienne zur Rechten, Bern zur Linken. Lange Schatten von einzelstehenden Bäumen auf grün-raureifiger Wiese, garniert mit zwei Reitern. Hundegassigänger. Vom Beifahrersitz versuche ich die Szenen fotografisch einzufangen. Vergeblich. Die Leitplanke stört. Andere Autos und LKWs, die wir oder die uns überholen stören. Immer schiebt sich ein Hauch Geschwindigkeit ins ansich ruhige Bild. Man müsste anhalten können. Autofahren, selbst nur als Beifahrer, und Fotografieren geht nicht. Schon lange denke ich darüber nach, welche Kunstform mit welcher Art, sich fortzubewegen gut harmoniert. Fotografieren und Radfahren oder Wandern hat sich bewährt. Überhaupt könnte der Grundsatz gelten, je langsamer, desto Kunst. Dass es auch etwas gibt, was mit dem Autofahren harmoniert, sollte ich am gestrigen Heiligen Abend erkennen. Längst sind wir in Frankreich. Rauschen auf Grenoble zu. An LED Infotafeln über der Fahrbahn blendet die Mautgesellschaft Vinci immer wieder Botschaften ein. Fröhliche Weihnachten. Achtung Baustelle.
Straße, je t’aime, denke ich plötzlich. Ich liebe dieses von Menschen geschaffene Monstrum, das sich durch Tunnel und über Brücken kreuz und quer durch die Lande zieht.
Pollution. Reduisez votre vitesse, wird uns in der Nähe von Valence auf den Tafeln mitgeteilt. Schon sind wir im Rhône-Tal. L’Autoroute du soleil. Aber mit Sonne hat dieser eigentlich sonnige Tag nichts zu tun.
Der Himmel ist gelb. Die Horizontlinie wirkt schmutzig. Die Sonne ist ein schmieriger Ball, der in einer Kloake zu schwimmen scheint. Die Luft ist verpestet. Pollution! Jetzt wissen wir, was die Vinci Botschaften auf den Tafeln bedeuten: Luftverschmutzung, langsam fahren.
Der fünfte Apokalyptische Reiter, das sind wir. Wir Menschen. Der fünfte Apokalyptische Reiter ist ein zieseliges, schizophrenes Kollektiv egoistischer, voranstrebender Individuen. Unaufhaltsam schiebt sich einjeder von uns durch seine Welt in seine ihm wohlgefällige Richtung und trägt damit zur natürlichsten Form der Apokalypse bei, phantasiere ich. Das wäre mal ein Blogartikel wert. Dass es die biblische Form der Apokalypse zwar nie geben wird, dass die Wesen aber sehr wohl und ohne es zu ahnen, ihre eigene Apokalypse kredenzen. Von innen heraus, wuchernd wie Krebs.
Auf dem Beifahrersitz twittere ich, während SoSo das TomTom zum Jaulen bringt. Immer wenn sie die zulässige Geschwindigkeit überschreitet, bimmelt das Ding. Vorbei an Montélimar. Atomkraftwerk. Hundert Meter hohe Dampfsäule über Kühlturm in giftgelbem Himmel neben einem schrägen Ausläufer des Zentralmassivs, dessen Abhang so gerade verläuft, als wäre er von deutschen Ingenieuren konstruiert. Das Kernkraftwerk von Pierrelatte, dessen Kühltürme mit spielenden Babys bemalt waren. Ich vergesse, zu schauen, ob die Gemälde noch immer darauf sind. Vorbei an Montpellier. Eine französische dreispurige Autobahn vermittelt einem irgendwie das Gefühl galanten Miteinanders. Kein Gemetzel wie in Deutschland manchmal, wo man mit 250 km schnellen Geschossen rechnen muss, die von Hinten wie aus dem Nichts auf einen zurasen.
Die Fahrtrichtung führt uns immer genau Richtung Sonne. Zunächst nach Süden und ab Bezier/Perpignan dann nach Westen. Die Helden reiten in den Sonnenuntergang. Wir beiden millionstel apokalypischer Reiter, wir.
Gegen 19 Uhr erreichen wir unser Domizil in Vernet-les-Bains. Die Hausverwalter sagen, wir sind 750 Meter hoch. Das hatte ich nicht bedacht. Dennoch. Der Winter ist noch nicht gekommen. Tagsüber 12 bis 15 Grad. Nachts leichter Frost. Das Studio ist ein gemütlicher Raum in einem Appartementhaus, Balkon nach Osten. Die Sonne sollte bald hinter den Bergen hervor kommen.
Die Luft wirkt sauber.
Nachtrag: Hier geht es zu meinem Twitter-Account
Und wir haben WLAN. So werde wohl auch ich hin und wieder was bloggen. Weil ich Lust habe. Und wenn ich Lust habe.
[Ähm, hat TomTom wirklich gejault?]
Najaaa, Monsieur Irgendlink, moi même, neigt bekanntlich zur Theatralik. Ich freue mich aufs Duettbloggen.
Hallo Ihr Beiden,
freut mich, dass Ihr gut angekommen seid. Ich wuensche Euch erholsame Tage da „unten“ [mein Erdkundelehrer haette mir fuer diese Bezeichnung die Ohren langgezogen ;) – also lieber da „oben‘, weil 750 Meter hoch].
Lieber Juergen, ich hoffe, dass Deine Ohrprobleme wirklich geloest sind bzw. dass eine stressfreie Zeit dazu hilft.
Mehr spaeter, denn gleich ist Bescherung.
Macht’s gut Ihr Beiden, und habt einen schoene Zeit,
Pit
Ahaaa, Ihr beschert heute. Daheim wurde gestern beschert. Wie es hier in den Pyrenäen ist, wissen wir nicht. Eine gute Bescherung wünsche ich Euch.
„Das Kernkraftwerk von Pierrelatte, dessen Kühltürme mit spielenden Babys bemalt waren“, das habe auch ich einmal gesehen und nein, auch wir konnten nicht anhalten und die Kamera konnte diesen Zynismus nicht einfangen und oft schon habe ich daran gedacht, immer wieder mit einem gewissen Schauder, den ich auch gerade eben über meine Haut schauern fühlte …
… und Hörsturz? Herr Irgendlink, ruhen Sie sich aus … im Süden Frankreichs
herzliche Grüsse
Starker Text.