Diesseits und jenseits der Sonnenseite des Tals

Wachstum und Zerfall. Das Lebensrund. Hier in einem steilen Seitental des Vallemaggia werden einem diese beiden natürlichen Unabdingbaren überdeutlich vor Augen geführt. Egal, ob es sich dabei um ein altes Steinhäuschen, ein sogenanntes Rustico handelt, einen zwei Meter dicken, drehwüchsigen Kastanienbaum, oder um ein ganzes Rusticodorf: alles entsteht, wächst, zerfällt, bildet die Basis von Neuem, entsteht, wächst zerfällt. Als ob Gott in Gestalt eines Hamsters erschienen wäre und ein brummendes Rad antreibt immerzu. Unser Zeltlager in dem Wäldchen bei Dunzio steht wie auf Kuchen, so weich ist der Waldboden. Jahrzehnte verrotteten Laubs liegen unter uns. Das Arreal sieht unheimlich aus, wie ein keltischer Ringwall. Mittendrin ein kahler Fels, Buchen und Kastanienbäume.Abwärts nach Aurigeno begegnen wir zwei barfußlaufenden Deutschen, einem wegweisenden Schwaben, einer schlanken Italienerin mit Kampfhundmischung, die uns gestikluierend lächelnd auf italienisch wohl sagen will, der will doch nur spielen, wobei die Geste am Ende ihrer Rede, Zeigefinger über den Hals ziehend, eher sagen will, der murkst euch ab, aber sie zeigt auf den Brunnen und wir verstehen, das Tier ist zu klein, um über der Brunnenrand zu schauen und deshalb zieht es so an der Leine. Sie lächelt. Weiter Nach Maggia, samstagnachmittaglethargische Welt, Flussbadende, Spaziergänger. An der Bushaltestelle Aurigeno-Maggia ein alter Mann, barfuß, auf der Bank liegend. Vierundachtzig sei er, habe ein halbes Jahr im Rollstuhl gesessen, nun mache er wieder Wanderungen, um fit zu bleiben. Seine winzigen Füße zieht er ein bisschen an, damit SoSo und ich auch sitzen können. Für zehn Franken kaufen wir uns frei, nehmen den knapp vierstündigen Wanderweg nach Cevio per Bus wie im Flug. Zwischenstopp in Cevio. Einkauf im örtlichen Coop. Beim Hüsli brauchen wir Lebensmittel für die nächsten zwei Tage. Lebensmittel für das Es-sich-gut-gehen-lassen. Schließlich wollen wir uns erholen. Der erste Tag ohne Sack auf dem Rücken seit über zwei Wochen. Schokolade, Joghurt, Bier, Gourmetfertigmenü, Käse, Brot, Joghurt, Kaufrausch, Wurst und sogar eine Flasche Wein für Mathias, den Hüsli-Owner.
Klar, dass man mit derart Gepäck nicht den zweistündigen Weg direkt ins fünfhundert Meter höher gelegene Hüsli hinaufächzen will. Wir nehmen den vier Uhr Bus nach Linescio. Von dort sind es nur vierzig Minuten zu laufen und nur etwa hundert Höhenmeter. Was für ein Abenteuer. Die Ingenieure, die die Haarnadelkurven hinauf ins Tal gebaut haben, müssen wohl mit einem Miniaturlinienbus am Modell zuvor ausprobiert haben, ob er da herumkommt. Keine Hand passt mehr zwischen die Frontscheibe und die Granitwände in den Kurven. In einer Kurve muss die Fahrerin sogar einen knappen Meter zurückrangieren, um herumzukommen. Auf der gegenüberliegenden Talseite Linescios führt der Wanderweg nach Cevio zurück, den wir über eine Steinbrücke erreichen. Auf der totgelegten Südseite des Tals, also die mit Blick nach Norden, die fast immer im Schatten liegt. Früher, als es noch keine Autos gab und somit auch Straßen nicht wichtig waren, waren wohl beide Talflanken mit Granitplatten belegten Wegen und Treppen erschlossen, auf denen man zu Fuß und mit Eseln Güter transportierte. Eine gleichlangsame und gleichermaßen belebte Welt auf beiden Talseiten, die, Kraft der menschlichen Entwicklung, irgendwann kippte zu Ungunsten der dunklen Südseite des Tals. Die Straße entstand auf der Sonnenseite und die ist auch heute noch belebt. Hier beim Hüsli gibt es keine Bewohner mehr. Die Kastanienwälder und die von Menschen geschaffenen Terrassen verwildern, die Häuser zerfallen, wenn sie nicht von Fremden, oft Deuschschweizern, gekauft und renoviert werden.
Ein geradezu meditativer alter Weg, der von Generationen vor uns angelegt wurde, früher Mittel zum Zweck, Arbeitsmittel, Transportmittel, Lebensader, heute nur noch von Touristen begangen. Erstaunlich deutlich führt er einem die verschieden langen Zyklen des Wachsens und Vergehens vor Augen: die Jahreszyklen der Natur, Laub und Früchte, Schicht um Schicht am Boden und den mehrere Generationen übergreifenden Zyklus des zerfallenden Dorfs, das einst gebaut, bewohnt, bewirtschaftet, verlassen, heruntergekommen … ein Steinwurf nur entfernt wittert man das Ende des ganz großen Zyklus unserer derzeitigen Zivilisation, dann, wenn eine neue, bessere Straße auf der Sonnenseite „unseres“ Tals gebaut wird.

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