Seit ich diese neumodische Hose mit den ewig langen Gesäßtaschen und dem knöpfbaren Hosenschlitz besitze, vergesse ich öfter, zuzuknöpfen. Was weiterhin nicht schlimm ist, denn es fällt kaum auf, wenn man geht oder steht. Was aber, wenn man auf dem Zahnarztstuhl liegt? Eigentlich ist es wie wenn man in die Sonne schaut. Nicht ganz so hell und auch nicht so heiß. Die Welt der Dentalklienten ist eine einfache und bequeme, zumindest so lange wie der Doktor keine Karies oder Parodontose finden kann.
Schwer vorzustellen, wie die Welt genau umgekehrt aussieht, also aus Sicht des Zahnarztes. Natürlich sollte er sich auf den Patienten-Erdbeermund konzentrieren, wild sein, sollte er danach :-). Aber sieht er beiläufig nicht auch das T-Shirt? Auf wieviele Che Guevaras unsere Zahnärzte wohl täglich starren, wieviele Soßenflecken, Abi-2013-Shirts oder solche mit zweifelhaft süffisanten, selbstgedruckten Sprüchen? Wenn ich Zahnarzt wäre, würde ich darüber buchführen. Fünf-Hosenlatz-Kalle sei mein Kampfname. Und ich würde ein Leben lang hoffen, dass ich einmal eine Serie von Patienten schaffe, die allesamt, chronologisch durchnummeriert, T-Shirts mit Zahlen darauf haben. Zuerst die Eins, dann die Zwei und so weiter. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert? Könnte man einen Zahnarzt womöglich in den Wahnsinn treiben, wenn man, in Form eines Flashmobs, ein bisschen nachhilft, die Patienten sich also verabreden würden? Ein Fall für die versteckte Kamera.
Er hat überhaupt nicht gebohrt. Nach einer viertel Stunde durchwandele ich die frühmorgendlich leere Stadt. In der Allee der Verdrossenheit, unweit des Rathauses, haben es sich die ersten Schluckspechte auf einer Parkbank bequem gemacht. Ihnen gegenüber steht einer, der das Wort führt und auf die anderen einredet und als ich mich nähere, komme ich mir vor wie in einem überdimensionalen Schachspiel, so uneinnehmbar scheint diese Rochade der Verdrossenheit. Auf dem Dach des Parkhauses stehen fünf Jugendliche, rotzend, palavernd, den vorletzten Schultag schwänzend. Vergeblich versuchen sie die sechs Meter bis in den Bach zu überspucken. Wie Morsezeichen zischt der Speichel. Die Fußgängerzone. Vor Neun noch gähnend leer. Eine Gruppe Schulkinder, offenbar von den Lehrern auf Rätselsafari geschickt, rüttelt an der Tür zur Buchhandlung – Was sollen wir hier? – Das meist verkaufte Buch. – Mist, noch zu. Eine Viertel Stunde später sehe ich sie am Tresen für Buchbestellungen wieder, natürlich sind mehrere Gruppen von je fünf Kids unterwegs – meine Güte, das arme Buchladenpersonal. Bereitwillig führt man sie ans Regal mit den Bestsellern. Mit Zahlen sind die Rangplätze markiert. Dan Brown Platz eins. Platz zwei heißt Er ist wieder da, Handlung: Hitler wacht im Jahr 2011 in der Gosse in Berlin auf und feiert ein gehyptes Comeback in der Medienlandschaft. Kurzzeitig bin ich versucht, den Schinken zu kaufen – die Nagelprobe, immer wieder reinlesend an verschiedenen Stellen, lässt jedoch vermuten, dass es sich um ein dreihundert Seiten langes Geseier von Platitüden handeln könnte mit pseudomedienkritischem Anstrich.
Hallo Frau Soundso, höre ich eine Stimme. Kurze Stille, dann noch einmal etwas lauter Frau Soundso? Jetzt erst merkt die alte Dame, dass sie gemeint ist und wendet sich der fragenden Mittfünfzigerin zu. Sie habe ihre Brille vergessen und die Augen seien trüb, kein Wunder, in dem Alter – wie alt sind sie denn – achtundachtzig. Frau Soundso nutzt die Gelegenheit für ein, die gesamte Buchhandlung beschallendes Schwätzchen. Offenbar hört sie auch nicht gut. Ihr Gegenüber bereut sichtlich, dass sie sie angesprochen und die erdrutschartige Rede ausgelöst hat. In Kürze erfahre ich alles über Frau Soundso: wie ihr Mann starb, wieviele Kinder und Enkel sie hat, wo sie wohnt. Es ist mir unangenehm, das alles wissen zu dürfen. Schließlich unterbricht die Gesprächspartnerin höflich den Monolog und verabschiedet sich von Frau Soundso mit den Worten Ein schönes Leben noch.
damit kann man nie früh genug anfangen!
oder: besser spät als nie …
wo wir so schön in den plattitüden gewässern dümpeln, weischwienimeine?!
:-)
Wenn es bloß so leicht wäre, wie es gesagt wird. Freund QQlka hat das zu Freund Sch. gesagt, zum Abschied vor drei vier Jahren. Seither haben sie einander nicht wieder getroffen. Die kürzliche Lektüre des Kinderlähmungsromans von Philip Roth hat ja eindrücklich verinnerlicht, wie schnell ein Menschenleben „kippen“ kann. Im Alter von achtundachtzig stellt sich eine gewisse Dramatik ein. Seit ich das Buch gelesen habe, denke ich permanent nach, ob ich diese oder jene Person vielleicht zum letzten Mal sehe. Fakt ist, dass man jede Person irgendwann zum letzten Mal sieht und dass man selbst von jeder Person, die einen kennt irgendwann zum letzten Mal gesehen wird. Somit ist doch „Ein schönes Leben noch“ ein vernünftiger Abschiedsgruß?
Zahnarztfantasialand.
Wundersame Ideen- um nicht zu sagen: Subber!!
Leider findet sich im Text nirgendwo das Wörtchen „rudimentär“- das hätte noch gefehlt…
Schön lachen kann man. Kleinstädtische Öde empfindet man- all so was.
Liebe Sonja, ich liebe Kleinstädte. Wenn ich Gott wäre, hätte ich am ersten Tag die Kleinstädte erschaffen. Gut, dass Du mich an das Wort „rudimentär“ erinnnerst. Ich werde es demnächst berücksichtigen. Wäre das nicht ein schöner Name für einen fiktiven Künstler, der sich zeitlebens damit beschäftigte, Fäden, Seile, Gedärm oder sonstige längliche Dinge aufzuwickeln? Rudi Mentär ist ein leider viel zu früh verstorbener Weggefährte von Mudart-Legende Heiko Moorlander.