Das unbezahlte Ding

Weile her, dass ich bei Blogkollege Axeage auf dieses Kleinod gestoßen bin: Marc-Uwe Kling. Ageage zitiert den Comedian in seinem Blogeintrag:

Ist Dir klar, dass die meisten Krisentheorien des Kapitalismus, die den baldigen Zusammenbruch vorhersagen, daran kranken, dass sie unterschätzen, wieviele einst wertfreie Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch der kapitalistischen Verwertungskette anheimfallen können, um solchermaßen die Krisentendenzen durch eine quasi erneute, ursprüngliche Akkumulation abzuschwächen?

Und ich fresse mich an dem Wort Verwertungskette und am Kapitalismus fest, dieser imaginären Krake, von der kein Mensch so recht die Ahnung hat, was das überhaupt ist, über die aber jeder redet, wie über eine Fabelfigur. Bildhaft stelle ich mir vor, wie die Krake die einst wertfreien Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufspürt, sie umgarnt, würgt, frisst. Das unbezahlte Ding kommt mir in den Sinn, über das ich einmal nachgedacht habe in einer ruhigen Minute vor fast zwanzig Jahren. Ich saß am Schreibtisch und überlegte, ob es in der Welt etwas gibt, was kein Geld kostet. Der Schreibtisch hatte etwas gekostet und alle Gegenstände darauf auch. Die Tapete hatte Geld gekostet, die Farbe, die Vorhänge. Das Fenster, durch das ich sinnierend auf die frisch geteerte Straße schaute hatte auch gekostet. Der Teer war nicht billig. Ihn aufzubringen war keine Sklavenarbeit. Die Männer wurden bezahlt. Die Coladose in der Gosse dreißig Meter vor dem Haus hatte einmal gekostet und wenn die Straßenreinigung vorbei kommt, um sie wegzufegen, wäre das auch nicht umsonst. Eine Frau mit Hund an blauer Leine läuft durchs Bild. Ich wittere Hundesteuer, Tierarztkosten, Blaueleinen-Sonderpreise im Tierbedarfsgeschäft, für das der Ladenbesitzer sicher eine Menge Miete zahlen muss. Kurzum: im Jahr Neunzehnhundert-X-undneunzig, als ich über das unbezahlte Ding nachdachte, konnte ich schon nichts Unbezahltes finden. Und heute erst recht nicht.

Da kommt mir der Satzfetzen mit dem Kapitalismus, wie er sich in die letzten Bereiche menschlichen Zusammenlebens vorfrisst, gerade recht. Ich schließe den Browser, nachdem ich den Artikel bei Axeage gelesen habe und weiß, die Flatrate ist das Zuckerbrot des modernen Datentransfers.

Tage später fahre ich über eine Schweizer Autobahn an der Südseite des Jura Gebirges auf eine Gewitterfront zu. Atemberaubende Szene. Ziel Pontarlier. Lange her, dass ich die Strecke durchs Traverstal nach Frankreich gefahren bin. Per Radel. Jene Gegend, in der einst Rousseau im Exil lebte und in einer Höhle philosophierte. Erinnerungen kommen hoch. Auf jener Wiese (sie zu mähen war nicht billig) trafen wir zwei Mädchen, die wir für Lesben hielten und die uns für schwul hielten, QQlka und ich, und wir kochten Kaffee und hielten ein Schwätzchen kurz vor dem steilen Anstieg zum Hochtal nach Pontarlier. Weiter über die Grenze auf französisch legeren Departementstraßen und nordwestlich von Pontarlier hatten wir den Weg gefunden in ein kleines Seitental nach Ornans. Hey, an diesem Abend letzte Woche kommt mir die Hochebene fast 800 Meter über dem Meer außerhalb der Kleinstadt seltsam belebt vor. Wo damals noch Kuhweiden waren, sind nun Supermärkte, Glas, Stahl, Neubauten, Parkplätze, Glanz, Menschen auf dem Weg in den Konsum. Es ist fast 19 Uhr. Ich frage mich, ob ich das vor zehn Jahren übersehen habe, dieses gläsern geleckte Dilemma des Konsums, oder ob es damals noch nicht existierte und mir kommt der Satzfetzen, den ich oben genannt habe wieder in den Sinn, wie ES frisst. Das krakenhafte Ungetüm namens Kapitalismus, das in die wertfreien grünen Wiesen der Erinnerung vordringt und Parkplätze planiert und Straßen baut und Laternen aufstellt und Ordnung schafft, wo einst friedvoll nutzlos das Chaos wiederkäute.

So jage ich den Kleinwagen über kurvenreiche Sträßchen bis zur Loue-Quelle, die gut zehn Meter breit aus einer Steilwand entspringt. Ein fulminanter Beginn für einen kleinen Fluss, wie ich finde. Ein Spaziergang zur Quelle dauert nur zehn Minuten. Heureka! Sie scheint kostenlos. Was will ich in der Gegend? Mein guter Freund Leb feiert Geburtstag, ist auf Urlaub im kleinen Städtchen Ornans. Ihn zu besuchen lautet die Mission. Hallo sagen, eine Nacht schwätzen, morgens wieder heim. Was kost‘ die Welt. Aber alles kommt anders, denn guter Freund Leb ist auf Höhlentour, sagt mir eine einsame Frau mit zwei Kindern auf dem Zeltplatz. Das Team kommt erst nach Mitternacht zurück. Der Zeltplatz hat sich auch mächtig entwickelt. Auch hier ist die Wiese geschrumpft. Man hat Hütten gebaut. Der Swimingpool ist größer geworden. Die Krake muss nicht böse sein. Sie hat uns eine Hüpfburg gebaut. So fahre ich auf der Nordseite des Juragebirges nach Hause und während in den Vogesen Blitze zucken, geht mir die imaginäre Kreatur, die mir schon vor zwanzig Jahren die Suche nach dem unbezahlten Ding versaut hat, nicht mehr aus dem Kopf. Der Besucherparkplatz vor der Loue-Quelle war nach 19 Uhr fast leer. Die Souvenirsbudenbesitzerin schließt die Tür ab. Im Restaurant gegenüber zwei drei verlorene Hansels. Kein Parkgebührenautomat in Sicht. Die Krake war noch nicht hier und auch noch nicht an der Höhle, aus der der Fluss kommt. Aber sie wird kommen.

(Es ist nicht auszuschließen, dass das eine oder andere Wassermolekül, aus dem der Fluss besteht, aus ausgeschiedenem, geklärtem Mineralwasser besteht, das verdunstete, abgeregnete, versickerte … :-) )

Loue Quelle Jura, Frankreich

6 Antworten auf „Das unbezahlte Ding“

  1. Ich habe den Spruch inzwischen auswendig gelernt und die Liebste und ich machen uns in Gesellschaft immer den Spaß, wenn ich vom Klo zurückkomme, dass ich ihn brav und fehlerfrei aufsage, worauf sie dann die alles entscheidende Frage stellt: „Brauchst Du Geld fürs Klo?“
    Die amtliche Antwort meinerseits lautet: „Ich sehe, wir versteh’n uns.“

    Früher, bei Didi Hallervorden hieß das mal Der gespielte Witz.

  2. kopfweh ist kostenlos – oder hat auch da die krake ihre finger im spiel?

    deine gedankenkette kenn ich bestens. sie überkommt mich auch von zeit zu zeit und macht mich zuerst immer traurig und ich fühle mich „gekauft“ und abhängig von all den dingen, an die ich mich gewöhnt habe und zu brauchen meine. dann begreife ich, dass wohl alles etwas kostet und dass das nicht einfach immer nur geld und auch nicht immer nur negativ sein muss.
    sogar dein blog kostet: zeit.

    echt, dein artikel ist stark!

    1. SoSo, Dein Kopfweh macht mir gerade ein bisschen Kopfweh. Es scheint das Missing Link in meiner Gedankenkette zu sein: Leid gibts grundsätzlich gratis :-(

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