Die Zukunft liegt in der Gegenwärtigkeit

Das Künstlerleben hat wieder begonnen. Oder setzt sich fort. Aus dem Nichts puffen Ausstellungsangebote und vergehen wieder. Fast wie Denkblasen in Comics. Der Film für LA ist fertig. Gut geworden. Journalist F. diagnostizierte, man könne ihn sogar an Arte schicken. Ich bin skeptisch. Aber das Kompliment tut gut. Zwei Versionen habe ich auf den Server gepackt. Jeweils über 500 MB groß, damit man es in den USA downloaden kann. Liebend gerne würde ich die Links verraten. Aber ich habe Sorge, dass bei einem Download von vielleicht dreißig-vierzig Mal, die Amerikaner nicht zum Zug kommen. Das gute alte Ressourcen Problem. Zu wenig Bandbreite. Zu wenig Energie. Zu wenig Lust. Zu viel, was gleichzeitig geschehen könnte. Auch gibt es Verlagsanfragen für das Nordseerundenbuch. Skepsis auch hier. Längst legt mein Gedankenschiff schon wieder ab und ich formuliere den Spruch: Die Zukunft liegt in der Gegenwärtigkeit. Ich räume auf. Lösche die hunderte MB großen Filmdateien der Versionen Eins bisVier (die fünfte ist endlich gut genug) vom Computer und schicke noch etliche tausend Fotos hinterher. Überblick? Gibt es nicht. Es gibt nur noch die Straße. Mit der komme ich zurecht. Ein seltsames Horroszenario des eigenen Daseins zeigte mich als Mensch, der alles verloren hat: SoSo hat mich verlassen (nur so eine Wahnvorstellung, zum Glück), die armen Eltern sind tot (auch eine Wahnvorstellung, glücklicherweise), aber wenn das Szenario eingetreten wäre am Ende der Ums Meer Reise, was wäre geschehen? Eine Rückkehr in ein verwüstetes Leben. Ich wäre weiter geradelt bis anś bittere Ende des Mobilfunkvertrags, hätte den Privatbankrott irgendwo mitten in Frankreich gefeiert und wäre ohne jegliche Verbindung ins weltweite Netz weiter geradelt. Ein Mann, der alles verloren hat und trauernd aber lebend durch die Lande zieht. Ohne Ziel.

Ein Kunstwochenende, letztens mit der Künstlergruppe Prisma, die mich während meiner Abwesendheit aus Zweibrücken adoptiert hatte, bringt mich unter die Leute und ich blättere im Fotobuch von Künstlerkollege N. Es zeigt unter anderem eine Serie von sehr intimen Nahportraits gescheiterter Männer, die er auf der Straße fotografiert hat. Großartige Fotos von gezeichneten, bärtigen Gesichtern. Immer, als die Frage kam, wie es so weit kommen konnte, wie sie auf der Straße gelandet sind, hat Künstlerkollege N. den Auslöser betätigt. Knallhart. Ganz starker Tobak. Und wie ich so die Seiten blättere, wird mir klar, dass das Allerweltssschicksale sind. Jeder könnte betroffen sein. Im Lauf meiner fluffig leichten Europenner-Karriere habe ich etliche solche Typen getroffen auf den Straßen dieser Welt. Abgründe menschlichen Scheiterns. Herrlicher wie-hieß-er-noch-gleich, ich habs aufgeschrieben am Rigole in der Nähe von Toulouse, er lehte an einem Baum an dem kleinen Kanal und aß ein Stück Brot und fütterte seinen kleinen Hund mit Soucison sec. Geld verdiente er mit Singen auf dem Markt in Castelnaudary. Und die drei Kerle vorm Dom in Speyer – wann wars? 1991? – die mich ermahnt hatten, pass auf deine Schuhe auf! Schuhe sind wichtig! Putze sie! Sie sind das, was dir Halt gibt. Und ich lachte und radelte durch den Winter bis fast nach Alicante.

Wie wenig es braucht, in den Abgrund zu stürzen! Eben noch tanze ich auf den Bühnen und lasse mich – zu Recht – feiern für die wunderbare Ums Meer Reise, und schon bin ich ganz unten. Nein nein nein. Es ist noch nicht so weit. Vielleicht bin ich auch nicht der Typ für das langsame stille Ende auf der Straße. Ich hab einfach immer zu viel Glück. Ich werde immer gerettet?

Wie sieht es hier aus? Ich sitze im Künstleratelier, das einmal ein Kuhstall war. Zwei PCs rechnen Daten. Die knapp bemessene Internetverbindung kracht an allen Ecken und Enden. Das iPhone rechnet auch und bringt sich auf den neuesten Stand, damit ich neue Reiseprojekte darauf speichern kann. Das Bankkonto dümpelt haarscharf im Plus. Eben erreicht mich die Nachricht eines Ausstellungskurators in Brüssel, dass die Ausstellung gecancelt wurde. Da wird mir klar, wie zerbrechlich und angreifbar die neue Kunstrichtung ist. Die Mobile Art Bewegung, ha! Sie lebt von Luft, von Leichtigkeit und von großen Worten, die mal eben schnell auf Facebook dahin geschnoddert werden. Genauso schnell, wie du ein Projekt hinaus posaunst, stampfst du es auch wieder ein. Es würde mich nicht wundern, wenn das Festival in LA, auf dem der Film „Ums Meer“ gezeigt wird, auch noch in die Knie geht. Nur zwei Tage vor der Eröffnung (ganz ehrlich: an mir soll es nicht liegen. Der Film ist fertig. Und gut. Ich hab meine Arbeit getan).

Fazit ist, dass doch nur wahr ist, was sich in unmittelbarer Umgebung befindet: du selbst, dein Computer, der dir diese Zeilen anzeigt, die Gefühle, die dir das Gelesene vermittelt.

Habe Katze! Katze frisst. Und in der Nacht kriechen die Igel aus dem Gehölz und bemächtigen sich des übrig gebliebenen Katzenfutters. Igel von Katzes Gnaden sozusagen. Meine Lieben. Das ist wahr! Es gibt nur mich hier. Der ich diese Zeilen hacke, schnell und ohne groß nachzudenken. Ein Abgetippsel aus dem eigenen Hirn. Kümmere dich nicht, ob es interessiert. Tu es! Durch die Glasfront, die nach Süden zeigt, starre ich ins Schwarz der Nacht. PC zwo dudelt Musik. Ein bisschen CPU-Kapazität gebe ich für die Unterhaltung frei.

Was auch immer geschieht mit den Kunstprodukten, die ich in der letzten Woche wahr gemacht habe, sie bringen mich auf neue Ideen. Das Bild, das ich für die Ausstellung in Brüssel, die abgesagt ist, gemacht habe lade ich in diesen Artikel (es war schon im April online, nun in hoher Auflösung remixed). Den Film schicke ich nachher zu Youtube und verrate Euch den Link, wenn er hochgeladen ist.

Neue Schandtaten stehen in der Warteschleife. Und der gute alte Owner hat mich auch angemailt. In seiner kruden Betreffszeilen-Knappheit: „Hey! Meldest du dich mal! Wollte mit dir sprechen! Grüße!“, steht in der Betreffszeile. Sonst ist die Mail leer. Das mag ich. Ich verspreche ihm, mich morgen früh zu melden. „Liebgrüß“ schreib ich auch noch.

Das Leben ist nicht besonders rosig nach der langen Reise um die Nordsee. Manchmal hätte ich Lust, mir einen Bart wachsen zu lassen, das iPhone wegzuwerfen, eine Gitarre zu kaufen und in Fußgängerzonen um Geld zu jaddeln. Oder weiße Farbe ins Gesicht und als lebende Statue etwas dazu zu verdienen.

Die längst hier gezeigte Datei, die auf der gecancelten Ausstellung in Brüssel gezeigt werden sollte, lade ich nun nicht nochmal hoch. Beigefügt der Aufkleber, der hoffentlich übermorgen neben dem iPad mit dem Film über die Nordseerunde prangt in Santa Monica.

Aufkleber zur Demonstration des Filmclips
Aufkleber zur Demonstration des Filmclips über die North Sea Cycle Route

2 Antworten auf „Die Zukunft liegt in der Gegenwärtigkeit“

  1. deine gedanken, so roh und wild wie dein wachsender bart (tu halt, was du nicht lassen kannst) resonieren bei mit.
    laut nachdenken, schreibenderweise, tut gut.
    ach, was schreib ich da. dass ich verstehe, will ich dir sagen. oder dass ich ahne, wohl eher.
    es ist wie eine lücke in zeit und raum – und da bist du jetzt. vielleicht.

  2. aus dem hirn abtippen, ohne filter, das kannst du und ich lese atemlos und nicke und tränen stehen in mir in den augen, weil das leben ist, wie es ist? oder weil es uns nur so erscheint. und weil es nur an einem fädchen von glück und helfenden händen hängt?!
    auch dies nur eine resonanz auf deins und ein liebgrüß hintendran
    faru blau

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