Nach dem südlichsten Punkt Belgiens und dem nordöstlichsten Punkt Schottlands, dem südlichsten Punkt der Shetland Inseln und dem südlichsten Punkt Norwegens, habe ich nun den nördlichsten Punkt Dänemarks in meine Liste der Extreme aufgenommen. Skagen ist größer, als erwartet, entpuppt sich abends bei der Ankunft im Regen gar als eine Art Partystadt, was weit übertrieben ist, dennoch gelingt es einer Gruppe junger Männer unter Schirmen, grölend auf der Terrasse eines Restaurants, ein gewisses „Malle-Feeling“ zu erzeugen. Der Ballermann des Hohen Nordens. Das Belle Plagne des Flachlands quasi.
Fußgängerzone aus Natursteinpflaster. Flint vielleicht, wie die Häuser in Norfolk. So genau kenne ich mich mit Steinen nicht aus, als dass ich das entscheiden könnte. Fürs Radel ein elendes Gehuckel. Kurz vor meinem Camping macht es „Peng“. Minus eine Speiche. In der Stadt gibt es einen Radelladen, sagt Ray am nächsten Morgen. Die Jugendherberge schmeißt ihre Leute um halb zehn raus, so dass er auf dem Camping aufkreuzt. Sonntag, fällt uns dann ein. Es geht auch mit einer Speiche weniger. Fahrradflüsterer Detlef, vom Homburger Laden Sport H2 klingt mir in den Ohren, dass das alles kein Problem sei. Im Notfall müsse ich die Speichen außenrum um die Speichenlücke einfach nachspannen, damit die Bremse wieder frei läuft. Trotzdem bleibt das ungute Gefühl einer Kettenreaktion, eine Speiche nach der anderen könne wegknallen …
Da der nördlichste Punkt Dänemarks auf einem schmalen Zipfel Landes liegt, radeln wir bis Hulsig über den Dünenradwanderweg die gleiche Strecke zurück wie hin. Biegen westlich über die Bahn auf den 1er Radweg ein, der direkt nach Deutschland führt. Nur noch fünfhundertfünfzg Kilometer. Meine Güte, wie sich die Relationen verändern. Am Anfang der Reise schienen mir die siebenhunder Kilometer bis Boulogne-sur-Mer schon unbewältigbar weit, nun, nach fast fünftausend Kilometern „Ums Meer“, kommt mir die Strecke Dänemartk von Nord nach Süd vor wie ein Klacks.
Durch ein Militärgelände in einem Kiefernwäldchen geht es westwärts, zunächst sonnig, ab Mittag zunehmend im Regen. Viele Radler, Wanderer, Sonntagsspatziergänger. Bei einer Siedlung namens Rödbjerg Kirke stellen wir fest, dass wir die große Wanderdüne verpasst haben. Naiv, zu glauben, das vierzig Meter hohe Ding läge direkt am Radweg und man könne es einfach so mitnehmen. Wüstenfilme seien dort gedreht und Rute, den wir im Camping bei Skagen interviewt hatten, sagte, dass man über und über mit Sand bepudert aus der Düne hervorgeht. Wind und Sand und Regen. Schon will ich sagten, dass einem das Ding ja nicht wegläuft, da fällt mir ein, dass es eine Wanderdüne ist, die pro Jahr acht Meter nach Schweden weiterzieht. Ha. Zwischendurch fabuliere ich an einem Artikel über den 17. Juni, ein denkwürdiger Tag für mein Radlerdasein. Ich überlege, ob ich meine kühne Auf-den-Tag-genau-Rückblicktechnik anwenden könnte und den Text damit beginne: 17. Juni 1985, 1986, 1987, 1989 und noch ein paar Jahre weiter, dann beschreibe, wie Vater und Sohn und einige Freunde des Sohns alljährlich in der Woche um den 17. Juni mit den Rädern zum Bodensee radelten, startend im kleinen Dörfchen Alsenz in der Nordpfalz, knapp tausend Kilometer in neun Tagen, ohne Zelt, draußen schlafend, in Abbruchhäusern und Rohbauten, in Sägewerken, Weinbergen, auf Miststreuern, unter Plastikplanen. Um sodann in dem nostalgischen Artikel auf die Jetztzeit zu schwenken, den 17. Juni, der einst ein Feiertag in Westdeutschland war, als aufgegebenen Feiertag mir selbst anzueignen und ihn zum Tag der radelnden Einheit zu ernennen.
Ein Plattfuß an meinem sehr abgefahrenen Hinterreifen. Die Kieswege bestehen aus Muschelstücken, stelle ich fest, oder anderem schneidenden Material. Jedenfalls puhle ich etliche, drei Millimeter große, weiße Etwase aus dem Gummi, die nur dank der integrierten Keflarschicht nicht bis zum Schlauch durchgedrungen sind. Der 40 Euro teure Reifen hat mir einige Scherereien erspart. Regen lässt nach bei Hirtshals. Ich verwerfe den Fachartikel zum 17. Juni, weil ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich nicht mehr sicher bin, ob der historische Tag der Deutschen Einheit tatsächlich eigentlich der Tag war, an dem die Spaltung des Landes durch den Mauerbau eine neue Qualität erreicht hat. Frag Wikipedia. Wikipedia der Zukunft wird jedenfalls vom Tag der Radlerischen Einheit berichten. Ha.
Hirtshals Hafen: Ray muss seinen Gepäckträger reparieren, ich scharwenzele umher und mache einige bizarre Hipstamatic-Fotos. Später steuern wir gen Süden, peilen einen Shelter an, Kabäuschen aus Holz, so groß wie ein Zelt, die zum Schutz gedacht sind für Wanderer und Radler. Schon fünfzehn Kilometer weiter werden wir fündig und machen es uns jeder in einem der vier Biwackplätze gemütlich. Spät um 11 taucht noch ein däniches Pärchen auf, die, per Auto unterwegs, diese günstigen Unterkünfte nutzen. Nun sind wir noch etwa zehn Kilometer von dem versunkenen Leuchtturm entfernt, der von einer Wanderdüne überrollt wird. Im Kopf male ich mir diese geisterhafte Szene wunderbar aus und ich hoffe, dass sie nicht so enttäuschend ist, wie die versunkene Kirche südlich von Skagen. Eine platt getretene Touristenattraktion mit breiten, fein gewalzten Wanderwegen außenrum, die schwedischen Radwegen nur zu gut anstehen würden.
Der Morgen ist trüb. Windig. Kühl. Erste, schwer bepackte Radler passieren den Biwackplatz und suggerieren mir ein seltsames Gefühl des Zu-spät-dran-seins. Ich stelle fest, dass die Zeit alleine schon durch das schwarmhafte Verhalten meiner Mitmenschen zu einer drückenden Sache wird, fast komme ich mir vor wie ein Vieh in einer Herde: wenn einer rennt, löst das automatisch den Rennimpuls aus bei all den anderen.
So und jetzt aber los.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Lieber Jürgen,
nette Berichte wie immer… Deine Arbeitskollegen vermissen dich sehr und hoffen bald wieder was von dir zu hören. Mach weiter und genieße die Tage auch wenn es vielleicht manchmal sehr schwer scheint…
Grüße die Tackergemeinschaft
Liebe Tackergemeinde, dieses „bald wiedersehen“ baumelt wie ein Damokles Schwert über meinem Kopf. :-) Nicht, Dass ich Euch nicht vermissen würde. Ich bin schließlich Tacker aus Leidenschaft. Frohes „Den Menschen auf Business Meetings das Leben versüßen und sie bequem dahinflätzen und Geschäftskontakte knüpfen lassen“ wünsche ich Euch.
„wenn einer rennt, löst das automatisch den Rennimpuls aus bei all den anderen.“
wunderbar! *grins*
Spannend, spannend dein Bericht und äußerst interessant dein Verweben der unterschiedlichen Zeitstränge. Macht Spaß zu lesen.
Ebenso spannend, der Herdentrieb. In Kürze wieder brandaktuell, denn: wann fährt man in Urlaub? Grundsätzlich dann, wenn alle fahren. Nämlich am ersten Ferienwochende, damit man im Stau auf der Autobahn Kontakte knüpfen kann. :-))
Danke, Szintilla, für das Feedback. Die Zeitebenenideen haben sich ganz zufällig entwickelt. Nichts ist geplant in dem Blogbericht, nur der Rahmen abgesteckt und ich warte geduldig auf Eingebungen.
So. Endlich bin ich wieder mit meinem Fedora unterwegs. Ich habe viel nachzuholen auf dem Radweg – irgendwie hab ich an der norweigisch-schwedischen Grenze gerade den Anschluß verloren.
Aber den Herdentrieb, den hast Du gut beschrieben. ;-)
Emil, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Dabei wars nur das Nichtvorhandensein von Linux und der eigenen Datenwurzel. Puuh.
diese biwachhäuschen haben es mir gestern schon angetan, darin würde ich auch gerne einmal nächigen, aber vielleicht mit dem rücken zu den frühaufbrecherInnen…
liebgrüß frau blau
Liebe FB, ich möchte so eins in meinem Garten aufstellen. Dann kannst Du das dort mal ausprobieren. Vielleicht schaffe ich es, bis zum Kunstzwergfestival im August?
fipptehler… soll natürlich biwack heißen…
Nicht nur Dänemark hatte ich mir ganz anders vorgestellt.
Wilde Tiere gibt es nicht? Polnische Wölfe, schwedische Bären, Nordseehaie?
Was für eine Reise!
Und nun sogar noch Grüße von den Tackerleuten.
Mann, Du stehst voll im Leben, Mann- dabei über nassen Sand radeln, boahh.
Gruß von Sonja
Sonja, Dänemark ist klasse. Die Shelter ein Segen. Die Leute so lieb. Fuchs und Hase habe ich gesehen. Kuckuck. Hab oft an Dich gedacht, dass es doch was Wandernswertes wäre hier.
Trau mich jetzt erst, weil sonst zu einseitig kommentiert – aber es gibt ja hier schon viele Kommentrae zu anderen Ebenen des Posts: Also jetzt: Bitte dringend zum 17., Juni 1953 noch mal gugln. Das war ein Volksaufstand mit mehr al 50 Todesopfern (um die genaue Zahl wird gestritten) gegen die schlechte Versorgungslage in der DDR, nicht gegen den Mauerbau. Letzterer wurde erst am 13. August 1961 begonnen.
Gutenachtwünsche,
die
ff