Sonntag in den Schären. Unsichtbar liegt Oslo, Moloch im Nordosten, wenn man Jo Nesbøs düsterem Bild folgt, das er in seinen Harry Hole-Krimis zeichnet. Eine Stadt voller Gefahren, voller Menschen, die repräsentativ der Normalverteilungskurve folgend mal reich, mal arm, mal erfolgreich, mal gescheitert in der charmanten Hauptstadt wohnen. Und jeder von ihnen hat ein Häuschen in den Schären rings um den Fjord.
In der Tat durchradele ich ein unauffällig unterschwellig dicht besiedeltes Land, was aber nur dann auffällt, wenn die große Fjordpumpe anspringt: freitagsabends, samstagsvormittags pumpt sie die Menschen aus der Hauptstadt in die felsige Küste Südnorwegens. Sonntags dreht sich die große Fjordpumpe andersrum und die Wochenendgegend leert sich. Sonntagsnachmittags überholen mich hunderte Audis, BMWs, Mercedes‘ mit den Fjordheimkehrern auf der schmalen Küstenstraße. Valle mit seinem Hafen, über den man auf die Inselchen gelangt, hat einen offenen Supermarkt, Souvenirsläden, ein bisschen Seefahrerschnickschnack als Dekor und das Dorf bietet hunderte Avgifts-Parkplätze (Abgabe, das heißt, kostenpflichtig) auf kleinen Wiesen, die zwischen den Felsen hergerichtet wurden, um die vielen Wochenendstouristenautos zu parkieren.
Im Restaurant Valle trinke ich einen Caffè Latte für 32 Kronen, zielstrebig habe ich eine der beiden Steckdosen des Ladens ausgekundschaftet, setze mich an den Tisch daneben und lade für eine Stunde iPhone und Akku. Das ist Crank 3, denke ich. Wenn ich ein normaler Urlauber wäre, würde ich das Immerverfügbarkeitssyndrom für krankhaft halten. Da ich aber Kunstarbeiter und Datenbeschaffer bin, finde ich es nur legitim, ständig für Strom zu sorgen, ständig erreichbar zu sein, wo auch immer es geht, ins Internet zu kommen, Texte zu schreiben. Ich bin eine Art Kunstmaschine geworden. Ein zeitgenössischer Datensammler mit rudimentär installierter Schnittstelle zur direkten Publikation.
Ich erwarte Besuch aus Zweibrücken. Eigentlich wollte ich Lars und Daniela aus meiner Heimatstadt in Helgeroa treffen, wo sie ihre erste Nacht in Norwegen verbringen. Sie radeln gegen den Uhrzeigersinn auf dem norwegischen Nordseeradweg bis nach Bergen. Wegen der beiden nicht fahrenden bzw. verpassten Fähren am Tag zuvor, musste ich fünfzig Kilometer mehr um die Fjorde radeln. Wir treffen uns kurz nachdem ich die wohl extremste Steigung des Nordsseküstenradwegs erschoben habe: in Etappen mit etwa acht kurzen Verschnaufpausen erklimme ich schiebend mit Geishaschritten den Hervikbakken. Etwa drei bis vier Kalköfer Wege steil. Gefühlt dreißig Prozent plus X. Man hat sogar Warnschilder vor dem Steigungsstück aufgestellt, die eine Radler auf schiefer Ebene zeigen.
Kurze Zeit später begegnen mir Lars und Daniela und wir legen eine kleine Hallo-wie-gehts?-Pause ein an einer Spitzkehre an serpentinöser Straße. Umarmung, Gutwetterteilen, Hälfte der kaum dramatischen Regenschauer im Gepäck radelt jeder in seine Richtung weiter.
An die vielen kleinen Steigungen werde ich mich wohl nicht gewöhnen. Sie zermürben mich. Zum Glück habe ich Demut gelernt. Schicksalsergebenheit, sich abfinden mit dem, was sich nicht ändern lässt. Insgeheim bastele ich an einer Südnorwegen-Faustformel, die besagt, pro drei Kilometer Fahrstrecke musst du ca. dreißig Höhenmeter hoch und wieder runter. Steigung ca. sechs bis acht Prozent, meist fahrbar, mal mehr, mal weniger. Eine Faustformel, die vielleicht Gültigkeit hat. Somit lässt sich auf die Drohung erklären der beiden deutschen Radler, die ich in der Nähe von Stavanger getroffen hatte, dass sie am ersten Tag von Larvik aus tausendsiebenhundert Höhenmeter erradelt hatten.
Ich weiß gegen die zermürbende Unabänderlichkeit nur ein Mittel: um ohne Schwierigkeiten voran zu kommen, darfst du nicht vorankommen wollen. Hör auf, mit den Augen die Spitze der nächsten Steigung versuchen herbeizuzerren – sie kommt nur, indem du ohne darüber nachzudenken, loskurbelst. Nennt mich „Erster-Gang-Irgend“.
Immer wieder Pausen. Fotos hie, Fotos da. Mit einem deutschen Paar schwätze ich ein bisschen, sie sind per Wohnwagen unterwegs, haben Räder mit, stöhnen ob der fiesen Steigungen – ich mache ihnen Mut: es sei nicht mehr weit. Ich hätte auch sagen können, es hört nie auf mit den Steigungen. Till Eulenspiegel kommt mir in den Sinn, wie er bergab weint und flucht und berghoch jubelt. Diese antike Schwarz-Weiß-Welt-Schönfärberei. Nach dem hundertsten Abwärts und Aufwärts würde auch ihm sowohl lachen, als auch weinen vergehen.
In Langesund erklärt man mir, das Shanty Festival hätte ich verpasst, Seemannschöre europaweit haben daran teil genommen, auch deutsche. Am Ortseingang steht ein Radlerzähler. Ich bin Nummer 91 für diesen Tag. Im Hafen fotografiere ich gelbe Stahlrohre mit Haken und unterarmdicken Schrauben. Ein Spaziergängerpaar wundert sich über mich, wir grüßen, hundert Meter weiter überhole ich sie wieder, wir reden ein paar Worte, sie erklären mir den Weg zum nächsten Campingplatz bei Porsgrunn. Ich radele weiter, sie rufen mich zurück, ob ich nicht bei ihnen übernachten wolle, in einem echten Bett.
Ahne und Sylvie. Sie haben Söhne in meinem Alter, sind oft in Deutschland, und in Italien auf Urlaub. Irgendwoher schickt mir dieser Tage jemand jede Menge Engel. Fast so, als würde das Schicksal mir den Weg frei räumen – habe ich in England und Schottland quasi in die Rentenkasse des Schicksals ordentlich einbezahlt in Form von Regen, Sturm und Kälte, bin ich nun in Norwegen als Pensionär der Vorsehung unterwegs. Es gibt traditionelles norwegisches Abendessen: Pellkartoffeln, Kohl und Frikadellen. Ahne erzählt mir das Geheimnis der gelben Stahlpuffer. Es handelt sich um eine norwegische Erfindung, Stoßdämpfer für Bohrinseln, die in Langesund hergestellt werden. Überhaupt durchradele ich gerade eine der industriellsten Gegenden des Landes mit riesigem Hafen in Prosgrunn und Skien, fast zehntausend Arbeitsplätze in den Fabriken rund um das Fjordegeflecht.
Der Erfinder der Ölbohrinselstoßdämpfer sei ein wunderbar komischer Kautz, der schon mal seinen Kanarienvogel mitsamt Käfig mitnimmt zu Einkaufen im Supermarkt, herrlich schillernd stelle ich mir den Kerl vor.
Auch über Norwegen an sich lerne ich ein bisschen, die Sache mit dem Öl, dem Reichtum und den Problemen für die Zukunft, die sich ergeben könnten, denn das schlimme Los des Reichtums ist doch: wie setze ich ihn sinnvoll ein, wem lasse ich ihn zukommen? Investiere ich ins Jetzt und haue alles auf den Kopf, oder versuche ich voraus zu schauen und investiere in die Zukunft, lasse meinen Erben etwas übrig. Im Kleinen wie im Großen stellt sich diese Frage. Im Kleinen , denke ich mir, habe ich ohne Nachkommen und auch sonst mit wenigen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft ja leichtes Spiel.
Wieder einmal wir mir klar, wie zerbrechlich diese drei Monate Leben sind, die ich mir gönne. Kunstarbeit hin, Kunstarbeit her: als normaler Mensch mit gesellschaftlichen Wurzeln und materiell von mir abhängigem Anhang könnte ich so eine Tour nicht machen, ohne auch gleichzeitig das Endprodukt Liveblog und die Bilder zu vermarkten. Aber im losen freier Vogel-Zustand, den ich nunmal lebe, kann ich Bilder und Texte einfach so raushauen und eine feine Da-nehmt-nur-Idealwelt leben, hey, und ich bin immer noch überzeugt, dass es in einem von tausend möglichen Modellen für die Zukunft der Menschheit tatsächlich klappen könnte mit der nichtkommerziellen Produktion von Gütern und Ideen.
Ich schweife ab. Die Nacht in Langesund bei Sylvie und Ahne ist eine wahre Erholung. Die Hundertkilometer-Etappe vom Tag zuvor steckt mir noch in den Knochen mit ihren gefühlten durch drei mal dreißig Höhenmetern.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Menno, also nee, da denke ich ich bin gemütlich vom Bürostuhl aus mit dir in Norwegen unterwegs und da legst du solche Stolpersteine wie „Geishaschritten“. Was hab ich mich an dem Wort verhaspelt, denke du hast ein -T- vergessen, also Geisthaschritte – das macht noch immer keinen Sinne. „Geist – Hasch – Ritte“ ??? Was will mir der Autor damit sagen? Möööönsch, bis ich auf Geisha kam, die ich ja nie und nimmer in Norwegen vermutet hätte …
Also rittst du nicht mit Geist und Hasch, sondern trippeltest Geishalike (und nicht in schnellem Lauf) den Berg hinauf. *mbg*
Sorry, ich habe heute einen Clown probiert. :-))
Grinsende Grüße über die eigene Begriffsstutzigkeit, Szintilla
Geist Hasch Ritte, haha, das gefällt mir. Da werd ich glatt wieder wach – ich bin so elend müde die letzten Tage.
Oh wie toll beschrieben, ich sehe es vor mir!
:-)