„Ereignisse wiederholen sich. Nie gleich und ewig ähnlich durchziehen Muster diese Welt. Sie zu erkennen, zu katalogisieren und sie in geballter Wucht darzustellen, ist eine große Disziplin.“
Lind Kernig, 30. Mai 2412.
Auf Norwegens Passstraßen finden sich oft seltsame schwarze Bremsspuren, wie ich sie auf einem Foto ein paar Einträge zuvor gezeigt habe. Spuren, die vermutlich von den blockierenden Reifen alter Landwirtschaftsanhänger stammen. Die Auflaufbremse blockiert bei Talfahrten ohne Last. Nur durch bizarre Zickzack-Fahrten und stetes zum Stillstand kommen und ruckartig wieder anfahren, lässt sie sich manchmal lösen. Andernorts findet man auf ebener Strecke die kreisrunden Reviermarkierungen des norwegischen Männleins. Über Männleins in der Schweiz hat SoSo in einem Beitrag vor ein paar Wochen gebloggt.
Die Technik des Sammelbeitrags in der Live-Blog-Literatur eignete sich bestens, um allgemeingültige Muster, die die Welt durchziehen wie Goldadern das Erz, literarisch darzustellen. Allzu oft wiederholen sich die Dinge, stellen sich Analogien heraus, das Liveschreiben ist ein einziges großes Verbinde-die-Punkte-Spiel. Kristallklar spiegelt sich das norwegische Männlein vor ein paar Tagen auf der Oberfläche eines eiskalten Sees. Ein freier Platz, hundert Meter lang, 60 Meter breit, ungeteert. Das Männlein verlässt die Landstraße, parkt vor der Sehenswürdigkeit Helleren, wo ich mein Zelt aufgeschlagen habe. Die Frau des Männleins steigt aus, schießt Fotos, steigt wieder ein. Mit durchdrehenden Reifen startet das Männlein gen Fjord, Fetzen fliegen. Staub und Hölle, Kehrtwende mit Handbremse, nicht stuntreif, aber spektakulär genug, um nach kurzem Stillstand erneut die Fetzen fliegen zu lassen.
Nach fünf Minuten tuckert das Männlein brav mit 70 über die schmale Fjordstraße davon. Später auf einer Passstraße. Von Weitem höre ich das Röhren. Die Auspuffe müssen Oberschenkeldick sein. Fünf Amischlitten in Kolonne donnern heran, besetzt mit einsamen, grauhaarigen Männlein, die nur zum Gruß an mir vorbei auskuppeln, Vollgas geben, wieder einkuppeln und weiter in den Tag brausen. Benzinstaub in der Luft. Vollgasgruß kostet jeden mindestens einen Liter.
Langsam erkenne ich ein Muster. Das Männleinmuster in dieser Welt. Psychologisch gesehen mag es sich um das große Aufmerksamkeitsdefizit handeln, das uns armen Kerlen das Leben so schwer macht, und weshalb wir, weltweit, mit Gesten darauf aufmerksam machen müssen, wer wir sind, wo der Hammer hängt, wie groß er ist, und bitteschön, starrt uns alle an. In Deutschland machen wir es mit lauter Musik und wenn wir ganz besonders aufmerksamkeitsbedürftig sind, zerdeppern wir Flaschen am Bahnhof oder wir röhren rotzend roh auf, dass es nur so klatscht, wenn unsere Speichelprobe auf der Gosse landet.
Erstaunt, dass das Muster Männlein so vielfältig ist, unterziehe ich das norwegische Männlein wegen seiner brutalen stoischen Eleganz einer genaueren Analyse. Ihm sei dieser Blogartikel gewidmet.
Pfingstsonntag, Flekkefjord. Bis 14 Uhr ist die Stadt ruhig. Ich sitze in einem Festpavillon, in dem Tische übereinander gestapelt stehen und lade an einem roten Kabel, das von der Decke hängt, mein iPhone. Nach zwei wird das verschlafene Nest, in dem nur die Tankstellen und eine Pizzeria geöffnet sind, von einem wahren Korso Männlein heimgesucht. In ihren Amischlitten schippern sie mit dreißig die einzige Straße rauf und runter, Scheiben runter gekurbelt, laute Wummermusik, röhrender, männleinpenisdicker Auspuff, aus dem Benzin tropft. Wer es sich leisten kann, hat sogar zwei. In tösender Konkurrenz stehen sie mit ihren motorradelnden Mitbalzern. Ich komme in den Genuss der Musik dieser Welt. Cool ist der – mit dem Was-auch-immer-Dodge oder so, auf dessen Motorhaube eine riesige Hutz, eine Öffnung für die Luftzufuhr, thront. Ich verliebe mich in einen Typen mit einem uralten Peugeot, der durchgerostet, laut krächzend verzweifelt versucht, mitzuhalten im Rudel. Mein Hang zu Omega-Tieren. Seufz.
Norwegen ist eine wahre Fundgrube für diese Erscheinung. Ich bin froh, dass ich erleben darf, wie ein kraushaariger Typ, irgendwo Kilometer entfernt, auf einem vierzig mal vierzig Meter großen, leeren Parkplatz seine Hinterreifen runter radiert, nacktoberkörprig, drei höchst beeindruckte Mädchen auf dem Rücksitz.
Meine Lieben. Der Sammelbeitrag in der Liveliteratur ist eine Methode, geballtes Erlebtes, das sich auf die Distanz von mehreren hundertKilometern einer Livereise verteilt, zusammen zu fassen und daraus, mehr recht als schlecht, einen Gesamtartikel zu basteln. Die Suche nach Mustern in dieser Welt ist wichtig. Sie gibt Halt. Sie gibt Struktur. Ich habe Angst vor einem Bericht über das deutsche Männlein, wie es mit seinem fünfzehnjährigen, versoffenen Gehirn in verpissten Bahnhofshaltestellen wertvolles Pfandglas zerdeppert. Aber da muss ich wohl durch. Demnächst.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia, die sich fragt, wohin wohl der Liveschreiben # 2-Beitrag versickert ist. Ob er noch auf Irgendlinks NotizApp schlummert?)