Herz

Erstmals sitze ich länger als ein paar Minuten vor dem leeren Bildschirm des Fons. Es fällt mir normalerweise leicht, einen Text zu schreiben. Es sei denn, ich bin abgelenkt. Das Hirn folgt eigenen, inneren, verqueren Wegen, die Sorgenspirale dreht sich. Über den Hafen von Lissabon wollte ich schreiben. Er ähnelt dem von Inverness wegen der hohen, schmalen, lauten, zerbrechlichen Autobahnbrücke, die darüber führt. In Lissabon über den Rio Tejo, in Inverness über den Beauly Firth bzw. den Moray Firth, jene fjordähnliche Meeresbucht, in die der Ness-Fluss mündet. Die Gegend um die beiden Häfen ist sich ähnlich: kahles Industriegebiet, in dem der Mensch mächtig Hand angelegt hat. In Lissabon habe ich einmal zwei Tage auf einem Schoner verbracht, nachdem ich den Kontinent durchtrampt hatte. Zusammen mit Freunden, die das Schiff nach Frankreich überführen sollten. Es ist nicht unmöglich, auf einem Schiff mitzutrampen. Das bestätigt mir ein holländischer Segler: „Die Finnen mit dem Holzboot hast du leider verpasst, ich glaube, die wollten nach Bergen. Wir segeln heute Nacht nach Holland“. Ich könnte die Tour abkürzen :-). Es gibt zwei Marinas, also Yachthäfen, in Inverness: einen bei der Brücke und den anderen beim Ausgang des kaledonischen Kanals, der vom Atlantik zur Nordsee via Loch Ness verläuft. Ich checke nur den einen, den unter der Kessock-Brücke, über die auch der N1 Radweg führt. Nachdem mir der Hafenmeister keine große Hoffnung macht auf Nordsee überquerende Yachten, es ist einfach noch zu früh im Jahr, radele ich auf dem N1 weiter Richtung Dingwall. Über weite Strecken entlang der A9. Die Kessockbrückenstrecke ist besonders schlimm, da der Radweg nur durch ein Stahlseil und einen Bordstein von der Fahrbahn getrennt ist. Man fährt direkt neben Schwerlast und die Winde des Transports mischen sich mit den Winden des Meeres zu willkürlichen Luftstrudeln, die dich hin und her blasen. Seit Inverness ist Mister Oberschlau Irgendlink auch im Besitz einer Campingplatzliste. Von ganz Schottland. In Evanton, etwa 4 Meilen hinter Dingwall ist der nächste eingezeichnet. Den peile ich an, oder ein B&B, in dem ich auch das Zelt trocknen kann. Die Wettervorhersage für Inverness prophezeiht Nieselregen den ganzen Tag und Starkregenschauer für Freitag. Zelt in Sonne trocknen wird also schwer. Was ist der Nasszeltverpacker doch so elend verdammt, am Abend wieder sein nasses Zelt aufzubauen …

Der N1 sieht eine Alternativstrecke vor, die über die Black Isle nach Cromarty führt, relativ verkehrsarm über Countryroads. Zwischen Cromarty und Nigg Ferry gibt es eine Fähre, die ab Ende Mai bei passendem Wetter über den Cromarty Firth setzt. Ich folge der Strecke direkt neben A9 und A835 bei gut radelbarem Nieselregen, checke spät auf dem Zeltplatz in Dingwall ein.

Ca. 20 Wohnmobile und ein paar Zelte. Hasen. Überall hoppeln Hasen und vor dem Toilettenhaus warnt ein Schild vor den Löchern, die sie auf den Stellplätzen hinterlassen. Sorglos stöpsele ich über Nacht meinen Zwischenakku im Badhaus ein, denn für die nächsten zwei Tage wird es wahrscheinlich schwierig, an Steckdosen zu kommen.
Jetzt ist das Ding weg. Und erst jetzt wird mir die Tragweite meiner Sorglosigkeit bewusst. Ich habe ein Bug behaftetes iPhone, das bei halbleerem Akku dazu neigt, sich einfach abzuschalten und erst wieder anzuspringen, wenn man es an eine externe Stromquelle klemmt. Sei die auch noch so schwach. Der Zwischenakku, über drei vier Kilometer geladen am Fahrraddynamo ist ein existenzielles Bestandteil dieses Onlineprojekts, wird mir bewusst. Es dürfen nun Wetten abgeschlossen werden, ab wieviel Uhr heute, das Fon offline geht und Herr Irgendlink verzweifelt in der schottischen Einsamkeit nach einer Steckdose sucht, an der er das Fon wieder starten kann, um damit das nächste 10-km-Streckenfoto zu machen.

Mehr noch: der Ärger über meine Unvorsicht, macht mich unkonzentriert, es mahlt die Gedankenmühle. Ich kann kaum den Einstieg finden in den Text, weil ich grübele, wie sich die Reise weiter entwickelt, und mir wird bewusst, wie immens wichtig das bisschen Strom ist, mit dem meine digitale Hightech-Schnittstelle ins WWW versorgt wird. Finde dich mit Verlusten ab und zwar für immer, schreibt Jack Kerouac.

Einige Szenarien entwickele ich:
– Der Akku wurde vom erbosten Platzwart gefunden und liegt nun in der Rezeption, in der ich bußfertig um 9 Uhr antanzen werde und mich entschuldige, dass ich versucht habe, Strom zu klauen. Das wäre mein Lieblingsszenario (drei Stunden Verlust-Abfinden).
– Dingwall hat einige Läden, in denen es vielleicht einen solchen Akku gibt.
– Ich bestelle einen im Internet und lasse ihn mir postlagernd nach Thurso oder John O‘ Groats schicken.
– Jemand schickt mir den Verkabelungsplan, mit dem man ein durchgeschnittenes iPhoneladekabel an ein durchgeschnittenes trapezförmiges Firewirekabel anschließen kann, so dass ich das iPhone direkt an den Gleichrichter anschließen kann. Utopisch. Das wird nie klappen …

Ich machs wie 1995 mit der Kunststraße: ich notiere akribisch in meiner Kladde, wann und wo ich die Fotos aufgenommen habe. Die Texte schreibe ich, wie vor einigen Tagen am Drumochter Pass mit Hand und fotografiere sie ab, wenn ich an einer Steckdose mit Internetzugang vorbei komme.

Oh Himmel, gib mir Wolkenbrücke, Nebel, Dauerfrost, aber gib mir mein Herz zurück. Noch anderthalb Stunden, bis die Rezeption öffnet.

12 Antworten auf „Herz“

  1. Es ist 9 Uhr 01 auf meiner Laptop-Uhr, ich habe das sichere Gefühl, du bekommst gerade deinen Akku überreicht von Jemandem, der einfach nur dafür sorgen wollte, dass er nicht abhanden kommt. Ich kann mich meistens auf mein Gefühl verlassen und wünsche dir, dass es jetzt auch wieder so ist.

      1. So kalt wie es jetzt ist, sollte ich doch froh sein, auf glühenden Kohlen zu sitzen. Stefan, mein Gefühl sagt mir ja auch, dass das Ding nicht geklaut wurde. Abwarten.

  2. Auch ich drücke alle vorhandenen Daumen – irgendeine Fee oder auch ein Troll muß Dir so wohlgesonnen sein, daß Du Deinen Akku wieder glücklich in den Händen hältst. Oder in irgendeinem fast vergessenen Store in Alness oder Tain einen neuen kaufen kannst, oder an einer Tankstelle / Raststätte irgendwo ganz in Deiner Nähe.

  3. Auch ich habe ein gutes Gefühl und hoffe für dich, dass es nach deinem Wunsch verläuft und du ‚dein Herz‘ zurück bekommst, was immer du damit meinst.
    Alles Gute, April

  4. Pingback: Vom Wetter | April's Journal
  5. Es gibt also auch an Orten, wo man es nicht vermutet, fiese HaderLumpen, die einem die StromVersorgung fürs Telebimm klauen. Ich hoffe, daß Du schnell Ersatz irgendwo herkriegst, damit irgendlink weiter auf Sendung bleibt. Eine gute Zeit wünscht Dir der graue Wolf aus der schönsten Hansestadt am Ryck.

    1. Danke, lieber Wolf. Es war vermutlich eine Lehre, die mir damit erteilt wurde: sei immer vorsichtig. Man weiß nie, wo die „Falschen“ sich rumtreiben. Seither schließe ich mein Fahrrad wieder ab und ich lasse die Fronttasche auch nicht mehr unbeaufsichtigt. Lästig ist das zwar, aber ich gehe mit einem guten Gefühl einkaufen oder tewas besichtigen. Ich kann nun die vielen eingezäunten und videoüberwachten Häuser in England besser verstehen: es ist für das gute Gefühl, alles getan zu haben, um sich vor den Bösen zu schützen.
      Zweitens habe ich gelernt, dass ich jederzeit einen solchen Pufferakku hätte kaufen können – ich hätte nur intensiv genug suchen müssen. Erst die Not hat zum Erfolg geführt.

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