Auf Irgendlinks Spuren nach Robin Hood’s Bay

26. April 2412. Diese unerträgliche Hitze! Seit Tagen hangele ich mich von Wasserstation zu Wasserstation, wobei mir jeder Tropfen lieb ist, mit dem ich den Nano-Motor meines solarbetriebenen Velos kühlen kann. Der hochdichte Überlebensanzug regeneriert jeden Tropfen Wasser, den ich ausscheide, und er schützt gegen die UV-Strahlen, so dass ich selbst ohne das teure Gut auskomme. Die alte A171, einst eine sehr stark befahrene Straße wurde nach dem „energetischen Kollaps“ nur noch rudimentär gepflegt. Ein Schlagloch reiht sich ans andere. Bin ich froh, dass ich vor der Expedition Titanfelgen aufgezogen habe. Auch die kleine, handliche Laserwaffe ist mir ein treuer Begleiter geworden. Die Gegend ist nicht ungefährlich. Kaum vorzustellen, dass diese Todeszone einmal ein blühendes, wasserreiches Land gewesen ist, wie die Bloglegende Irgendlink berichtet. Seit tausend Meilen folge ich der Spur, die er vor 400 Jahren „Ums Meer“ gelegt hat. Seine gut erhaltenen digitalen Dokumente hatten es mir im zentralen Museum von Lopabelin angetan, weshalb ich mich auf seine Spur gemacht habe.

Dort, wo für ihn die Nordsee toste, ist jetzt nur noch Salz. Regenwolken gibt es schon seit 200 jahren nicht mehr auf diesem Planeten. Wie sich das wohl angefühlt haben mag, mit purer Muskelkraft durch diese Gegend zu ackern? Irgendlink erzählt von einem alten Bahnstreckenradweg, über den er die einst blühende Stadt Scarborough verlassen hat, aber hört selbst:

„26. April 2012 – Ich verlasse Leven Richtung Norden, spare mir Hornsea, da ich den Radweg, den Emil empfiehlt, den N8, im GPS nicht finde. Alternativ gäbe es nur von A-Strecken durchsetzte Stücke. Hangele mich über Countryroads bis Kelk, wo der N1 wieder beschildert ist. Nach fünf Kilometern setzt Regen ein, der bis zum Abend nicht mehr aufhören soll. Nur notdürftig mache ich alle 10 km mein „Pflichtfoto“, da es immer ein Risiko ist, das iPhone in den strömenden Regen zu halten. Die Regenbilder erkennt man in den Bildtafeln daran, dass sie keinen schwarzen Rand haben. Ich mache für gewöhnlich drei Streckenfotos: ein Basisfoto mit der ProCamera, sowie zwei Hipstamatic-Bilder, eins in blassbunt und eins in Schwarz-Weiß. Die Hipstas lasse ich unter Extrembedingungen weg. Dank des Regens komme ich bestens voran. Es gibt nicht viel zu tun außer weiterzugehen. Selbst im wunderschönen Scarborough, das hoch auf einer Klippe liegt, und das eigentlich Lust macht, in den spielzeugeisenbahnhaften Hafen zu radeln und oppulente Bilder zu machen wie einst in Calais, knipse ich nur zwei iPhone-Bildchen, dann Radweg und raus.

Das Problem ist nicht nur der Regen, es ist auch die sofort einsetzende Kälte, wenn man länger als zwei Minuten anhält. Ausruhen ist nicht. C’est la vie en Tour de France. Weiter weiter weiter.

Über einen alten Bahntrassenradweg verlasse ich die Stadt. Zwar ist er sehr holprig aber ein wunderbares Idyll. Cinderrail heißt er, ist 21 Meilen lang und führt bis nach Whitby. Cinder deswegen, weil die Strecke nicht auf Schotter gelegt wurde, sondern auf Schlacke (Asche), finde ich im Übersetzer heraus. Nun dämmert mir auch, warum Aschenputtel auf englisch Cinderella heißt. Ich hatte den Namen bisher für einen echten, schönen Mädchennamen gehalten.

Klausbernd und Hanne haben nicht zu viel versprochen. Dieses Stück Yorkshire ist England wie aus dem Bilderbuch. Wenn es ein England-Bild gibt, das wir Kontinenter verinnerlicht haben, ohne das Land je besucht zu haben, so hat man uns Yorkshire mit der Schere ausgeschnippelt und als Schattenriss an die Wand projiziert. Die alte Bahntrasse führt einen knappen Meter breit über feine festgefahrene Asche durch Ginster, Raps, Weizenfelder, Hügel, Schafe, Grün, einsame Gehöfte, Gatter, Bäume, die wie Hexenfinger ihre Äste nach dir recken. Rechts hört man die See. Tosend brechende Wellen am Strand. Acht Meilen vor Ravenscar, dem mit 192 m höchsten Punkt der Bahnstrecke, kehre ich in einem Gasthof ein, dem Hayborn Wyke Inn. Trockne meine Füße am offenen Kamin, trinke Kakao und Bier. Bed and Breakfast bieten sie für 38 Pfund. Mein tägliches Gottesurteil lautet: wenn es nach dem Bier mit dem Regnen nachlässt, radele ich weiter, wenn nicht, bleibe ich hier. Der Farmcamping kostet 5 Pfund, liegt aber in einer Pfütze. Vor dem Gasthof stehn zwei riesige, miteinander verbundene Tipis, die Raum bieten für eine Hochzeitsgesellschaftz am Wochenende. Am Zaun lehnen uralte, verrostete Fahrräder, ein Moped, als Deko. Etwas ähnliches wie Sonne, urteilt Gott, weshalb ich mich auf den Radweg schwinge.

Im kaum merklichen Nieselregen ein Schwätzchen mit dem Besitzer des Wyke Inn, der seine Hunde Gassi führt. Das Wetter, woher, wohin, das übliche. Über mehrere Kilometer radele ich in einem kleinen, bis zu 10 cm tiefen Bach, der mir in der Rinne, die die Bahntrasse bildet, entgegen fließt. Sonne wie ein Blitz und dann kommt Nebel. Die Bahnstation Ravenscar liegt im dichten Dunst. Zwei verlorene Wanderer studieren den Busfahrplan, der laminiert an einem Telegrafenmast hängt, nur postkartengroß mit Reißnägeln befestigt. Seltsam im Nebel zu wandeln :-)

Die ohnehin knappe Weitsicht noch einmal beschränkt. Ich muss an die Meseta-Durchquerung denken im Winter 2010. Siebzehn Kilometer. In der Mitte ein Baum, sonst nichts. Hier gibt es wenigstens Bäume, Hecken, Masten, und man hört die See grollen. Auf dem Cinderway sieht man noch die alten Bahnschwellen, die offenbar aus Ziegelsteinen oder was auch immer bestanden haben, orangefarbene, zerfahrene Schwellen im Abstand von etwa einem Yard, was das Radeln sehr holprig gestaltet. Auch ragen immer wieder Steinbrocken aus der Trasse, die ich umfahren muss.

Abwärts nach Robin Hood’s Bay. Wie lange ist es jetzt her, dass diese Trasse eingestellt wurde. Wie muss sich der Lokführer gefühlt haben, wenn er täglich durch den Nebel stampfte, wie die Menschen, die auf den Zug warteten. Es muss einst eine blühende Strecke gewesen sein. Erbaut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ob sich die Erbauer damals hätten vorstellen können, dass Touristen mit Fahrrädern darüber radeln? Dass man nur so zum Spaß einen Spaziergang darauf macht, dass alle Meile eine Parkbank steht, Infotafeln mit historischen Bildern, auf denen sie womöglich selbst abgebildet sind. Der stolze Bahnhofsvorsteher an der Station Ravenscar. Können wir uns heute vorstellen, wie unser Autobahnnetz in ein- zweihundert Jahren aussieht? Wie schnell werden wir fahren, womit werden wir fahren, werden wir überhaupt noch fahren? Wenn man etwas von Menschen geschaffenes nur wenige Jahrzehnte der Natur überlässt, wird es unsichtbar, kaum noch zu erkennen im Nebel der Zeit.“

Bald wird es dunkel. Ich muss eine schützende Umgebung aufsuchen. Den alten Bahntrassenradweg, den Irgendlink einst benutzte, gibt es schon seit dreihundert Jahren nicht mehr. Wie ich im übrigen seine alte Strecke kaum rekonstruieren kann. Vom Verkerhswegenetz der einst pulsierenden Welt sind nur wenige Trassen geblieben, so dass es mir fast wie Hohn erscheint, zu versuchen, Irgendlinks Weg nachzuvollziehen.

Mir graut vor der Durchquerung der großen Salzwüste, die sich zwischen dem Ort, der einst Shetland-Inseln hieß und der Megastadt Bergen gebildet hat. Bergen ist die einzige Stadt des Planeten, in der es noch ab und zu regnet.

So verbleibe ich mit historischem Gruß à la Irgendlink:
Liebgrüß
Euer Knildnegri.

(Anmerkung: Lopabelin ist mit knapp einer Milliarde Einwohnern die größte Stadt meiner Welt. Zusammengewachsen aus den Städten Berlin, London und Paris bildete sich eine verstädterte Zone, die durch ein Kraftfeld gegen die Widrigkeiten der Natur geschützt ist).

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

14 Antworten auf „Auf Irgendlinks Spuren nach Robin Hood’s Bay“

  1. Ich bin verblüfft, wie schnell du voran kommst, lieber Irgendlink. Du radelst Tagesstrecken, die wir mit dem Auto zurückgelegt haben! Du hast das Zeug zum Schreiben, es macht großen Spaß mit dir einen Ausflug in der Zukunft zu machen, „Bravo, lieber Irgendlink,“ rufen die Buchfeen, „weiter so, davon möchten wir mehr lesen!“
    Liebe Grüße aus Cley

  2. Hallo hallo, liiiieber wackerer Irgendlink,

    hier melden sich Siri und Selma, die Buchfeen aus Cley next the sea. Super, Gartulation! Der Master sagte es schon am Frühstückstisch, toll, dass du jetzt einen eigenen Stil gefunden hast. Wir finden deinen Bericht gesehen aus der fernen Zukunft echt unterhaltsam zu lesen. Das ist doch ausbaufähig. Wir beiden Buchfeen würden gern mehr darüber von dir hören, wie das Wesen aus der Zukunft auf diesen berühmten Irgendlink herabblickt, inzwischen Held vieler Romane – als E-Books natürlich – und Comicfigur, eine Legende, von der abends im Schummerlicht alte Frauen ihren Enkel erzählen.
    .
    Feenhauch und trockne Wege, Rückenwind und liebe Begegnungen
    Siri und Selma von Cley
    Der Master ruft gerade aus der Küche: „Liebe Grüße und weiter so!“

    1. Liebe Buchfeen, lieber Klausbernd, die Zukunftsperspektive war geradezu eine Eingebung. Ich werde es aber live, am offenen Herzen nicht gut ausbauen können. Die Sache verlangt nach Planung. Aber mal sehen. Der Weg ist noch lang genug.

  3. liebe siri und liebe selma

    öhm, ich will euch ja nich zu nahe treten und dem master auch nicht. aber das hier muss einfach gesagt sein: irgendlink hat seinen stil schon lange gefunden. :-) er schreibt ja auch schon sehr lange. aber das könnt ihr ja nicht wirklich wissen. darum sag ich das ja hier.

    zugegeben, er entdeckt immer wieder neues, das er in seine texte integriert und ideen hat er immer. ganz verrückte sogar. und das finde ich so klasse wie ihr. ohne entwicklung und arbeit am eigenen stil verkommt die beste schreibe zu leerlauf.

    im gegenteil zu euch hoffe ich allerdings nicht, dass irgendlink zur comicfigur verkommt, oh je. seine texte sind – finde ich – auf einem anderen niveau. gut, dass seine geschichten in ferner zukunft am feuer erzählt werden, das finde ich auch ein schönes bild. :-)

    ach, wir alle haben so unsere ideen, was der irgendlink alles könnte und sollte und müsste. ich hoffe am allermeisten, dass er einfach das tut, was er ganz persönlich tun will. zu viel druck wollen wir ihm aber nicht machen, da seid ihr beide sicher einer meinung mit mir?

    jetzt aber bin ich schon gespannt, was er heute alles erlebt und zu erzählen hat. hoffentlich hält das wetter, das ja, so sagen die meteodienste, allmählich je nördlicher je besser werden soll.

    liebe grüsse ans meer
    soso

  4. Klasse.

    Dieser Ausflug in die Zukunft; oder besser, dieser Ausflug aus der Zukunft in die Vergangenheit, also in die Gegenwart – Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sind doch irgendwie eins, oder? – egal, es gefällt mir außerordentlich gut.

    Milde Sonne und guten Rückenwind wünsch ich.

    Der Emil

  5. Bilder, wie aus einem Traum, Geschichten, die die drei Zeiten verbinden (Emil, das hast du gut gesagt ;o) ) – eine Fangemeinde, die täglich liest und mitfiebert, dem Neuen, dem Anderen entgegen-
    trockene Füße, Wohlgemut und freundlichen Sonnenschein, all das wünsche ich dir, nicht nur für heute…

  6. Fragen, die man sich oft auf Reisen, Ausflügen, Wanderungen stellt: wie war es früher, wie wird es einmal sein? Du hast das hier in eine wunderbare kleine Geschichte verpackt.
    Weiterhin gute Reise, Knildnegri, wünscht Dirgni (lirpa)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

%d Bloggern gefällt das: