7 Uhr Perversfrüh, Albergue Municipal, Leon. Vielleicht der stimmungsmäßig mieseste Morgen der Reise. Ich werde mit meinem natürlichen Hang zum Egoismus konfrontiert. Eine Sache, über die es sich sicher lohnt einige hundert Kilometer wandernd zu denken. Überlege in Astorga abzubrechen und nach Hause zu fahren.
Warum nicht sofort? Leon wäre sicher der bessere Ort für die Rückreise.
In der Albergue trinke ich mit den Rosen und Carlos einen selbst gemachten Microwellenkaffee, verfasse einen offline Artikel zum Thema Zerbrechlichkeit der Welt. Wie schnell sich das Leben wenden kann. Fast wie das Wetter oder die Landschaft auf dem Camino. Alles ist ‚Weg‘.
Verirre mich in Leon, frage nach der Richtung und ein Mann mit einem kleinen Hund führt mich. Etwa zwei Stunden dauert es, um das weite Land hinter La Virgen zu erreichen. Der Weg führt durch urbane Trashlandschaften, für mich ein sehr reizvoller, bunter Weg voller opulenter Bilder, Bauruinen, umgekippte Mülltonnen, Graffities, zerschlagene Schaufensterscheiben, brennende Autos … nanana, Herr Irgendlink, wir wollen doch nicht lügen … keine brennenden Autos. Eine Ölwechselstelle, bei der man offenbar selbst das Motorenöl wechseln kann: drei Gruben mit großen Wannen, in die man das Öl laufen lässt und es wird dann ab und zu kollekiv angezündet. Ich weiß nicht, ob die Anlage noch in Betrieb ist. 1992 sah ich eine ähnliche Anlage am Rand einer kleinen Stadt südlich von Barcelona. Mitten in einer Picknickanlage. Die war definitiv in Gebrauch. Während die Familie sonntags picknickt, wechselt Papa schnell das Motoröl.
Hinter La Virgen führt der Camino durch eine knöchelhoch schlammige Unterführung unter der Autobahn. Der Regen der letzten Tage hat schrecklich gewütet. Man sollte dort, wo auf etwa fünfzig Metern der Asphalt mit gelben Sprüchen und Hinweisen auf Albergues bemalt ist, unbedingt den linken Weg nehmen. Offenbar tobt ein Streckenführungskrieg zwischen den Gemeinden an der N120 und denen an def südlicheren, längeren Parallelstrecke. Ich nehme die Nationalstraßenstrecke bis ich es in San Miguel nicht mehr aushalte, tausche die fehlenden zehn Kilometer im Lärm bis zur angepeilten Herberge in San Martin gegen eine erholsame Strecke durch hügeliges Ackerland und Krüppeleichenwäldchen. Chozas de Arriba und von dort einen breiten Feldweg eradeaus bis nach Villar.
Privatalbergue Tio Pepe. 7 € im Vierbettzimmer, beheizt, sauber, super Matratze. Nur noch Koreaner Han, der sich den Fuß verstaucht hat, ist hier. Abendessen in der Bar der Herberge.
Ich komme zu dem Schluss, dass das Leben doch nicht so zerbrechlich ist, wie ich morgens vermutet hatte (handschriftlicher Artikel). Sage dies, obwohl die Zeichen in der Breitbildglotze, die über allem in der Bar thront auf Verwüstung stehen. Man serviert ein prima Essen für 10 €. Am Tresen sitzt ein Typ mit einem unglaublich grinsenden Gesicht. Ein Mann mit weißem Kragen knackt den Spielautomaten. Hunderte Münzen rattern und der Automat blinkt und trötet Gewinnermusik. In der Glotze blenden sie Liveberichte über die Flutkatastrophe in Andalusien ein. Weinende Menschen, die alles verloren haben. Als Vorspeise gibt es Fleischplatte. Der Mann mit dem grinsenden Gesicht wird beim genaueren hinschauen zum Brandopfer. Er hat weder Lippen, noch Ohren und da er kein Geld hat für den plastischen Chirurgen wird das auch weiterhin so bleiben. Er trägt ein Mütze wie Nicki Lauda. Natürlich ist das Leben zerbrechlich. Der Mann im weißen Kragen füttert die eben gewonnenen Münzen wieder in den Automaten. Im alles überstrahlenden 16:9 Auge läuft eine Kochsendung. Fettgrüne Erbsen mit fein geschnittenen Paprika in Edelstahlwok. Zur Hauptspeise gibt es Fisch. Ich träufele Zitrone darauf und lasse es mir schmecken. Das Brandopfer hat dünne, fast schwarze Ärmchen. Ein Wunder, dass er überlebt hat. Ein Paar mit Kinderwagen kommt herein. Han erzählt, dass er Kinder mag, dass der Qualm im Raum nicht gut sei für Kleinkinder und dass er Arzt sei, 26, auf der Suche. Der Spielautomat meldet sich regelmäßig lauthals zu Wort und blinkt. Der Gewinner im weißen Kragen schwitzt und schuftet. Pudding zum Nachtisch, Regenkatastrophe in Südspanien, eine Schönpuppenberichterstatterin steht bis zum Bauchnabel im Wasser. Das Brandopfer zahlt und geht. Sein Lachen ist echt. Der Weißkragen lässt in Demut die Schultern hängen. Zu guter Letzt trinke ich einen Cortado. Im TV zeigen sie einen Bericht über Valencia: ‚Eine Oase im Todesregen‘. Dicker Mann mit Brusthaaren planscht im Meer. 25 Grad und das Leben ist schön. Da ist einiges zerbrochen an diesem Tag. Aber mehr noch ist heil geblieben
danke für diesen dichten text. zerbrechlich und stark – ich denke, leben ist wohl immer beides. mitten in diesen kontrasten zu sein, hm, das ist wohl die ganz grosse herausforderung! und dabei abstumpfen wäre wohl die wahre hölle.
ich wünsch dir einen guten tag und weg, liebster.
nach lesen deiner schilderungen mehr und mehr illussionslos über diesen weg. in matsch und motorenölgerüchen kommt keine romantik auf.
schönpuppenberichterstatterin – das wort lässt mich alles wieder lieben…weiter, weiter…
gruß von sonja