Das neue, freie Leben ist noch etwas ungewohnt. Schon der heutige Feiertag macht mich ein bisschen nervös. Ich gebe offen zu, dass mir die Lohntackerei einen wunderbaren, psychischen Halt gibt, den ich als Freischaffender nicht habe. Ein Phänomen, das ich in den letzten Wochen auf der Arbeit festgestellt habe, ist das Vergessen oft guter Ideen. Morgens sprudele ich manchmal über vor Ideen. Auf dem Weg zur Arbeit über die Sickinger Höhe scheint mein Hirn auf Hochtouren zu pulsen. Weites abgeerntetes Land im Herbst, in den steilen Tälern schmiegt Nebel an den Waldrändern. Oft hat man bombastische Aussichten bis weit ins Saarland. In Käshofen, zwei Dörfer vom einsamen Gehöft entfernt, ist es mit der Weitsicht vorbei. Und oft auch mit den guten Gedanken. Dort biege ich ab auf die schmale, unfallträchtige Landstraße ins Lambsbachtal. Tal des Vergessens nenne ich es. Die Straße hat keine Markierungen, in dieser Jahreszeit liegt nasses Laub – Bauernglatteis genannt – darauf. Sie windet sich wie ein Wurm. Hinter jeder Kurve lauern Gefahren. Ich muss hochkonzentriert sein. Schon ein paar Mal hätte es beinahe gekracht. Und ich habe schon mindestens 3 Unfälle dort gesehen. Die Vernunft sagt mir, dass das Tal des Vergessens nur deshalb so vergesslich macht, weil mein Geist nicht friedlich vor sich hin trudeln kann, denn er wird beansprucht, den Körper in den Wachsam-Modus zu versetzen. Und wenn ich dann auf der Arbeit ankomme, am anderen Ende dieses Wurmlochs, bin ich selbstverständlich wie verwandelt. Dann warten die lieben Kollegen auf mich. Und es werden die Tacker sprechen. Eine laute, mantrische Arbeit, die zwar den Gedanken wieder freien Lauf lässt. Ich phantasiere oft einfach so vor mich hin und habe die ein oder andere gute Idee. Aber wenn ich sie nicht aufschreibe, werde ich mich schon nach wenigen hundert Tacks nicht mehr daran erinnern. Manchmal tippe ich ein gutes Wort ins Notizbuch des iPhones, manchmal kritzele ich etwas ins Papiernotizbuch, das mir fürs schnelle Merken zwischendurch ein guter Genosse ist. Aber die meisten Gedanken, die ich während der Arbeit hege, wäscht der Mahlstrom des Vergessens dahin. So dass ich zwar morgens passagenweise Blogartikel denken kann, und mir auch vornehme, sie abends zu schreiben. Aber solch ein Tackertag geht nicht spurlos an mir vorbei. Abends bin ich müde und leer. Ja. Leer vor allem.
Ich glaube, die Art wie wir Menschen in Deutschland leben, ist nicht förderlich für die Kreativität des Einzelnen. Manchmal habe ich den Eindruck, Kreativität ist überhaupt nicht erwünscht. Gar vermute ich, dass wir uns im täglichen Revierkampf der Kreativität befinden; dass man, wenn man selbst kreativ ist, die Kreativität der Anderen zurück drängt, weil einfach das Revier für’s Kreativsein nicht groß genug ist. Natürlich hören wir während der Arbeit in der Lohntacker-Werkstatt Werberadio. Ein interessantes Phänomen. Tagein tagaus die gleichen Lieder, die gleichen Slogans, die gleichen einfachen Gewinnspielchen; heimlich reiben sie dir ihre Parolen zwischen die Hirnwindungen. Kauf! Und untermalen das Ganze Gewerbe mit eingängigen Popsongs. Nachts dudeln mir die ewig gleichen, seichten Lieder im Kopf. Es ist fast, als würden sie andere, kompliziertere Dinge in mir überschreiben oder ersetzen. Ich glaube, wir Menschen sind für das Einfache gemacht. Für Leichtes, statt für die schwere Kost. Schwere Kost ist so anstrengend, dass man sie nur in kleinen Häppchen genießen kann. Deshalb gibt es so viel einfache Musik im Radio, so viele seichte, nichts bedeutende Nachrichten, Gesellschaftstratsch und all das. Aber es ist genau diese institutionelle Kreativität, die die Kreativität des Einzelnen zurück drängt. Kommt dann noch ein angezüchteter Minderwertigkeitskomplex hinzu, hast du die Menschen dort wo du sie haben willst: rosiger Lachs im Fischteich des Konsums.
Ich bin noch immer verseucht von den wochenlangen täglichen acht Stunden leichter Radiokost. Mein Geist ist angereichert mit dem Mist. Morgens erwache ich mit Pop-Liedern im Kopf.
Die ganze letzte Woche habe ich damit verbracht, über dieses Phänomen nachzudenken. Manche meiner LeserInnen können es vielleicht nachvollziehen, weil auch sie zu den Ganztags-Werberadiohörern gehören. Andere könnten es auf sich nehmen, es einmal auszuprobieren?
Empfehlenswert ist es nicht.
Die Zeichen, die auf mich eindringen sind eindeutig: wir versuchen uns gegenseitig in dieser Gesellschaft zu Sklaven zu machen. Die „Tausend Sklaven der Freiheit“, schrieb ich schon 1990: Ein Kreativer Mensch, der sein Buch, seine CD oder sonst ein geistiges Produkt veröffentlicht, schart mit seiner „Tat“ die Massen um sich, schlimmstenfalls und so ist es in der Popindustrie, macht er sie zu willenlosen Sklaven, mit seinen einfachen Tralala-Parolen überschreibt er ein Teil der Kreativität in ihren Köpfen und kriegt obendrein noch Geld dafür.
Mit dem letzten Update der iPhone-Software hat es ein Games-Programm in den Mini-Computer gespült, welches fest ins System integriert ist. Das Programm lässt sich, wie alle System-Programme, schwerer entfernen, als die Programme, die man sich freiwillig aufs iPhone lädt. Seit ich den Minicomputer von Apple besitze, bin ich hin und her gerissen. Eine wahre Hassliebe. Zum Einen ermöglicht es mir, meine Studien fürs Live- und Direktbloggen von unterwegs voran zu treiben. Zum Anderen habe ich erheblich mit den besitzergreifenden Knüppeln zu kämpfen, die mir der Konzern unter die Füße wirft: am besten würde ich ihnen meine Kreditkartennummer verraten, mich wie jeder brave Nutzer fest im Shop registrieren. anstatt auf die nicht sehr einfache Möglichkeit zurück zu greifen, per gekaufter Guthabenkarten das iPhone aufzuladen. Es ist natürlich klar, dass Nutzer, die ihre nahezu unlimitierte Kreditkarte als Legitimation angegeben haben, den Umsatz besser fördern, als solche, die ihren Einkauf auf z. B. 15 Euro mit einer Kaufkarte beschränken. Das ist wie in echten Läden auch: wer nur 15 Euro dabei hat wird nur 15 Euro ausgeben können. Wer mehr hat, bleibt an den schönen Auslagen hängen und kauft auch mehr. Selbst ich, der ich mich für vernünftig im Umgang mit dem Konsum halte, gehe allzu oft mit mehr aus einem Geschäft, als ich eigentlich kaufen möchte.
Ich glaube, wenn alle Menschen nur das kaufen würden, was sie wirklich wollen, wäre unsere westlich zivilisierte Konsumgesellschaft am Ende.
Eines Morgens auf der Sickinger Höhe der Erkenntnis sah ich die Konsumentenwelt als geschlossenes System, erkannte es sogar als meine Bürgerpflicht an, zu konsumieren. Ich arbeite, um mir etwas kaufen zu können, das ich nicht brauche und kaufe Dinge, die ich nicht brauche, um meinen eigenen Arbeitsplatz zu erhalten.
Und die Revierkämpfe der Kreativität? Mit diesem Artikel, den du offensichtlich zu Ende gelesen hast, habe ich dich davon abgehalten, selbst einen Artikel zu schreiben oder ein Bild zu malen. Du hast es freiwillig getan, das weiß ich. Vielleicht ergibt sich aus dieser Situation eine weitere Komponente der Kreativität – die positive Seite: sich gegenseitig zu inspirieren und voran zu bringen, anstatt einander zu versklaven zu versuchen.
Hammer, dieser Text! danke!!!