Nachmittags gerate ich in Hektik, wie das oft geschieht kurz vor der Reise. Schäbig vernachlässigt habe ich sämtliche Vorbereitungen. Nichts ist gepackt. Die Künstlerbude ist in einem abscheulichen Zustand. Einen leisen Anflug von Ordnung vermittelt jedoch die Kiste mit schmutzigem Geschirr, die ich schon vor ein paar Tagen gepackt habe. Da ist kein Byte Speicherplatz mehr übrig und die Essensreste sind dermaßen verwittert, dass die Kiste aufgehört hat zu stinken. Überall liegen Klamotten. Auch das hat einen Vorteil: man sieht den Schmutz auf dem Boden nicht. Es ist an der Zeit, das Dreckloch endlich zu verlassen. In der Hoffnung, nach 14 Tagen auf Europas Straßen mit der nötigen Kraft zurück zu kehren, diesen abscheulichen Zustand zu ertragen. Ich habe lange gewartet, Prognosen zu stellen, wohin die Reise geht. Aus dem Fauxpas (mit Pauken und Trompeten angekündigte Reise durch Italien) vor über einem Jahr habe ich meine Lehre gezogen. Du sollst keine Zukunftsvisionen in die Öffentlichkeit schleudern, weil dir das gemeine Leben einen Strich durch die Rechnung machen kann. In der Tat zickte der marode Rücken Anfang der Woche wieder gehörig, so dass sich Journalist F. zu spitzbübischen Kommentaren verleiten ließ: „Das Schicksal will nicht, dass du das Land verlässt, das Schicksal braucht dich hier zu Hause.“ Und so weiter. Was mich ein bisschen bestürzte. Aber heute steht der Rücken wie eine Eins. Andere Dinge gehen hingegen schief. Mein Zeitplan ist völlig aus dem Ruder. Das Rad sollte fertig gepackt unten im Atelier stehen, damit ich mich um 14 Uhr morgen nur noch draufsetzen muss, und losradeln. Nichts ist gepackt. Die neue Packtasche passt nicht an den Lenker. Alle Akkus sind leer. Wo die Ladegeräte sind, weiß ich nicht. Geld habe ich noch nicht umgebucht und wo die vielen Schweizer Franken sind, die ich einmal besaß ist auch unklar.
Dass man sich mit solchen Kleingeistigkeiten herumärgert. Einst träumte ich in heißem Sommer, nackt das Haus zu verlassen und dem Rinnsal bis zum nächstgrößeren zu folgen, mich entlang des Bachlaufs durch die Stadt zu mogeln und unter Steinen nach Maden zu suchen, falls ich hungrig bin. Weiter weiter weiter würde ich den Bächen bis zu Flüssen folgen und den Flüssen bis zum großen Strom, der sich irgendwann ins Meer ergießt. Linksrum dem Strand folgen, in der Gewissheit auf keiner Insel zu leben und so, das fabulierte ich in meiner Phantasie, könnte ich gut und gerne alle Orte, die auf diesem Planeten am Wasser liegen sehen. Splitternackt, reingewaschen durch die Kraft, die mir das freie Wandern in dieser Welt gibt.
Mit dem Computer bin ich in die Scheune umgezogen. Hellhöriges Teil, riesengroß, ein bisschen staubig. Hier ist man drinnen und draußen zugleich. Hört Wasser, das nach dem Platzregen am Morgen so langsam das Dach verlässt und in den Löchern der Dachrinnen lauthals zu Boden fällt.
Ich bin ungepackt, okay, aber der Geist der Freiheit lebt. Weiß noch nicht, wie ich morgen loskomme (nackt keinesfalls) und wann, aber im Prinzip ist alles ganz einfach. Ich muss mich nur aufs Rad setzen und losfahren.
Da dies der letzte Eintrag sein wird, den ich vor der Reise schreibe, hier eine kurze Beschreibung der Wegidee: Längs durch die Vogesen über die etwa 80 km lange Route des Cretes, welche die Franzosen einst anlegten, um das umstrittene Elsass besser beobachten zu können bis nach Belfort. Dort weiter nach Süden, eventuell Freund Marc in Biel/Bienne einen Besuch abstatten und mich dann ins perfekt organisierte Schweizer Fernradwegenetz einspeisen (auf er Route liegt Bern und der Grenzensee ;-)). Dann wirds hart: Alpen, eine fünfundzwanzigjähriger höher als die Andere. Nach der Aareroute links auf die Rhoneroute bis zur Rheinroute und dann südlich abzweigen in die Graubündenroute. Danach kann eigentlich nur noch Italien folgen. Am liebsten sähe ich mich am Ende der Reise suchend im Labyrinth von Tscherms.
Wohin die Reise tatsächlich führt, weiß ich nicht.
Morgendliche Spruch: Das Leben ist kein Tackerhof.
der gerzensee freut sich grenzenlos auf deinen besuch … ;-)