Wie im Artikel zuvor gesagt: zu viele Geschichten. Du kannst sie nicht alle retten.
Über den Klavierstimmer könnte ich etwas schreiben. Eine sozialkritische Betrachtung von Klomann F. M., sowie eine darwinistische Beleuchtung des Bühnengeschehens beim Soundcheck wichtiger Jazzbands, die hauptsächlich aus jungen, gutaussehenden Frauen bestehen. Journalist F. gab kürzlich eine Kurzbesprechung moderner Kunst im Anblick des Farbtests, den man auf die Betonwand des Neubaus der Toiletten gepinselt hatte. Sicher ganz großes Kino. Über die Zusammenkunft zu vieler Schweden bei reichlich Bier ist zu berichten, sowie eine Sequenz mit Teufel Ro. (ich habe die Sache im Artikel „Die Nullstäbe der Gesellschaft“ schon erwähnt; gestern zitierte mich Ro. in sein Büro).
„Mann, Mann, Mann, das ist ein Haufen Arbeit, das alles aufzuschreiben“, dachte ich eben, im Atelier sitzend, durch die große Scheibe in den Garten schauend. Ruhig ruht das Auge auf dunklen Wolken, deren Regenschleier die knospenden Äste der Bäume an der Südgrenze des einsamen Gehöfts kitzeln. Ich erinnerte mich einiger Zettel, auf denen ich in Listenform weitere Geschichten skizziert hatte, auf dass ich sie irgendwann einmal ins Reine schreibe. Die Zettel liegen zwischen Kontoauszügen und Werbeprospekten irgendwo in der Wohnung. Am Sichersten sind werdende Geschichten aber in meinem braunen, lederbezogenen Notizbuch aufgehoben. Zwar könnte niemand etwas mit dem Gekritzel anfangen. Eine werdende Geschichte in meinem Notizbuch oder auf den Fresszetteln ist oft nur ein Satzfetzen, etwa: Klavierstimmer, Ringelpulli, weiß, schwarz, Oktave.
Mir eröffnet sich aus solchen Worten aber eine ganze Geschichte. Die Hauptarbeit, um Geschichten zu schreiben, ist das Schreiben an sich. Das Ausformulieren. Ein weiterer Arbeitsschritt (der erste eigentlich) ist, Geschichten zu erleben, oder sie sich auszudenken. Am Liebsten sind mir Hybridgeschichten, bei denen das Erlebte mit dem Erdachten verschmilzt, oder man das Erlebte auf eine andere Ebene seines Denkens projiziert und seltsame Kongruenzen erkennt.
„Wie erkläre ich das denen da draußen?“, fragte ich mich, noch immer durch das Atelierfenster starrend. Ich meinte, einen Streifen Sonne zwischen den Wolken zu erkennen. Was für ein Aprilwetter.
„Ich könnte ja einfach behaupten, ich hätte geträumt heute Nacht, dass ich in einem Schiff auf hoher See unterwegs bin – nee, kein Schiff, besser ein selbst gebautes Floß, auf dem ich den Ozean der Liebe überquere auf der Suche nach der kleinen Insel T., welche dem, der sie findet, ewige Liebe und ewiges Glück gibt. Genau, so mache ich es. Am Horizont sehe ich ein Kreuzfahrtschiff in Not. Flammen schlagen über das Deck und das Ding hat mächtig Schlagseite. In wenigen Minuten wird es sinken und ich bin der Einzige, der jemanden retten könnte. Segel setzen, nichts wie hin. Abscheuliche Szene: Ertrinkende recken im Todeskampf die Arme aus dem Wasser, verschlucken sich, verschwinden wie immer“.
Der Traum würde irgendwann eine Wende nehmen, ziemlich unmateriell und transzendent. Die See hieße Meer des Vergessens und die Ertrinkenden seien nichts anderes, als Geschichten, im Begriff, aufgeschrieben zu werden. „Du kannst sie nicht alle retten, aber den Ein oder Anderen, den könntest du an Bord nehmen“. Ich stellte mir vor, dass in meinem Traum der Grund der See überzogen ist von nicht geschriebenen Geschichten, wie sie, von Korallen bewachsen, von Algen überwuchert, darauf warten, dass Schatzsucher sie eines Tages heben.
Als ich den Ozeantraum zu Ende gedacht hatte, wurde mir klar, dass ich soeben eine Geschichte vor dem Ertrinken gerettet habe.