Leistungsbürgertum

Ein Tag geprägt davon, Dinge zu reparieren, Wogen zu glätten, weil eben doch das eine oder andere System zusammen gebrochen ist. Für die neue Stadtbusseite hat mir ein wildfremder Webmaster die Note Eins gegeben. Das hatte ich auch nicht anders erwartet.

Diese ewige Telefonie.

Abends Treffen mit dem Kunstclub. Man besprach die Jubiläumsausstellung. Da wurde mir bewusst, wie sehr ich Grenzgänger bin. Ich kenne fast alle Welten und fühle mich im Pennermillieu ebenso wohl wie in der Hotvollee. Das Pennermillieu ist mir sogar lieber, weil es ehrlich ist und sich die Menschen ohne Masken begegnen. Am Morgen dachte ich: Wer früh scheitert, erspart sich einige Mühen.

Nicht dass ich vor hätte zu scheitern, denn das Anliegen des modernen Leistungsbürgers ist es, zu funktionieren, alle zufrieden zu stellen und das Schiff um die rauhen Klippen der Diplomatie zu segeln.

Vielleicht bin ich ein Leistungsbürger. Trotzdem sah ich die Welt. Das Elend. Das Scheitern. Gestalten die aufgegeben haben begegneten mir am Canal du Midi, auf den Iles des Saintes, in Barcelona und sogar in Speyer und sonstwonoch. Sie alle trugen Geschichten in sich, die sich von meiner eigenen Geschichte nur darin unterscheiden, dass sie einen Schlussstrich gezogen haben, ich nicht.

Ein schlimmes Bündel, das man trägt, wenn man weiter macht, obwohl es sinnlos erscheint. Das ist eine Frage des Horizonts und der Neugier, was sich dahinter verbirgt, des immer wieder auf die Schnautze fallens, sich aufrappelns, weitermachens. Der Gescheiterte sieht den Horizont und denkt sich, oh, ein Horizont, na und. Der Nichtgescheiterte geht darauf zu und wird mit jedem Schritt neugieriger, was sich dahinter verbirgt. Somit gibt es auch viele Gescheiterte mitten im Leben. Menschen, die einfach stehen geblieben sind. Gefestigter Meinung erfreuen sie sich an einem scheinbar konsistenten Weltbild.

Ich gebe zu, Dinge festzuschreiben und zu akzeptieren, kann das Leben ungemein erleichtern, ja, für manchen sogar erst erträglich machen. Die wilden Berber auf der einen, der stillstehende Leistungsbürger auf der anderen Seite haben beide das gleiche Problem: sie stehen still. Nichts bewegt sich. Es herrscht die Stille, die einen das Leben ertragen lässt.

Vielleicht kommt auch für mich der Tag, an dem ich aufhöre zu träumen, zu beten, Ziele zu erreichen? Für welche Seite werde ich mich dann entscheiden?

Der Cycliste Chanteuer, Michel P., ist so ein seltsam gescheiterter Mensch auf der anderen Seite. Mit ihm kann ich mich identifizieren. Ich traf ihn vor sieben Jahren am Canal du Midi, die Pyrenäen reckten im Süden und ich wollte schauen, was dahinter ist. Michel P. war seit Jahren mit Hund und Fahrrad und Gitarre unterwegs, so sagte er, wobei er sich immer am Kanal aufhielt. Im Sommer zöge er nach Westen, sagte er, im Winter ginge er wegen der Kälte nach Osten ans Mittelmeer. Ernähren würde er sich von gelegentlichen Jobs auf Märkten in Castelnaudary oder Bordeaux, er sänge hin und wieder und die Leute gäben ihm Geld.

Wie er in diese Situation gekommen war traute ich mich nicht zu fragen. Er habe eine Schwester in Autun. Dort muss wohl all das geschehen sein, was ihn letztlich hier unten an den Kanal getrieben hat.

Er schien glücklich und froh, sich mit mir unterhalten zu können.

Nun, da ich dies schreibe, kommt es mir vor, als habe ich sein Ost-West ausgerichtetes Leben von Norden nach Süden durchstoßen. Der Leistungsbürger in mir hat aus Lust am Abenteuer mal kurz den Penner simuliert und ist nach Andorra geradelt. Michel P. ist seit sieben Jahren als seltsame Gestalt in meinem Kopf, von der ich gerne mehr wüsste und nur an Hand meines eigenen Lebens versuche zu rekonstruieren, wie es so weit kommen konnte, dass er aussteigt und kein Dach über dem Kopf hat und von Saucisson Sec und Baguette lebt. Er und sein Opinell und der Hund. Wovon er wohl geträumt hat in seinem früheren Leben, dem wohl geformten? Welche Niederlagen er erlitten hat, bis er eines Tages sagte, genug, ich steige aus?

Mir kommt das auch manchmal in den Sinn. Und stets denke ich an Michel P. Ob diese oder jene Niederlage, die ich erleide wohl ein Archetypus ist, der die Menschen dazu bringt, den schmalen Grat in die „falsche“ Richtung zu verlassen? Sei es eine Liebe, die zu Ende geht, oder ein Job, den man verliert. Wir Leistungsbürger stehen näher am Abgrund, als uns lieb ist. Ein falscher Schritt und wir stürzen ab.

Ich bin schon so vielen dieser seltsamen Gestalten des Straßengrabens begegnet. Sie alle haben früher ein ganz normales Leben geführt. Menschen wie Du und Du und ich. Manchmal glaube, ich bin wie sie. Eben im Frühstadium. Ein Tag vor dem falschen Schritt. Nur noch ein winziger Faden, genannt Ziel hält mich. Wenn das Ziel nicht mehr ist …

Vermutlich war der heutige Tag des Cycliste Chanteur dort im Süden leichter als meiner. Schließlich musste ich Wogen glätten, Menschen beschwichtigen, und dass ich eine Eins gekriegt habe, naja, das ist doch nur eine Erfindung des Leistungsbürgertums.

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