Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier

Landkartenausschnitt in blassen bläulichen Farben. Finnland, Norwegen und Schweden. Von Helsinki folgt eine blaue Linie der Ostseeküste und führt schließlich bis zum Nordkap. Einige rote und blaue Stecknadelpunkte befinden sich am Verlauf der Linie

Privatartikel oder nicht Privatartikel? Ich sitze zwischen den Stühlen. Im Regelbetrieb, daheim, in der Künstlerbude, den Holzofen wärmend im Rücken, hacke ich seit einem Monat wilde, unkorrigierte Artikel, damit ich mich wieder ans tägliche Schreiben gewöhne. Ich bin schnell, die Texte sind voller Vertipper und unförmiger Formulierungen, stelle sie auf „privat“, was ganz praktisch ist in einem WordPress-Blog. Ich kann ja nicht jeden Tippfehler auf die da draußen, auf Dich, Dich und Dich loslassen. Zudem unkoordiniertes Textwerk mit springenden Gedanken von diesem zum jenem, denen jegliche Regie abhanden gekommen ist.

Ich muss schon sagen, so eine Reise ist die beste Regie für Gedanken, für das Aufschnüren von Erlebtem und Gedachtem auf eine imaginäre Perlenkette, die es gibt. Es ist die Magie des zurückgelegten Wegs, die die Geschichte wie von selbst formt. Wie ein Geländer, das dem Ängstlichen Halt gibt, um eine Treppe hinab zu steigen.

Ich habe meine Projektkarte für das Vorhaben, ans Nordkap zu radeln mittlerweile vollständig überarbeitet. Der ursprünglich angelegte Plan, von zu Hause durch Deutschland, Dänemark und Schweden bis nach Norwegen zu radeln ist passée. Man findet ihn noch in nicht eingeblendeten Kartenebenen – falls also jemand mal eine Strecke von der Pfalz bis ans Nordkap benötigt, voilà.

Unterwegs an den elsässischen Kanälen grübelnd wurde mir bewusst, wie mächtig die Möglichkeit ist, die Reise vorzeitig aufzugeben, wenn ich daheim starte. Ich schätze, dass ich es nicht einmal bis Hamburg schaffen würde. Ich vermute – ich kenne mich ja – dass ich spätestens in Bad Karlshafen das Projekt umwidmen würde in ein /Hessen. Fluchtgeschwindigkeit nicht erreicht, Rücksturz zur Erde rings um den Vogelsberg.

Wenn ich es wirklich noch einmal schaffen möchte, ans Nordkap zu radeln, muss ich schnell so viel Strecke zwischen mich und daheim bringen wie möglich. Mich gewaltsam hinaus katapultieren. Das ist zwar anstrengend, aber vermutlich der einzige Weg. Ich erinnerte mich an die Reise von Fediversefreundin Bahnhofsoma im vergangenen Jahr: Gibt es da nicht eine Fähre von Deutschland nach Finnland? Und eine Zugverbindung von der Pfalz an die Ostsee? Gibt es. Schnell war die Verbindung gefunden: per Bahn via Mannheim und Hamburg nach Travemünde und mit der Fähre, die um zwei Uhr nachts ablegt die restlichen etwa 1200 Kilometer bis Helsinki erschaukeln.

Zack, drin. Wie geboren werden, nur noch brutaler mit all dem Gepäck am Bein und den Unannehmlichkeiten, die das eingepferchte Reisen insbesondere mit der Bahn so mit sich bringt. Für etwa 300 Euro kann ich es innerhalb von 48 Stunden von daheim bis Helsinki schaffen.

Es dauerte ein paar Tage, bis mir der Plan unausweichlich schien, ich die Kartenebenen des Norwegenplans durch die des Finnlandplans ersetzte. Seit gestern geht es rund mit der Planung, habe ich die Strecke, meist auf Eurovelo-Routen bis zum Nordkap grob skizziert, forsche ich mit dem Mauszeiger auf der Landkarte nach Sehenswertem und Einkaufs- und Zeltmöglichkeiten. Ich nutze für die Planung sowohl meine Umap, in die ich die Punkte eintrage, als auch Googles Map und Satellitenbilder und die Streetview. Es ist erstaunlich wie dreidimensional die Erforschung auf der Landkarte ist. Als ich eben das Museum „Fanjunkars – the House of Aleksis Kivi“ in meine Karte eintrage wird ein weiterer Aspekt des Reisens bewusst. Ich bin längst unterwegs. Die Grenze des Unterwegsseins zum Nichtunterwegssein verschwimmt. Ich könnte sozusagen auch zu Hause bleiben und ein reines Sofaforschungsprojekt gestalten. Ohne Stechmücken, Salz im Haar und Schärengartenschwitzerei. Schon bemühe ich Wikipedia, wer denn dieser Alexis Kivi überhaupt war, schon schaue ich mir die Bilder aus dem Museum an, schon sehe ich das Schlafzimmer des Mannes, der einst den ersten nennenswerten Roman in finnischer Sprache geschrieben hat, schon beneide ich das Archiv und stelle mir vor, wenn es einmal ein Irgendlink Museum geben sollte, dann wünsche ich mir auch für mein Bett eine Absperrung aus rotweißem Flatterband, damit die Museumsgäste sich nicht respektlos hinein legen.

Ich schmunzele, setze in meiner Umap den Punkt für die Sehenswürdigkeit „Alexis Kivi-Museum“ und weil man den Punkten jewede Information in Text und Links mitgeben kann, schreibe ich ins Textfeld den Link zum Wikipediaartikel und ein paar Zeilen – erwähne die Sache mit dem Flatterband, achwas, plötzlich merke ich, dass ich ins Plaudern gerate und dass das Textfeld dieses Markers ein ganzer Blogartikel werden könnte, den ich dem Datensatz mitgeben könnte. Welch Macht in diesem simplen Mapping-Tool steckt und wie kreativ man es künstlerisch und literarisch einsetzen kann! Das ist Appspressionismus at it’s best. Vermengung von Karten, Bildern, Informationen jedweder Art, Datenbankeinträgen mit Geokoordinaten und eigenen und fremden Texten und eigenen und fremden Bildern und Routen – welch ein Reichtum! Irgendwann denke ich mir mal ein kollaboratives Umap-Projekt aus, denn das ließe sich ja auch gar prima realisieren. Wir stehen gerade mal am Anfang dieser jungen Schöpfung.

Es gibt schon einige zarte Umsetzungen der Umap-Kunst. Vermutlich sind Zweibrücken-Andorra und UmsLand Bayern die am besten ausgearbeiteten. Ich muss mal eine Liste anlegen. Viele meiner Umap-Projekte sind unvollständig, zudem auf zwei verschiedene Umapserver verteilt.

Aber aber, Herr Irgendlink, muss doch vorwärts gehen. Manchmal denke ich an den längst verstorbenen Autor Michael Holzach (Deutschland umsonst), der so voller Lebensdrang war, dass er sagte, schreiben könne er immer noch, er müsse erst einmal erleben. Jaja. Hatte er recht. Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier.

Ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Dass ich mir nicht sicher bin, ob ich diesen Artikel ins Unveröffentlichte oder ins Veröffentlichte einsortieren soll.

Der Tag ist noch jung. Die Karte wächst.

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In meinem Onlineshop gibt es jede Menge Kunstwerke zu kaufen. Meist sind sie unterwegs auf der Straße ins Netz gegangen. Oft „appte“ ich sie schon während der Reise.

Kunstmaschine

Schräg aufgenommenes Foto, Horizont oben rechts nach unten links. Eine Frühlingsbild mit grün und blauem Himmel, keimenden Bäumen. Auf dem Teer der Straße der Schatten eines fotografierenden Reiseradlers.

In dem „Knie“, das der Rhein-Rhone-Kanal mit dem nördlichen Colmar-Stichkanal bildet befindet sich ein frisch geeggtes Feld, gewiss mehrere Hektar groß, so viel ist in der Abenddämmerung zu erkennen. Es reicht von den die Kanäle säumenden Heckengebieten bis zu anderen Heckengebieten, durchzogen von kleinen Inseln aus Hecken, aber im Grunde ist es ein gut bearbeitbarer Acker, den man getrost mit einem GPS gesteuerten Gefährt bearbeiten könnte. Auf den Zentimeter präzise ließe sich die Saat ausbringen; vermutlich könnte man die kleinen wilden Inseln aus unwüstigen Hecken per App einprogrammieren, seine Hängematte zwischen zwei Robinien aufzäumen und gemütlich darin baumeln, während der Traktor stur seine Arbeit verrichtet.

Von Süden steht ein strammer Wind aus Basel, der den Radreisenden unweigerlich Kanal nordwärts drückt. Ein Lüftchen, das ihn umschmeichelt und ein Gefühl von Aufgehobenheit und des immer so weiter Machens aufkommen lässt. In der Tat könnte ich mir gut vorstellen mich weiter treiben zu lassen, zwar schmerzen die Oberschenkel. Eben an Kunheim vorbei radelnd hatte ich ein bisschen Mühe, das linke Bein während der Fahrt am Krampfen zu hindern. Die Banane, die ich mir bei einer Pause gegönnt hatte, zeigte schon Wirkung, sowie ein Pülverchen Magnesium, das man mir in einer Apotheke vor einigen Wochen als Dreingabe zum Kauf schenkte und das ich in die Trinkflasche gemischt hatte.

Ja, doch, ich würde es mir zutrauen, in die Nacht zu radeln, stets dem fein geebneten Kanalradweg zu folgen. Bis Straßburg sind es noch etwa sechzig Kilometer. Der Wind solle sogar noch aufstarken und er solle den ganzen nächsten Tag vorhalten aus südlicher Richtung und erst am Donnerstag sich gen Osten wenden, gegen mich, doch dann wäre ich längst daheim. Ich Mensch ohne Ruhewillen, ich kleiner, verrückter Hobby-Transcontinental-Radler. Nur noch radeln und denken und radeln und nichts tun, sich nicht auf die Wehwehchen im Körper konzentrieren nach Möglichkeit, denn, es geht doch, trotz Muskel und Po und Müdigkeit, das Radel nebst Gepäck voranzutreiben. Das einzige Limit ist der Kopf und was er aus der Reise macht. Ja ja, in diesem Moment am „Knie“ des Rhein-Rhone-Kanals, nordwärts vom Wind umspült, könnte ich mir durchaus vorstellen, die Nacht zu durchradeln bis zur tiefsten Schwärze und wieder heraus. Der Kanalradweg führt schnurgerade und topfeben und in nördlicher Richtung sogar tendenziell abfallend nach Straßburg und auch durch Straßburg hindurch, das sind etwa fünf Kilometer Stadtradeln, etwa 15 Kilometer in der Agglomeration, kann man den Radwegen entlang der Gewässer folgen, ohne auch nur einem Auto zu begegnen.

Ich bin müde. Auch. Vorankommenswillig. Auch. Schlafwillig. Auch. Aufgekratzt ein bisschen. Das stete Vorantreiben im Wind aus Süden macht die Aufgekratztheit nicht besser, aber auch Schlaf, weiß ich, ist nicht so leicht zu finden, wenn man aus dem laufenden Betrieb des Radreisens abrupt stoppt, das Zelt aufbaut, versucht, sich außer Betrieb zu nehmen.

Der Lagerplatz am Kanalknie ist verlockend. Neben dem frisch geeggten Acker liegt ein Stück Brache mit einem Fleckchen Wiese, nicht zu hohem Gras. Vom Kanalweg führt eine Art Zufahrt ein paar Meter hinunter aufs Plan. Gerade genug Platz zum Zelt aufbauen. Ich stoppe, stelle das Fahrrad ab, muss ohnehin die Blase leeren, was dem stoischen Radfahren stets einen seltsamen abgehackten Takt alle paar zig Minuten verleiht, man aus dem Takt gerät. Auch das Hirn schaltet ab. Oder um. Oder an. Die Sorgen der zu durchradelnden Nacht liegen plötzlich vor mir. In Straßburg neige ich dazu, mich zu verirren. Es läuft selten rund, wenn ich die Stadt durchquere, selbst dann nicht, wenn ich mich an die eiserne Radreisendenstraßburgdurchquerungsregel halte: „Bleib immer am Wasser, dann kommste durch.“ Kurzum, mir graut ein bisschen davor, um elf Uhr abends nach Straßburg reinzuradeln. Es gibt im Süden der Stadt einen Ort am Radweg bei einem kleinen Platz in der Nähe der Vaubanbarriere, die das Gewässer der Ill reguliert, an dem ein paar Bänke stehen, auf denen immer seltsame Typen herumlungern. Meist Jungs oder Männer, die die Vorbeifahrenden beäugen, Musik hören, plaudern. Zumindest kommt es den Vorbeiradelnden und Flanierenden so vor, als werden sie von diesen Gestalten beäugt. Zumindest kommt mir das so vor. Mit der Vorstellung, nachts an der Stelle, sie ist nur etwa zweihundert Meter lang, ein Engpass ein bisschen, beäugt zu werden, womöglich als potentielles Überfallopfer identifiziert zu werden, fällt mir die Entscheidung, nicht in die Nacht zu radeln leicht.

Die Krämpfe in den Beinen werden auch nicht besser, da kann ich noch so viele Bananen essen und Pulver in Wasser auflösen.

Ich baue das Zelt auf. Esse Brot, Käse, Wurst, trinke Saft, später ein Bier. Mühsam nur kann ich in den Schlafsack kriechen. Muss sehr vorsichtig sein in den Bewegungen wegen der Krämpfe. Dämmere. Schlafe vermutlich. Löchrig. Unruhig. Einen Kilometer südlich ackert jemand mit dem Traktor. Das Brummen lässt sich auch durch Ohrenschutz nicht wegdimmen. Die Kirchturmuhren ringsum schlagen. Elf und Zwölf erlebe ich noch, später muss ich wohl geschlafen haben.

Der Reisetag war … nunja … anders als erwartet. Ich mache die Tour „Mit dem Rad zur Liebsten“ ja nicht zum ersten Mal und kenne somit die Strecke fast in- und auswendig. Seit 2016 absolviere ich die Strecke von der Pfalz durch Lothringen, das Elsass in den Aargau nun schon mindestens ein Mal pro Jahr mit dem Fahrrad. Es ist mein Tribut, den ich zum Klimaschutz leiste und auch mein Tribut, den ich meinem Körper zolle. Ich hatte es einmal als den „jährlichen Herz- und Nieren-Check“ bezeichnet, also eine Art waghalsiger Selbsttest, bei dem der Körper und die Organe zwangsläufig auf Alltagstüchtigkeit geprüft werden. Durch schlichten Gebrauch bei mäßiger Belastung.

Die heurige Herz- und Nieren-Tour ist mit Mitte März schon verdammt früh. Normalerweise hatte ich die 350 Kilometer „Mit dem Rad zur Liebsten“ im August absolviert.

Umso erstaunter bin ich, wie fit ich doch bin. Direkt nach dem Winter, noch kaum im Alltag geradelt, lege ich eine rasante Tourleistung hin mit allen Wettern und allen Unbilden, die das Radreisen mit sich bringt. An dem Tag ins Knie des Stichkanals stehen sogar 140 Kilometer auf dem Tacho. Es ist der erste Tag der Rückreise aus dem Aargau. Ich hatte mich morgens verirrt. Nahe Rheinfelden geriet ich versehentlich auf den Radweg Richtung Lörrach. Er führt durch die Berge hinüber ins Wiesental und dann abwärts nach Basel. Den wollte ich schon immer einmal ausprobieren. Und so bleibe ich, obwohl es nur ein zwei Kilometer wären zurück zur „richtigen“ Strecke im Rheintal, auf dem Radweg nach Lörrach. Stoisch nicht allzu steil berghoch. Sehr schöne Strecke, muss ich sagen, verirre mich schließlich im Wald, gerate auf Forstwegen entlang der A96 ins Niemandsland. Eine Schar von vier Frauen mit vier Hunden, hysterisch kreischend, daran erinnere ich mich, das war lustig, denn einer der Hunde hatte ein Wasserloch entdeckt, gerade so groß wie er selbst und die Frauchen versuchten ihn kreischend davon abzuhalten, hinein zu springen. Ein schöner, langhaariger Zottel. Zu spät, schon wälzt er sich und die anderen Hunde tun es ihm nach und als ich näher an die Szene rücke, entpuppt sich die Pfütze als kleine Schlammsuhle. Alleine diese lustige Szene sich suhlender Hundchen war doch den Umweg und die Schufterei durch die Berge wert, Herr Irgendlink, oder?

Ein bisschen fluche ich trotzdem. Wegen des Umherirrens. Immer wieder das Handy auspacken und schauen, ob ich noch in der Nähe des auf der Open Street Map ausgezeichneten Radwegs bin. Teils radele ich auf dem Drei Länder Radweg. Von dem kenne ich ein paar Eckdaten, denn er kreuzt meine schnurgerade Pflichtroute entlang der Kanäle und des Rheins hin und wieder. Theoretisch könnte ich also dem Dreilandradweg folgen und käme irgendwann in Haut Hombourg oder Ottmarsheim wieder auf den Kanalradweg. Tue ich natürlich nicht. Wer weiß, welch alpinistische Extravaganzen die Tourismusroute bereit hält.

Nahe Lörrach über die A 96. Der Anblick der im Talkessel gelegenen Stadt, nunja, nicht einladend. Hässlich gar aus dieser Perspektive. Ich durchquere den recht großen Ort im nachmittäglichen Getümmel auf Hauptstraßen bis ich an dem Flüsschen Wiese endlich wieder eitel Flußradwegeln vorfinde. Basel ahead. Gerade mal neun Kilometer länger ist meine Odyssee durch den Südscharzwald zu meiner normalen Strecke. Und viele Höhenmeter. Und gefühlt ein zwei Stunden. Schon rechnet mein auf Betriebswirtschaft und Effizienz gedrilltes Hirn, wie weit ich wäre, wenn ich den Schlenker nicht gemacht hätte. Die Dreiländerbrücke bei Weil ist eine Fußgänger- und Radlerbrücke. Hier Weil, direkt daneben Basel und drüben in Frankreich Hunigue, Hüningen. Der Kanal. In Ottmarsheim könnte ich jetzt schon sein. Nein, ich bin nicht traurig. Ich reue nicht.

Vielmehr erkenne ich sogar etwas. Den Fehler in meinem Experiment, mit dieser Radtour einen Test unter Originalbedingungen durchzuführen für mein geplantes Projekt ans Kap.

Es ist so vieles falsch an diesem Experiment. Ich radele mit dem Ziel, die 350 Kilometer in drei Tagen zu schaffen, vielleicht sogar in zwei (jaja, ist machbar). Richtig wäre, sagen wir mal 70 Kilometer im Durchschnitt und überhaupt, das Experiment nicht an der zeitlichen Distanz von „Tagen“ festzumachen. Richtig wäre auch, den Wetterbericht zu ignorieren. Richtig wäre, öfter mal anzuhalten, öfter mal ein Foto zu machen. Öfter die Gegenwart sacken zu lassen, anstatt sie im Rund der Pedale kontinuierlich zu vernichten. Richtig wäre, die gute alte „Kunstmaschine“ zu reaktivieren.

Hier wirds etwas kompliziert und ich muss etwas weiter ausholen, ein paar Jahre zurückblicken in die Hochzeiten des kunstschaffenden Radreisens und Schreibens. Jaja, liebe Akten, es sei notiert, dass die Jahre 2012 bis 2016 die Blütejahre der Kunstmaschine waren und auch die Blütejahre des Appspressionismus.

Man nehme eine menschliche Einheit, sagen wir einen Künstler oder Blogger, reichere die Einheit an mit einem Reiserad und entsprechender Outdoor-Ausstattung, gebe  ein Smartphone hinzu, Apps, Internetanschluss permanent, ein Blog als Schaltzentrale, etliche Gepäckträgerreisende und eine alles sorgsam koordinierende Homebase, die am heimischen Rechner Hintergrundinformationen beisteuert. Sowie ein fernes Ziel (zum Beispiel das Nordkap oder Gibraltar), den dergestalt ausgestatteten Reisenden lasse man einfach machen. Et Voila. Kunstmaschine.

Rede ich wirr? Egal. Ich möchte es an dieser Stelle nur einmal beschrieben haben, um anzudeuten, was einst war, was nun nicht mehr ist und was womöglich nie wieder kehren wird, was aber nicht bedeutet, dass es nie gewesen sein wird.

Die Kunstmaschine – grob gesagt ich – unterwegs darüber schreibend und live aus dem Sattel bloggen war einmal und sie war trotz aller Unzulänglichkeiten ziemlich gut. Ich trauere ihr, der Maschine, ihm, dem Zustand, in dem ich mich ein paar Wochen meines Lebens befand, hinterher … so läuft das Gefühl des erlittenen Verlusts mit in meiner unter „Realbedingungen“ stattfindenden Tour entlang der elsässischen Kanäle … nein nein, traurig bin ich nicht. Das ist das falsche Wort. Wehmütig?

Jetzt ist jetzt und bald ist bald und wenn ich es denn tatsächlich wahr mache, noch einmal ans Kap zu radeln, dann wird es etwas eigenes und die Kunstmaschine kehrt zurück, formt sich von neuem, wird etwas Anderes oder das Gleiche oder in sich selbst renoviert. Steuern kann ich es jedenfalls nicht und jaja, so bin ich die Kilometer durch die kleine elsässische Camargue nördlich von Hunigue doch auch ein wenig gefasst und zufrieden. Ich muss mich nicht zwingen, in den recht harten Kunstmaschinentrott zu verfallen und auf Teufel komm raus einen Blogartikel rausjagen und Kunstfotos auf dem Handy zu prozessieren, sie womöglich noch als radelnder Marketender direkt übers Netz zu verkaufen.

Nichts muss ich.

Der Südwind zaust am Zelt in meinem kleinen grünen „Knie“ am Canal-de-la-Rhone-au-Rhin. Ich liege wach und lausche dem Traktor. Wenn er wendet, herrscht für ein Moment Stille, bis er wieder Vollgas gibt. Die Kirchturmuhr mag eins oder zwei geschlagen haben. Ich könnte die Tastatur auspacken und einen Blogartikel schreiben und alles wäre beim Alten.

Egal was kommt, Kap oder Nichtkap, UmsLand Hessen oder Baden-Württemberg, Du bist herzlich eingeladen, auf meinem virtuellen Gepäckträger Platz zu nehmen.

 

Die elliptische Zirkulation unserer feinen Künstlertraumsonnen in Vibration versetzen

Hellblau blassrotes Schriftmotiv, trikolorisch geteilt von zwei schrägen Linien. Schrift "Unter den Heilpflanzen ist das Fahrrad eine der wirksamsten".

Die letzte fette Wolke des Winters schiebt sich langsam von vorne nach hinten. Szenerie ist das kosmodämonische Pflegeheim, in dem Freund Journalist F. seit nunmehr zwei Jahren wohnt (besser gesagt: ist). Die Luft ist recht kühl. Frau Soso und ich hantieren mit Handys, wechseln Sim-Karten, was F. selbst zu schwer fällt, als dass er eben mal die Karte vom einen ins andere Handy wechseln könnte. Beides alte Gurken, die sich im Zweikampf der Macken tagein tagaus miteinander messen. Mal hat das alte iPhone die Nase vorn und die Karte muss da raus und ins Android hinein, mal ist es umgekehrt. Nun ist es wohl definitiv, dass das iPhone den Kampf der Macken gewinnt, denn am Android ist die Ladebuchse dermaßen verwirkt, dass es nur noch mit wackelnden Kontakten und viel Glück aufzuladen geht. Eine Übertragung von Daten via USB-Stick funktioniert jedenfalls nicht mehr.

Immer öfter denke ich in den letzten paar Wintern, ob dies wohl der letzte Winter ist, den ich erlebe. Umso hoffnungsfroher macht mich die fette dunkelgraue Wolke über der Pflegeheimszene letztes Wochenende, wie sie sich unendlich langsam gen Horizont verzieht und am Rand ein goldener Sonnenschimmer aufleuchtet, Mal zu Mal größer wird, bezeugt von uns wackeren vor dem Pflegeheim Sitzenden, die es kaum erwarten können, dass die ersten Strahlen endlich über den Rand der Wolke schwappen. Sofort fühlen sich die durch die feuchte, kaum bewegte Luftmasse gekühlten eiskalten Knochen besser an. Ich weiß gar nicht, wie Journalist F. das aushält im Rollstuhl mit teils bloßen Körperteilen, sei es der Hals oder die Knöchel des Fußes, ich jedenfalls bin heilfroh, dass ich die Wollknieschoner und den Nierenschützer angezogen habe, zwei paar Socken. Den  kuscheligen Schal, den mir Freundin Lakritze einst strickte hab ich vergessen, aber nun kommt ja die Sonne.

Ob dies der letzte Winter ist denke ich – wie erwähnt – in den letzten Jahren immer öfter. Die Künstlerbude mit ihrer nur Holzofenheizung und der offen liegenden, Frost gefährdeten Wasserleitung bietet den charmanten Minimalkomfort wie seit bald zwei Jahrzehnten, kaum etwas hat sich verändert seit jeher. Nur ich. Ich werde empfindlicher, spüre den Frost schmerzhafter als auch schon. In den Zehen beginnt der Tod (fasst der Tod Fuß), kriecht sich über die Jahre heran an den Kern des Körpers, beinaufwärts in den Bauch, die Brust, zum Hals, zum Hirn und dann nimmt er dich mit in die Hölle oder in den Himmel oder nirgendwohin und du hörst in einem kalten Monat in naher Zukunft einfach auf, zu existieren. Punkt aus. Der Kalte Tod ist wie die fette Wolke über dem Pflegeheim unheimlich langsam und wenn man es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihm, dem kalten Tod oder ihr, der fetten Wolke dabei zuzuschauen wie sich etwas bewegt in der Hoffnung auf eine Erwartung für irgendwas, Wärme oder Erlösung, dann kann man sich dadurch das Leben zu Hölle machen. Das Gegenwärtigsein.

Warum schreibe ich das? Weil ich es mir zum Ziel gesetzt habe, öfter zu bloggen in diesem Jahr. Eine meiner feinen, brotlosen Kernarbeiten wieder aufzunehmen. Ich meine, mein Ziel Anfang Jahr wäre gewesen, einmal pro Woche einen Blogartikel auf irgendlink.de zu schreiben, einmal pro Monat in den Knotenpunkten und in allen anderen Blogs, die ich führe oder an denen ich beteiligt bin, mich wenigstens zu bemühen. Allen voran das Erdversteck.

Bloggen braucht Disziplin, was umso schwerer ist, wenn man dafür nicht materiell entlohnt wird, jaja, Geld, gute alte Droge des materiellen Austauschs hat schon eine magische, beschleunigende Wirkung. Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun würden oder Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie zwar gerne tun würden, sich aber nicht trauen oder zu träge dafür sind, oder sonst welche Gründe. Wie auch immer, würde ich bezahlt fürs Bloggen, nur mal angenommen, würde das dann etwas nützen? Vermutlich ja. Vermutlich wäre es aber auch vergleichbar mit den Gravitationsphänomenen, die man bei simplen Massenbegegnungen im Weltraum beobachten kann und mit denen es etwa möglich ist, die eigentlich unsichtbaren Exoplaneten, die es zu Hauf gibt da draußen, nachzuweisen. Geld als dunkle nicht sichtbare Masse, die die elliptische Zirkulation unserer feinen Künstlertraumsonnen in Vibration bringt. Ein komischer Vergleich. Mir war danach. Ich schaue zu viele Exoplanetenfilme.

Klammen Fingers gelingt uns die Operation an Journalist F.s beiden Handys und als wir fertig sind, zünden wir uns eine Zigarette an. Die Sonne ist da. Nebenan vor dem automatisch sich auf und zu schiebenden Eingang sitzt der Kettenraucher auf seinem Rollator und raucht Kette. Der Kettenraucher heißt so, weil er ständig hier draußen vor der Pforte sitzt. Derweil eine Frau am Rollator gehend durch die Schiebetür kommt, uns alle freundlich grüßt, eine Schleife von etwa fünf Metern dreht und eine halbe Minute später beim Wiederbetreten des Pflegeheims noch einmal freundlich grüßt, so als sähe sie uns zum ersten Mal.

Die Alltage im unendlich grauen, potentiell letzten Januar waren geprägt von Projektvorbereitungen. Ich skizzierte neben der Nordkap-Tour drei weitere Herzensprojekte, die ich möglicherweise in diesem Jahr durchführen könnte. Nicht alle, nur eins von den vieren. Also entweder oder Hessen, Baden-Württemberg oder die Schweiz. Mal schauen. Klar erkennbar, ist das Hessenprojekt am besten skizziert und das wohl wahrscheinlichste. Es hängt von zwei Gesundheitschecks Ende Monat ab wie sich das Jahr entwickelt. Über allem Jahresplan gaukelt immer noch die Raumforderung in der Niere, die ja auch eine einschneidende Lebensveränderung bedeuten könnte, wenn es sich dabei um einen bösartigen Tumor handelt. Die letzten Wochen konnte ich mich zum Glück durch Ignorieren und Verdrängen vor Hysterie bewahren. Was insbesondere in ruhigen Momenten, dann, wenn sich das Hirn mit aller Macht auf mögliches Leid und Sorge stürzt, viel Kraft kostete. Nur noch zwei Wochen bis zum MRT. Dann darf ich wieder echte Pläne machen, oder eben nicht.

Hier ein paar Karten.

Jenseits des Freestyles der Liveblogprojekte arbeitete ich an meinem Seedshirt-Shop. Ein Projekt, das ich zu Beginn des Winters intensivierte. Falls die geneigten Leserinnen und Leser dieses Blogs also Hemden oder Pullover oder Tassen kaufen möchten, schaut doch gerne mal vorbei. Es ist ein noch nicht so aufgeräumter Allesladen der feinen Künste. Aber das macht den Charme eines in Entstehung befindlichen Universums ja aus.

Hier ein paar Motiv-Schmankerl.

Last but not least die Zahlschranke des Artikels, wie immer ganz am Ende – aber es wäre fein, wenn Du mich auf meinem Steady HQ Profil unterstützen würdest. Alternativ verrate ich Dir meine Kontonummer.

Ans Kap oder UmsLand Hessen?

Jagdflugzeug als Skulptur auf einer grünen Wiese. Der linke Flügel und die spitze Nase bohren sich ins Grün.

Was ist es eigentlich, was mich so fasziniert am Nordkap als Reiseziel? Man riet mir ab. Die ganzen 3600 Kilometer durch Deutschland und Schweden auf dem Weg dahin im Jahr 2015 riet man mir ab. Fahre da nicht hin. Das ist langweilig. Ein Fels im Nebel mit einer von Menschen für Menschen gemachten Kugel darauf. Überlaufen. Touristen. Es gibt Schöneres, zum Beispiel Vardø.

Vardø bei Vadsø bei Kirkenes stelle ich mir auch nicht anders vor. Fels, Fels, Fels und drunten brandet die Barentssee. Bis zum Kap sind es von Vardø nur gut 250 Kilometer. Die russische Grenze ist nah. Bei schönem Wetter kann man die Kriegsschiffe in internationalen Wassern aus den Wellen ragen sehen, stelle ich mir vor. Unheimlich. Ich schweife ab.

Seit 2021 plane ich ein Remake meiner AnsKap-Radtour 2015. Aus pandemischen Gründen scheiterte das Vorhaben. Ich feiere sozusagen zwei Jahre nicht ans Kap radeln. Aber stimmt das? War die Pandemie tatsächlich der Grund, die Reise nicht anzutreten? Oder bin ich einfach nur alt geworden und drücke mich um meine Lebensträume herum, versuche ich unbewusst das Unbequeme, was das lange Reisen mit dem Fahrrad mit sich bringt zu vermeiden und schiebe äußere Einflüsse wie die Pandemie vor als Grund fürs Scheitern eines Vorhabens, das ich in Wahrheit gar nicht vorhabe?

Der echte Irgendlink auf dem Prüfstein. Komm, Junge, erzähl dir endlich die Wahrheit. Du willst es nicht. Du willst es. Du willst es, aber. Du willst es nicht, es sei denn … all die Zweifel. All das Weltgeschehen.

Wenn mein Leben ein Roman wäre und ich nur ein erfundener Protagonist, dann stünden dieser Jahre die äußeren und die inneren Konflikte blank und ganz klar. In einem alternden, vom Zerfall bedrohten Körper (ich erinnere an die unklare Raumforderung, siehe Beitrag zuvor), denkt und agiert einer, knallhart konfrontiert mit malmenden äußeren Mechanismen der Pandemie und des Kriegs.

Was denkst du wie das abgeht in der Kapregion, wenn die Sache in der Ukraine sich ausweitet! Die russische Grenze ist gerade mal 200 Kilometer entfernt. Lass die Finger davon, fahr meinetwegen nach Portugal.

Langanhaltendes Rumoren in der Gegend um Lakselv, ein tiefes Brummen wie Nachbrenner, Düsenantrieb, Tausendgestank und abscheuliche Gewalt liegt in der Luft. Ich bin fast alleine auf der E6. Der letzte schöne Sommertag. Weites sumpfiges Land oder Waldland oder ein See. Karger Bewuchs, ab und zu ein paar Rentiere, Holzlaster, spätsommerliche Wohnmobile. Zum Gruß und als Beifall für den Kapradler ein Hupen hie und da. Wenige zig Kilometer bis Lakselv, ein kleines Städtchen an der Barentssee. Natürlich gibt es einen Flughafen, Supermarkt, Tankstelle. Das Donnern in der Luft scheint mir nicht von zivilen Maschinen  zu rühren. Die würden starten, wegfliegen, leiser werden. Bald schon wird sich die Straße hinabstürzen zum Fjord. Links und rechts Schilder mit Warnungen. Militärisches Gebiet. Aha. Wie daheim zu Füßen von Ramstein also. Kampfjets, die nachhaltig nachbrennend und unsichtbar in der Luft liegen. Den akustischen Raum rings um den Fjord minuten-, ach was, viertelstundenlang beherrschen, nichts anderes zulassend als Lärm.

Muss ich mir das noch einmal antun?

Screenshot einer Postkarte zeigt eine Felswand mit zwei unheimlichen schwarzen Augen, die sich offenbar als Magmaströme in den Gesteinsschichten ausprägten.
iDogmakarte 128 2015

Wenns möglich ist, warum nicht! In meiner Erinnerung kratze ich allmögliche Orte zusammen, die ich während der Reise 2015 durchquerte. Einige, seltsamerweise nicht einmal die schönsten, sind immer da. Harte Gesteine die aus erodierten Erinnerungen ragen. Unheimlich geschundene Nutzwälder in Schweden etwa; jener verregnete Tag in Batskärsnäs im nördlichsten Bootshafen Schwedens; die starrenden Magmaaugen in einer Felswand an der E69; Steinmännchenstrand am Porsangerfjord und schließlich die drei Kilometer lange neun prozentige Sturzfahrt hinunter in den Nordkaptunnel …

Nichts ersetzt die Gegenwart. Früh morgens, einsames Gehöft. Mein Geburtstag 2023. Kann nicht mehr schlafen, also stehe ich auf, schüre den Holzofen ein, beginne bei 16 Grad, stelle das Nordkap in Frage. Wie so oft dieser Tage. Eigentlich musst du doch gar nicht mehr reisen, Herr Irgendlink. 2016 mit der letzten großen Tour nach Gibraltar hattest du all deine Ziele erreicht.

Mit dieser Reise geht eine Trilogie zu Ende. Ums Meer 2012, Ans Kap 2015 und Gibrantiago sind die Rohdaten für eine Europenner-Trilogie. Ich kann endlich beruhigt heimkehren und auch da bleiben und mich auf ein Leben als Schriftsteller freuen. In Gedanken fabuliere ich, dass mit diesen drei Reisen und den Kunstfotos daraus auch fast schon ein kleines Lebenswerk fertig geworden ist.

Ich bin sehr zufrieden. (Europenner-Blog 2016)

Das Ziel ist nicht das Ziel. Der Weg ist auch nicht das Ziel. Es gibt keine Ziele. Alles läuft auf Orientierungslosigkeit hinaus und mit ihr kommt das Vertrauen. Vertrauen darin, dass es immer irgendwie weiter geht. Auch im Stillstand geht es weiter. Nur eben so langsam, dass man es nicht bemerkt. Auf diese Weise wirst du ein Ziel erreichen, ohne ein Ziel zu haben, vertrau dir. Postuliere ich altklug.

Das Jahr ist offen. Das Nordkap im Visier wie jedes Jahr. Na klar. Was soll ich denn sonst ins Visier nehmen … achje, da gibt es Vieles. Das Viele ist mein Fallback, falls das mit der Raumforderung schief geht. Dann mache ich die kleinen feinen Dinge. Durchs Elsass zur Liebsten radeln. Ha, die Tour, nur 350 Kilometer, wiederholste doch auch immer wieder und es ist immer anders, immer neu, immer abwechslungsreich, obwohl du oft die gleiche Strecke radelst. Wenn man sich von der viel beschrienen Bucketliste der Zutuns in dieser Welt verabschiedet, findet man seinen Frieden. Dann weicht jeder Druck. Darf wieder und wieder, darf anders. Man kann alles immer wieder tun und es wird Freude bereiten. Es wird trotzdem etwas Neues. Im Alteingelatschten können wir immer Neues entdecken, sagt die Hoffnung, sagt die Ahnung. Wir dürfen uns nur nicht blenden lassen von den Verlockungen vermeintlichen Neuens.

Im mürbenden Nachdenken über den Sinn der bevorstehenden Reise gebiert sich die Erkenntnis, dass das Einzige was ich an Langstreckenabenteuern noch tun könnte und was wirklich neu wäre, eine Umradelung der Erde wäre. Möglich wärs. Tun werde ich es nicht. Warum? Weil ich an einer früheren Stelle des Lebens eine andere Abzweigung genommen habe. Mich ein zwei Jahre rauszunehmen, die Liebsten und Nächsten zurück zu lassen, wäre eine Gewalttat gegen die Liebsten und auch gegen mich.

Künstlerbude, fast sechs Uhr früh. Der Artikel nimmt einen komplizierten Lauf, so dass ich ihn wohl erst einmal in den Privatmodus setze. Ist es den Lesenden zuzumuten, hin- und her- und abzuschweifen? Dieses katzengleiche, sich mit einem Wollknäuel balgende Künstler- und Schreibendenhirn. Putzig.

Kap oder nicht? Alles ist offen. Im Mai könnte ich starten. Ich habe ein Winterzelt gekauft, das ich mir selbst zum Geburtstag schenke. Ich habe aber auch Radrouten Hessens herunter geladen, denn ein Hessen wäre natürlich auch ein feines Projekt. Beständigkeit, Beharrlichkeit. Abwarten. Vorankommen im Verharren. Zusehen wie sich die offenen Fäden der Zukunft zu Gegenwart verwinden, für den Moment klar und stark und unzerreißbar und schon Momente später spleisen die Fasern, löst sich alles auf, verschwindet in einer mal zu mal verschwimmenden Unschärfe der Erinnerung bis zur Unkenntlichkeit des Nichts.

Ich spraye ein Graffito auf die Paywall am Ende des Artikels.

 

 

 

Das Hohelied des Null-LeserInnen-Blogs

Last Exit Weblog. Ich denke, ich fürchte, ich hoffe, ich bin auf der richtigen Spur. Zurück zu den Wurzeln im Anbeginn des weltweiten Netzes. Als der Mensch, im Fall ich, noch frei war und sich nicht bis in den letzten Winkel seines Denkens in den sozialen Medien verirrte. Dieses irre Fraktal aus Ansichten, Meinungen, Bekundungen, dieses Machwerk sich selbst ausschmückender und somit unauthentischer Lebensläufe. Das ist doch alles nicht echt!

Nach der Reise rund um Bayern: Facebook auf, um zu reagieren auf die automatisch durchgereichten Blogeinträge. Unterwegs wollte und konnte ich Facebook nicht öffnen. Warum ich dennoch dort poste und Mitglied bin? Es sind die Menschen. Manche Menschen kenne ich nur auf Facebook. Deshalb bin ich da. Auch da. Manche Menschen sind nur auf Whatsapp erreichbar und so weiter und so fort und deshalb sind wir eben auch bei und so weiter und so fort.

Ich hatte vor vielen Jahren einmal gesagt, ein Mensch, ein Blog. Das war eine Zeit, in der man sich im Netz immer mehr verzetteln konnte, sich bei diesem und jenem Blog-Portal anmelden konnte, um zu publizieren, um der Gemeinde Inhalte beizusteuern und einen gemeinsamen Mehrwert zu schaffen. Myblog hier, TwentySix da, Antville jenerorts, Thumbler, WordPress … man konnte sich zig kostenlose Blogs anlegen. Doch wozu? Um des virtuellen Sternchens Willen? Blogger der Herzen und Likes? Letztenendes gewinnt die Plattform, die dir das Meiste zurückbringt. Kommentare, Herzchen, Daumenhochs und Sternchen. Glasperlen der Moderne allerorten und was dabei untergeht: Darum geht es doch gar nicht.

Ich propagierte das Null-Leserinnen-Blog. Die Königsdisziplin. Bloggen um des Bloggens willen. Egal, ob es überhaupt jemand liest. Die Frage, warum man in diesem Fall denn nicht in sein kleines, papierenes Tagebuch schreibt und gut ist, stand lange Zeit berechtigt, bis mir bewusst wurde, dass es sich um Erde handelt und um Saat. Der Kipppunkt zwischen ich publiziere, theoretisch ist es jedem Menschen der Erde möglich, den Inhalt aufzunehmen, weiter zu spinnen an einem Gedanken und dem ich schreibe es in eine geheime Kladde, die niemand sonst lesen darf, ist auch der Kipppunkt, bei dem es um bedingungsloses Wachstum geht. Im ersten Fall bringst du eine Saat aus, die ganz ohne Zwang entweder wachsen darf oder vergehen, wie das in der Natur eben so ist, bei der zweiten hegst du auf deinem privaten Balkon die Samen. Mag sein, dass deine Zimmerpflanze der Webpublikation eine Weile gedeiht. Aber die wird sich garantiert nicht vermehren. Die erstere hingegen hat wenigstens die Chance darauf.

‚Ein Mensch ein Blog‘ ging natürlich prächtig schief, seit ich diverse Projekte ausgekoppelt und in selbst gehostete Blogs gepostet hatte. Das ist etwas anderes, als jedem Trend hinterher zu laufen für ein paar Klicks mehr. Mittlerweile sind es etwas zehn verschiedene Blogprojekte, die ich größten Teils abgeschlossen habe. Zum Beispiel gibt es das Paminablog und das Erdversteck als verschiedene Saatgutlinien … und noch so ein paar Projekte. Das Hauptblog, der am besten und intensivsten bewirtschaftete Acker, ist und bleibt dieses hier, in dem du gerade liest. Hier laufen alle Spuren zusammen. Es ist die Saatgutbank meiner feinen Künste und der Bloggeratur sozusagen.

Kurzum, Facebook wieder zu. Es bereitet so ganz und gar keine Freude. Es verwirrt mich. Ich kann mich noch nicht einmal über die Statistiken freuen; ich weiß was von Glasperlen und ich kann sie von Diamanten unterscheiden. Facebook und Twitter werden dir nie Diamanten geben. Diamanten sind so selten wie gut gehegte, von Inhaberinnen geführte Blogs. Da kommste nicht einfach so ran. Die liegen nicht wie Sand am Meer. Noch nicht einmal wie Bernstein, die bestellste nicht containerweise in einer billigen Blogherstellerfabrik und vertickst sie zu Massen über den Telekanal.

Metablogging. Bloggen über das Bloggen. Halte dich zurück, Herr Irgendlink. Klar willst du deine Geschichte erzählen, aber du musst doch nicht erzählen, wie du die Geschichte erzählst wie du die Geschichte erzählst wie du … und allegorisieren auf die Allegorie der Allegorie … musste auch nicht.

Es ist jedoch ganz klar, dass im Vorfeld des zu entstehenden Großen und Reinen, einem Buch zum Beispiel, erst einmal jede Menge Material gesammelt und nebeneinander gestellt wird. Dann die Verbindungen suchen. Unsichtbares sichtbar machen, Gutes verstärken, nicht erwünschtes löschen. Womit wir wieder beim Garten sind. Dein Saatgut ausbringen, es düngen, gießen, hegen, die unerwünschten Pflänzlein ausrupfen, hacken, Schnecken fern halten, die Blattläuse, vergiss die Blattläuse nicht und ja, der Ansatz von literarischer Brennnesseljauche schadet nie.

Jede Menge Daten habe ich gesammelt auf der Reise /Bayern. Drei Kategorien: GPS-Tracks, Fotos, Texte. Alles in Rohform im Blog sichtbar. Fast alles. Manche Beiträge sind privat gestellt, weil sie noch nicht korrektur gelesen sind. Aber letztlich ist der Garten ‚UmsLand/Bayern angesät. Frühlingsstimmung. Viel Arbeit. Dass ich ein Buch daraus mache, sagte ich im gestrigen Blogartikel. Ja. Ich mache ein Buch daraus. Wie es aussehen wird? Das weiß ich, wenn ich sehe, wie sich die Saat entwickelt. Wahrscheinlich ein reines Textbuch, eine Art Reisebericht in Romanform mit einem kleinen Bildteil in der Printversion. Verlag? Vielleicht. Ich habe keine Lust, mir die Hacken wund zu laufen. Hier kommt der Null-Follower-Hassardeur in mir zum Vorschein. Der Sache an sich, Sache an sich, Sache an sich-Plärrer, der, der für die Nachwelt arbeitet, oder nein, noch nicht einmal, der, der sät um des Säens willen und sich am Wachsen (und auch am möglichen Vergehen) erfreut. Der auf eine späte Ernte hofft, aber nicht darauf angewiesen ist.

Wenn ich an einer Sache arbeite, entsteht manchmal eine Art Flow, in dem ich an der Sache auf immer weiter arbeiten kann, ohne, dass ich dabei erschöpfe oder Fragen stelle oder etwas wie Sinn darin suche. So kann ich stundenlang zum Beispiel glücklich Geschirr spülen, eine schmutzige Ecke auf dem einsamen Gehöft aufräumen, einen dreihundertfünfzig Kilometer langen Radweg durch Wälder radeln (Grünes Band, tagelang, nicht nur stundenlang), diesen Blogartikel schreiben, ohne mir Sorgen zu machen, ob ihn je jemand liest. Sobald er fertig ist und im Netz steht, ist er eine Saat. Wenn sie jemand liest und auch nur etwas mitnimmt, vermehrt sich die Saat. Gutso. Wenn nicht, bleibt die Saat einfach liegen. Im Gegensatz zu natürlichen Saaten, bleiben die künstlichen, digitalen so lange erhalten wie die Server laufen, wie die Blogadressen bezahlt werden, wie die Hosterinnen und Hoster (im Fall ich selbst) dies ‚er-tragen‘ können. Und so lange wie es Wesen gibt, die die Inhalte dekodieren können (im Fall welche, die die Sprache der Texte verstehen).