Dieses rumorige Schweigen kann ich ja selbst kaum ertragen. Wieder gingen einige Paletten Loungemöbel durch meine Finger; freitags sogar ein Übermaß, so dass ich samstags bewegungsunfähig erwachte, bis halb 12 im Bett dümpelte und dann die tolle T. anrief, wir müssen radfahren, und das taten wir denn auch auf einer wunderbaren Runde durch die lieblichen Bachtäler dieser Gegend. Wieder im Gleichtakt, auch wenn er sich dieses Mal nicht durch Trittfrequenz manifestierte, sondern durch Worte wie: „Sieh mal, was für eine schöne Parkbank.“ – „Du sprichst mir aus der Seele.“ So fläzten wir an diesem sonnigen Tag von Picknick zu Picknick.

Heute bei Twitter angemeldet. Zunächst war ich ja strikt dagegen, diesen Modeschnickschnack mitzumachen. Konzeptkünstler R. honepipelt: „Twitter ist das englische Wort für Geseier oder Gesabbel. Also dahin gerotzte Nichtigkeiten im SMS-Format. Es projiziert die gesamte Wertlosigkeit menschlichen Seins auf einem einzigen Internetportal.“

R. stand um die Jahrtausendwende auch dem Medium Weblog sehr kritisch gegenüber.

Ich bin da anders. Um mir ein Urteil zu bilden, muss ich die Dinge austesten. Beim Blog hat es ja auch geklappt, und ich habe in den Millionen Weblogs, die es gibt auf der Welt schon über 50 Stück gefunden, die das Format rechtfertigen. Ha! Ich könnte sogar vorneweg zwei Weblogs nennen, die das Twitterformat quasi erfunden (und zwar schon vor fünf, bzw. neun Jahren) haben und wenn sie bei Twitter auftreten würden, schlügen sie ein wie eine Bombe.

Konzeptkünstler R. rechtfertigt: „Mit solchen Internetportalen ist es eigentlich wie mit Sodom. Zehn Rechtschaffene rechtfertigen die Existenz allen anderen Mists. Du hast schon zwei. Finde noch acht und ich revidiere meine Meinung.“

  • arglos über das Leben schreiben
  • den Alltag zelebrieren
  • schone dich nicht
  • schone nie die Anderen
  • sag immer die Wahrheit
  • beuge sie, wenn nötig, denn die Wahrheit ist eine weiche Masse
  • vergiss, nachdem du gedacht
  • geh‘ nach Vorne, gehe weiter, halte niemals an

Für immer Dein

Der arglose Van Helsing, wie er in der letzten Szene von Roman Polanskis Tanz der Vampire auf seinem Schlitten durch die eiskalte transylvanische Nacht gleitet. „In dieser Nacht ahnte Professor van Helsing nicht, dass er das Böse in die Welt bringt,“ sagt eine Stimme aus dem Off.

Nicht anders, als der Owner. Er ahnt nicht im Geringsten, dass er aus Kollege T. und mir kleine, fiese Kampfmaschinen züchtet. War unser Arbeitsweg im letzten Jahr nur 30 km pro Tag lang und wir radelten täglich hinüber in die Loungemöbelwerkstatt, so ist er nun, auf der neuen Arbeitsstelle 50 km lang. Noch immer radeln wir, denn wir sind arme Schlucker, geizig, sportbegeistert und ein paar Stunden Radfahren am Tag hat noch niemand geschadet. Heute spürte ich die Fitness, wie sie durch den Körper sickert, alles durchdringt, sich festsetzt. Wenn ich nicht auf dem Arbeitsweg sterbe, werde ich als machtvolle Person aus der Sache hervor gehen. Genauso T. Da wir nun eine halbe Tagesetappe, die man als Langstrecken-Radreisender normaler Weise zurück legt, einfach so erledigen und zwischendrin 8 Stunden arbeiten, werden wir zu ganz gefährlichen Typen, denen irgendwann nichts mehr einen Schrecken einjagen kann.

Wenn wir das ein Jahr lang so machen, werden wir 15.000 km geradelt haben und etwa 60.000 m Höhe überwunden haben. Gut sechs Mal den Mount Everest rauf.

Es ist anzunehmen, dass das so passiert, denn in der Loungmöbelszene kennt man Worte wie Urlaub, Freizeit oder Wochenende nicht.

„Für immer Dein“, kritzelte vor einem halben Jahr Kollege T. auf ein Pappband und legte es mir um den Arm. Eine wunderbar ironische Hommage an den Owner.

Der Punkt und die Linie

Vorhin hatte ich angeschnitten, Kollege T. ist ein Punktmensch und ich bin ein Linienmensch. Aus uns beiden müsste man einen machen.

Ich schlage mich mit Schreibproblemen rum, weil ich kürzlich mal wieder angefangen habe an dem Buch, welches Le Courant heißen soll zu schreiben und scheiterte nach wenigen Worten. Dabei habe ich so eine schöne Szene am Rhein geschrieben, Mit Sonne und Pappelblüte. Die Leiche liegt in den Privateinträgen des Blogs, die nicht angezeigt werden.

Ich hatte mir letztens überlegt, hast ja nix zu tun, also schreibste den Roman. Dass du 5000 Zeichen pro Stunde schaffst, hast du bewiesen, also kannst du den Roman in 30 Stunden schreiben. Mit viel Bier und Kaffee geht das.

Ich scheiterte nach knappen 3000 Zeichen (ohne Bier).

Dabei ist eine Linie ja nur eine Ansammlung von Punkten, weiß der Mathematiker.

Wenn ich mir das Blog so anschaue, ist es im Grund eine Ansammlung von Punkten. Jeder Eintrag ist ein Punkt. Zusammen macht das die Linie.

Wenn dich nachts ein Polizist stoppt, so hast du als Linienmensch ja leichtes Spiel, weil der Polizist nur wissen will, kann der gerade gehen. Wir Linienmenschen haben damit selbst bei 2 Promille kein Problem. Der Punktmensch wird schon stocknüchtern ins Trudeln kommen.

Mir fällt hierzu das Buch Flatland ein, müsste ich recherchieren, von wem das ist, von einem englischen Mathematiker, Abbot fällt mir ein, welches eine Welt beschreibt, in der die Wesen nur die Fläche kennen. Die dritte Dimension nehmen sie nur wahr, wenn sich ein Punkt zum Kreis vergrößert. Daran erkennt man in Flatland, dass eine Kugel sich von Oben nach Unten durch die Fläche schiebt.

Bei näherem Nachdenken, zweifle ich, ob ich überhaupt der Linienmensch bin, der ich vorgebe zu sein. Wenn ich ein Linienmensch wäre, müsste ich doch in der Lage sein, eine Geschichte Punkt um Punkt, also Kapitel für Kapitel niederzuschreiben. Dann wäre der Courant schon längst Geschichte. Vielleicht ist es das Kreuz des Linienmenschen, dass er stets auf der Suche ist nach dem nächsten Punkt, nicht nach irgendeinem Punkt, sondern nach dem passenden Punkt.

Beim Bau großer Landstraßen oder gar Autobahnen geht man in der Regel so vor: zuerst werden die Brücken und die Tunnels gebaut. So kann es sein, dass man während der oft mehrere Jahrzehnte dauernden Bauphase auf einer Strecke (Linie) irgendwo in der Landschaft eine Brücke findet, ein Tunnel, ein Straßenanschluss. Der Laie wundert sich: was verbindet diese Stätten? Der Ingenieur orakelt: Hier wird einst eine Straße stehen und du wirst dich über nichts mehr wundern. Du wirst sie benutzen und es als ganz natürlich emfpfinden. So als wäre sie nie nie dagewesen.

Genauso muss ich Le Courant angehen. Es macht keinen Sinn, der Reihe nach vorzugehen. Du musst Punkt um Punkt aufkritzeln und vertrauen haben in den unsichtbaren Plan, der sich in den inneren Windungen deines Hirnes schon längst gebildet hat. Ja. So könnte es klappen. Lass endlich los, nach A, B zu denken und nach B  C und so weiter. Denke X und U und Q. Dann schreibs auf und wundere dich am Ende, dass sich ein einheitliches Gefüge ergibt von vollkommener Schönheit. Die Brücken und Tunnel der A8 des modernen Romans.

Es ist vermessen, zu glauben, dieses Weblog in seiner nunmehr achtjährigen Gesamtform, sei solch ein Machwerk.

Aber im Prinzip erklärt das Weblog die Art, wie ich in Zukunft arbeiten werde.

Rein literarisch betrachtet, sind Punktmenschen prima Lyriker oder Kurzgeschichtenschreiber. Die Linienmenschen sind Romanciers.

Die Träume der Tacker

„Menschen ohne Ziel werden immer für Menschen mit Ziel arbeiten,“ erklärte ich mittags Kollege T., „Hab‘ ich neulich im Netz gelesen. Und Menschen mit Ziel, aber ohne Mut – das ist jetzt von mir – werden immer für Menschen mit anderen Zielen aber mit Mut arbeiten.“

Dies ist die Bankrotterklärung der Lohntackerei. Dennoch verbrachten wir einen prima Tag. Der Owner hatte wieder einen Kasten Bier bereit gestellt und Kollge T. wunderte sich die ganze Zeit, warum ich an Tisch 2 arbeite und nicht wie üblich an Tisch 1. Irgendwann zog ich den Schutzbelag weg, der alles, was unter dem Tisch steht, verdeckt. Geblendet vom Glanz der Bierkiste verstand T. und so stritten wir uns schließlich, wer dem heiligen Kasten näher sein durfte, bis wir beide gemeinsam an Tisch 2 arbeiteten. Der mittlere Tisch.

In diesem Lohnerwerbsdilemma war reichlich Zeit, unsere Pilgerpläne neu zu definieren. Wenn alles glatt gelaufen wäre und die Firma nicht insolvent wäre, hätte T. ab Samstag Urlaub und wäre nach Santiago geradelt. Ich hätte das Ende Mai so gemacht und eitel Tackerschein wären wir glücklich gewesen.

Aber die Wirtschaftskrise bricht ja so Manchem das Genick und wälzt die Träume der Menschen gewaltig um. So dass endlich klar ist: nichts ist von Bestand und du sollst keine Pläne machen.

Wir ließen unseren Träumen freien Lauf.

„Als die Firma zusammengekracht ist,“ gestehe ich T., „habe ich mir überlegt, was wäre, wenn ich nächstes Jahr tot bin, dieses Jahr Zeit und Geld auf einem Fleck und keine Verpflichtung. Dann würde ich nach Tarifa radeln, ganz im Süden. Von dort nach Sevilla, weiter über die Via de la Plata bis nach Compostella.“ „Klingt gut,“ sagte T. „Das ist noch nicht alles,“ fügte ich hinzu, „Compostella ist ja gar nicht mein Ziel.“ „Sondern?“ „“Das Nordkap. In meinem Reiseleben bin ich bisher zweimal gescheitert, das Nordkap mit dem Rad zu erreichen und ungefähr fünf mal scheiterte ich daran, Gibraltar und Tarifa zu erreichen. Ich muss endlich abrechnen und alles in einem Abwasch machen. Wäre ne klasse Tour. Von Compostella zum nächsten Hafen, übersetzen nach England, hoch nach Schottland, rüber nach Bergen, das liegt in Norwegen und dann zum Nordkap.“

„Und was machst du am Nordkap?“

Ich zuckte die Schultern. „Selbstmord? Hab ja dann nix mehr zu tun.“

„Nuja, aufschreiben müsstest du das schon, oder?“

„Ja, okay, mach ich doch nebenbei. Weiß nur nicht, ob jemand meine Handschrift lesen kann.“

Der goldene T. denkt da viel realistischer. Ich glaube, wir sind grundlegend verschiedene Typen. Deshalb verstehen wir uns auch so gut und ergänzen uns prima. Sei es nur, dass er eine saubere Hose trägt und ein schmutziges Hemd und bei mir ist das Hemd sauber und die Hose dreckig (darüber, das man aus uns beiden einen machen sollte, habe ich hier berichtet). Aber was uns entscheidend ausmacht: Kollege T. ist die Koryphäe des Punkts und ich bin ein Spezialist der Linie. Eine durchweg bauesoterische Sache, auf die ich noch einmal zurück kommen werde. Wichtig ist: Kollege T. kann den Punkt und ich kann die Strecke.

„Wie wäre es damit,“ warf T. ein, „1. August geht’s los nach Süden und wir trödeln so lange, bis der alljährliche Hochpilgerstrom vorbei ist und kommen Ende September in Compostella an. Von dort radeln wir die Via de la Plata nach Sevilla, dann ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Costa Blanka, wo wir Cousin J. und Cousine A. besuchen, uns festsetzen und überwintern.“

Lieber T. ich muss sagen, Deine Variante ist auf jeden Fall die realistischere. Aber was nutzt es dem Galerensträfling, von Freiheit zu träumen, wenn er zehntausend Kilometer weit schwimmen muss, um zu entkommen.