Ich überfuhr den Sheriff, but I did not run over the Deputy | #zwand20

Kreuzigungsszene dreier Kreuze vor Kirchenmauer.

Gibt es einen trostloseren Ort? Tiere rascheln unterm Zelt. Das hatte mich geweckt. Vielleicht war es auch der Wind, der nachts von Westen aufstarkte, Staub aufwirbelte, was auf der Zeltplane so ähnlich klang wie Regen. Nur härter. Bin ich mit dem Wort ‚trostlos‘ in Gedanken erwacht, oder manifestierte sich das Wort erst aus den Gefühlen, die jedem Traum zu Grunde liegen? Im Traum existiert ja nichts. Da ist nur Gedanke. Das Hirn, habe ich einmal gehört, sortiert nachts alle Eindrücke des Vortags, ach was, aller jemals gelebter Vortage und mischt daraus die Träume, die nur im Schlaf logisch und schlüssig scheinen. Wenn man erwacht und sich erinnert, kommen einem die Bilder und Erlebnisse meist surreal vor, können beängstigen.

Ich bin unheimlich müde. Seit vier Wochen fast ununterbrochen im Sattel. Jeden Tag durchschnittlich etwa 70 Kilometer mit dem schwer bepackten Reiseradel vorantreibend, quer durch Frankreich und nun ‚im Krieg‘ den Flüssen folgend bis zum Epizentrum des Spanischen Kriegs. Die gestrige Etappe, 69 Kilometer westwärts, Ebro aufwärts gegen den Wind, der nachmittags ordentlich aufbrauste trugen ihr Schärflein zu meiner trostlosen Stimmung bei. Nach dem Desayuno im Klosterhotel in Escatrón schuftete ich mich wieder hinauf auf die Höhen nördlich des Ebros, nur um kurze Zeit später in Sastago wieder unten am Fluss zu stehen, ich Syssiphos der Tretkurbel, ich. Das Auf und Ab endete zum Glück kurz nachdem ich das Dorf Alforque (nicht zu verwechseln mit dem Nachbarort Alborge :-)) durchquert hatte. Hinauf auf eine Art Hochebene, die wie einem Wildwestfilm entnommen schien. Nachdem sich das Stromnetzgespinst des Wärmekraftwerks von Escartón in alle Lande verliert, wird es wirklich einsam, Menschenferne. Die kleine Seitenstraße ist durchaus als Radelstrecke empfehlenswert, gute Entscheidung, die A-221 zu verlassen, die auf der südlichen Talseite des Ebros gen Zaragossa führt. Tausche Berge gegen Wind und Staub. Es ist schon recht warm am gestrigen Tag, vielleicht über 20 Grad. Der Sonnenbrand auf der Nase hat sich dank großzügigem Einsatz von Sonnencreme, Faktor unendlich, gelegt. Die Hauptrichtung ist nun auch westwärts. Das heißt, Sonne kommt erst ab 14 Uhr ins Gesicht.

Bei Quinto überquere ich den Ebro, kurzes Stück Nationalstraßengemetzel. Der kleine Ort sieht aus wie eine in die Moderne verlegte Westernstadt. Fast schnurgerade führt die N-232 hindurch. Showdown mit beweglichen Zielen. Ich überfuhr den Sheriff, but I did not run over the Deputy. Wortspiele im Kopf. Melodien wie ich den Sheriff überfuhr. Wortspiele, die ab Quinto bitter nötig sind … Alforque, Alborge, Altersvorsorge … denn die Gegend wird flach und Trist. Einziger Trost: dass es um diese frühe Jahreszeit noch recht grün ist in der, tja, wie will ich es nennen? Hochebene? Ebene? Den Great Planes? llano Estacado? Karl May schon wieder (siehe Artikel Tag 27, der zum derzeitigen Stand noch nicht geschrieben ist). Die Erde muss eine Scheibe sein. Schnurgerade führt die schmale Straße gen Belchite. Ab und zu eine Farm, ein Getreidesilo, kaum Autos unterwegs. Der Wind drückt von rechts. Manchmal ateme ich Staub, wenn ein kleiner Wirbel von irgendwo jenseits des Straßengrabens einen frisch gesäten Acker aufgemischt hat. Bin ich froh, als endlich der ‚Ameisenhügel‘ von Codo am Horizont auftaucht. 12 bis 15 Kilometer langsam, kurbelnd, ächzend, Kodo der dritte aus der Sternenmitte singend. Niemand hört mich. So muss sich Irrsein einfühlen. Mal bin ich Clint Eastwood in dem Western, der im Showdown zu Dritt auf einem Friedhof endet.

Ein Mann bückt sich vor einer langen Mauer, aus der ein Brunnen entspringt.
Trinkwasserbrunnen in jedem spanischen Dorf. Hier in Organya.

In Codo laufe ich den örtlichen Trinkwasserbrunnen an. In jeder spanischen Siedlung gibt es mindestens einen Ort, ein Brunnen, oft auch einfach ein Wasserhahn, an dem man sich mit Trinkwasser versorgen kann. Weiter weiter weiter. Belchite sechs Kilometer. Gegen Abenddämmerung durchquere ich das neue Blechite, das nach der Schlacht im Sommer 1937 errichtet wurde. Die alte Siedlung wurde als Mahnmal belassen: Seht nur, was der Krieg anrichtet! Ein Ensemble zerschossener, ausgebombter Häuser, mehrere Kirchen, Brunnen, Marktplatz. Würde mich interessieren, wieviel Blei verschossen wurde während der etwa zwei Wochen andauernden Kampfhandlungen. Wieviel Gemetzel. Wieviel Hass, wie wenig Erbarmen. Man sagt, es wurde niemand verschont. Es gab nur noch das Töten oder den eigenen Tod. Auf beiden Seiten des wirren Kriegs. In den letzten Sonnenstrahlen schimmert die Häuserlinie der Ruinen rötlich. Vorbei am Besucherzentrum folge ich entgegen dem Uhrzeigersinn einem Weg entlang es Zauns bis zur Gegenüber liegenden Seite, wo ich in den Google Maps einen Wildzeltplatz ausgespäht hatte. Als könnte man durch schlichtes Umrunden des Mahnmals die Zeit zurückdrehen.
Ich bin normalerweise sehr vorsichtig, was Wildzeltplätze angeht. Diesen hier nehme ich ungesehen hin. Eine kleine Schutthalde zwischen Einzäunung und der nahen Landstraße, ein Gehöft, Hundgebell und Straßenrauschen dominiert von der Iglesia de San Martin de Tours.

Das ist kein Wildzeltplatz. Das ist eine Sakristei.

Hier und Jetzt, Ostermontag, 13. April 2020. Spanien unbereisbar. Frankreich unbereisbar. Deutschland, ganz Europa. Grenzen allüberall. Ich räume das Atelier auf, dringend nötig, überlege, wie ich die Ausstellung gestalte, obwohl niemand sie sehen wird. Aber ich bin es mir selbst schuldig, eine Atelierausstellung zu machen. Nachts hatte ich geträumt, mit Freund QQlka ein paar Bilder an den Außenwänden unterm Vordach aufgehängt zu haben. Zwischen Brennholzanhängern, Schrotthaufen, Kunststoffmüll und platten Schubkarren. Im Aufwachen reif ich, inspiriert wie Wickie, Ich habs! Wir behängen die ganze 50 Meter lange Wand mit Kunst und machen vorm Hoftor einen Aussichtspunkt, von wo die Leute mit Fernglas die Ausstellung anschauen können.
Mein Bett ist der trostloseste Ort des ganze Planeten. Trostlos. Ohne Trost. Gibt es überhaupt noch Orte? Wirres Zeug, das einem den Tagesstart bereitet. Surreales Lunchpaket deiner Nachtträume.

Und die beiden Zweibrücken-Andorras? Langsam merke ich, wie ich mich aus den Reisen von 2000 und 2010 verabschiede, wie sie immer blasser werden und sich auf ihren Rückwegen verlieren im Nebel der Vergangenheit. Im Jahr 2000 bricht wildzeltend neben der Kreismülldeponie in Berg/Pfalz der letzte Reisetag an. Es ist der 13. Mai 2000. Im Jahr 2010 verbringen Frau SoSo mit dem Auto tourend vermutlich eine zweite Nacht auf dem frühsaisonleeren Campingplatz in Sankt Pere Pescador. Frau SoSo berichtet im Rückspiegel über das Abenteuer.


Den Artikel vom gestrigen Tag 27 liefere ich im fertigen Buch nach; er erfordert etwas Recherche und Fingerspitzengefühl.

Das rostige, nicht sehr schöne Möbelstück im länglichen Wohnzimmer des Herrn Irgendlink | #zwand20

(Nachträglich geschrieben am 22. April 2020).

Verflixtes Deutschsprechen. Jetzt habe ich den Tote Hosen Song mit dem Schinken, dem Ei und dem belegten Brot im Ohr. Überm Tresen bleckt das Logo von Knittels Campingplatz. Ein geschnitztes Holzbrett mit Fischen und Angeln. Aus dem I im Namen schwingt sich eine filigran geschnitzte Angelschnur. Daran zappelt ein großer Fisch mit verzerrt todeskämpfend geöffnetem Maul.

Deutschsprechen aber als Auffrischung. Wie so eine Tetanus-Impfung. Blick auf den Ebrostausee. Ein paar Anglerboote ziehen ihre Bahnen. Rot bleckt das Geländer der Brücke beim Procter & Gamble Werk. Sind wir noch Katalonien, frage ich. Nein! Aragòn. Der Mann am Tisch gegenüber ist ein deutsch sprechender Spanier, der lange Zeit in Dortmund gelebt hat. Klingt so, als ob er Katalanien nicht mag. Ich vertiefe das Gespräch nicht. Aber irgendwie kochen wir doch alle im gleichen, großen Europatopf.

Wie naiv, Kunstbübchen, wie naiv. Hast Du den Graffiti-Krieg nicht gesehen? Diesseits und jenseits der Grenze zwischen Katalanien und Aragón findet man jede Menge Schriftzüge, die Freiheit für Katalanien fordern und solche, die Nein sagen zu Katalanien. Oft sind es Denkmale wie jenes stählerne Schiff auf der nördlichen Ebroseite. Hart umkämpfte Werbeflächen. Ein Graffitikrieg tobt diesseits und jenseits der offiziellen Landesgrenzen, stelle ich fest. So kurbele ich hinauf ins Niemandsland um Fabara, nachdem ich einige wenige Kilometer auf der Nationalstraße gekostet habe. Keine Autos überholen mich auf der serpentinensteilen A 1411. A, das steht für Aragón. In Katalanien würde eine Straße dieser Kategorie mit CA beginnen und in Navarra mit NA. Landesstraßen also. Soweit sogut. Ich radele ins Nichts. Kaum jemand begegnet mir, genau wie 2016 auf dem Weg nach Gibraltar. Die Gegend ist unheimlich. Brachen wechseln mit Feldern, steinige Wege zweigen rechts und links ab. Am verwahrlosten Bahnhof von Fabara mache ich einen Stopp. 2016 verweilte ich bis zur Unheimlichkeit an diesem Ort, fotografierte das zerfallende Gebäude gegenüber.Nur noch Baumbewohner und Gestrüpp zwischen maroden Fensterläden. Irgendwo summte etwas Elektrisches aus einem Traforaum. Kein Zug kam vorbei. Aber die Schienen sind blitzeblank. Die Strecke Barcelona-Zaragossa ist in Betrieb. Spiel mir das Lied vom Tod-Stimmung oder noch besser, Spanish Bombs von The Clash. Der Bürgerkriegssong schlechthin. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr ich durch den Krieg geradelt bin in den letzten Wochen. Einen Flickenteppich alter Grenzen und Ansprüche habe ich durchquert, ohne viel von den teils Jahrhunderte alten Konflikten, mitzukriegen. Vom Dreißigjährigen Krieg bis hierher ins scheinbar so vereinte Europa in wenigen Tagen. Eine völlig vernarbte Landschaft. Grenzen allüberall, aber eben nicht mehr offen sichtbar. Wunden allüberall. Notdürftig befriedete Konflikte. Fast muss man sich vorkommen wie auf dem Mond, in dessen atmosphärenlose Oberfläche alle nur erdenklichen Asteroiden, Meteoriten, Brocken und Staub eindrangen und eine unheimlich vernarbte Fläche hinterließen. Der Ist-Zustand der modernen Menschenwelt ist eine gigantische, verkraterte Fläche aus Besitzansprüchen, Kleingeisterei, nationalen und regionalen Konflikten bis herunter auf dei ganz ganz winzigen Konflikte zwischen einzelnen Nachbarn. Vorurteile und eben nie zu Ende gebrachte Kriege, die Abwesendheit von Vergebung sind die Ursache, vermute ich.

Vor meinem geistigen Ohr dudelt also Spanish Bombs und ich komme ganz gut voran von Narbe zu Narbe, von Wasserkonflikt zu Wasserstreit, von Romeojulianischen Liebeskonflikten bis zum den Nachbarn kann ich nicht leiden, ist halt so, war immer so, unsere Familien hatten immer Krieg. Bis Caspe auf ‚meiner‘ alten Strecke im länglichen Ort zwischen Nordkap und Gibraltar. Ich glaube, darin liegt das Paradox, das mich, den Durchreisenden Beobachter so verwirrt. Für mich ist seit seit ich die gesamte Strecke zwischen Nordkap und Gibraltar erradelt habe, ein länglicher Ort entstanden auf dem Narbenteppich des Verderbens all derer, die seit Jahrhunderten an ihren Konflikten festhalten, sie pflegen wie ein Pflänzchen oder ein putziges, beißendes, pelziges Tierchen. Die Narben? Natürlich sehe ich sie. Sie sind wie Möbel in meinem großen, grenzenlosen, selbst zusammen geradelten Wohnzimmer. Die Bevölkerung vor Ort sieht das anders, wenn sie tagein tagaus mit Spraydosen (zum Glück sind es nur Spraydosen und keine echten Waffen), anrückt um mein schönes feines Sofa, zum Beispiel die eiserne Barkenskulptur bei einem alten Castillo neu mit ihren jeweiligen Duftmarken zu besprühen. Heute Nein zu Katalanien, ist es morgen schon durchgestrichen und Freiheit für Katalanien steht auf dem rostigen, nicht sehr schönen, zum Möbelstück gewordenen Objekt im länglichen Wohnzimmer des Herrn Irgendlink.

Es ist ein Feature und not a Bug, würde mein innerer Serveradmin behaupten. Mache dir keine Sorgen, friedlicher Bewohner, es dient nur deiner Unterhaltung und damit Du etwas zu schreiben hast.

In Caspe überquere ich erneut den Ebro. Die Gegend wird gar großartig karl-mayisch. Zumindest so stellte ich mir die Gegenden vor, die der alte Sachse einst in seinen Romanen beschrieb. Staub und Leere und Durst. Irgendwo kreisen Geier. Tatsächlich?

Ich überlege mir moderne Karl May Heldennamen: Old Serverhand etwa, Vimnetou (nach dem Editor Vim) und Hadschi Halef Blogma. Eine Melange aus Karl May Film Melodie und den Spanish Bombs begleitet mich. So komme ich ganz gut voran. Das Lied Spanish Bombs ist übrigens hier in den Lyrics ganz gut dokumentiert. Wenn man einzelne Textpassagen anklickt, erhält man Hintergrundinfos dazu.

Ich stelle fest, es gibt keine Guten im Krieg*. Die Löcher in den Friedhofsmauern, von denen etwa die Rede ist, findet man noch heute und sie stammen gewiss nicht nur von den Roten oder den Faschisten. Beide Seiten waren grausam und erbarmungslos. Vielleicht war es einfach praktisch, den Gegner dort zu liquidieren, wo man ihn auch gleich begraben kann?

Mein innerer Sam Forgetthings versucht die Tristesse zu dimmen, versucht zu vergessen, beziehungsweise nicht daran zu denken. Kilometer um Kilometer, Schützengraben um Schützengraben, sich rettend ins Niemandsland des eigenen, länglichen Wohnzimmers lebe ich nur achtzig Jahre versetzt. Escatrón oder Sàstago heißt schließlich die Entscheidung an der Abzweigung zur A-221. Beide Orte liegen am Ebro, der in einer weiten Schleife eine Halbinsel ins Land gefressen hat. So kann man Narben vielleicht auch sehen. Sàstago wäre eigentlich eher meine Richtung. Dennoch radele ich links, einem Impuls folgend. Unten am Fluss ein Abzweig zu einem Kloster. Vielleicht eine Schutthalde nebenbei zum Wildzelten? Hundert Kilometer auf dem Tacho. Hundemüde und verlockend bleckt das hell erleuchtete Hotelschild. Gönn‘ dir was. Kauf dich frei, kauf dein Gemüt frei. Das billigste Zimmer kostet 68 Euro, mit Halbpension fast 80. Ich gönne mir den Luxus für diese Nacht. Zu viele Narben, zu viele Risse in der Welt. Ich brauche ein bequemes Bett ohne Ritze und etwas warmes zu essen.

Escatron liegt gegenüber der Hospederia, die im ehemaligen Kloster situiert auf der anderen Ebroseite. Es ist eigentlich nur ein kleines Dorf, aber es gibt ein Kraftwerk im Knie des Ebro. Ein Verbrennungskraftwerk. Früher wurde die Braunkohle, die man in Mequinenza förderte, verschürt. Heute hat man, glaube ich auf Gas umgestellt. Unheimliches Gespinst aus Starkstromleitungen liegt über dem Land. Vielleicht ist Handel das Balsam, das die Narben pflegt?

In der Hotellobby lümmele ich in den Abend, surfe im Wifinetz. Ein Bücherregal in der Ecke enthält genau ein einziges, deutschsprachiges Buch:** Panic von Mark T. Sullivan. [Titel noch unklar  – Zukunftsroman der Feinen Künste von Lind Kernig.]Ich denke, das kann ich mitnehmen?Es handelt von einer Jagdgesellschaft in Nordamerika, die abgeschnitten von der Außenwelt von einem unheimlichen Killer angegriffen wird. Einer nach dem anderen wird erlegt und ausgeweidet wie die Tiere, nach denen die Jägerinnen und Jäger auf der Jagd sind. Es handelt von einem Archäologen (Lind Kernig)  auf einer Mondstation der fernen Zukunft, der die Erde erforscht. Zunächst forscht er im digitalen Archiv des Mondes, stößt aber recht schnell an die Grenzen und muss einen Weg finden, auf die Erde zu gelangen, um im dortigen Archiv für digitale Frühgeschichte an weitere Informationen zu gelangen.

(Editiert 16. Juni 2020, Buchfundszene neu modelliert)

Edit 12. Juli 2020:

*Es gibt nur Böse und Antiböse

** Buchtitel Die Existenz/L’Éxistance. Das Leben in der Mondkolonie L’Existance hält nur ein begrenztes Repertoire an Erlebbarem bereit. Als wäre der Quell zu Erlebnissen irgendwann abgeschnitten worden und die Menschen, die in der Éxistance dem Elend der irdischen Apokalypse entkamen, durchleben Routinen, wieder und wieder. Neues ist rar. Neues ist ein knappes Gut. Neues gibt es nicht in der Kolonie, sondern nur auf dem Planeten. Der Zugang zum Planeten ist seit Jahrhunderten unmöglich. Kernig muss einen Weg finden, auf die Erde zu gelangen, um die Erlebnisquelle wieder zum Sprudeln zu bringen. Dabe stellt er fest, dass die Existenz nicht die Mondbasis ist, die in der Realität der Lunatier existiert.

Mequinenza | #zwand20

Auf einem Verkehrskreisel steht eine gelbe Walze auf zwei Betonröhren, die aussehen, als seien sie die Räder der Maschine.

Ich darf entführen ins Jahr 2016? Die gestrige Konjunktiv-Etappe ist ungefähr deckungsgleich mit einer Etappe während des Blogprojekts – die Straße nach Gibraltar. Über Hauptstraßen führte der Weg am 31. März 2016 über Balaguer nach Lleida bis zu einem Wildzeltplatz in der Nähe von Mequinenza am Ebro.

Von Engeln und Wahrscheinlichkeiten auf europenner.de

Ein FRühstücksteller mit Brötchen, Wurst, abgepackter Butter und Kartoffelsalat.
Desayuno – Frühstück in Mequinenza im Jahr 2016

Wenn ich jetzt unterwegs wäre, hätte ich den in der Karte verzeichneten Weg eingeschlagen (Ebene Supplement 2020 einblenden und mit der Suchfunktion Mequinenza oder Lleida suchen). Ab dem Wildzeltplatz beim Golfplatz wäre ich dem als iCat bezeichneten Radweg bis Lleida gefolgt und dort auf flussnahen Seitenstraßen südwärts geradelt. Ich hatte (oder hätte) mich ja schon an die ungeteerten Straßen auf dem Urgell-Plateau gewöhnt, wieso also nicht einfach Farbe bekennen und weiter einen verkehrsarmen Weg jenseits des Hauptverkehrs suchen.

Mein gestriger Nachtplatz wäre Knittels Ebro-Angelcamp gewesen. Auf dem Platz hatte ich 2016 morgens nach dem Wildzeltlager gefrühstückt und erstmals seit vielen Tagen wieder deutsch mit jemandem geredet.

Heute (vielleicht auch Morgen) pausiere ich. Ich muss mich auf den harten Einschlag vorbereiten, den der Besuch der Ruinen von Belchite darstellen wird.

Und wo stehen die Reisen Zweibrücken Andorra 2000 und 2010 am Morgen des nun beginnenden 27. Tourtags?

Der Rückweg im Jahr 2000 schreitet weiter mit großen Etappen von über 100 km pro Tag voran. Das Zelt steht auf dem Campingplatz in L’Isle-sur-le-Doubs. Schwülwarme, feuchte Luft.

2010 zusammen mit Frau SoSo, die per Auto nach Borreda kam: ein weiterer Tag in dem schönen Hotel und ein Tagesausflug zu einem Gaudí-Park in der Nähe.

Radeln wie durch eine nordschwedische Baustelle, die niemals endet | #zwand20

Straßenschild gelb und gelb umrandet mit der Aufschrift km 0. BV-4656

Ich loddere. Ich schludere. Ich gehe hart am Limit dieser Tage. Ich erinnere mich an keine Zeit des Lebens, in der ich produktiver war, in der das Hirn ratterte wie ein freigelassener Hamster, der dem Rad entronnen ist. Überall Futter, überall Weite, überall Licht. Die Außenwelt mag eng geworden sein, unpassierbar, aber innen, und darauf kommt es an, ist mächtig Bewegung entstanden. Vielleicht handelt es sich hierbei um eine Art Antidepression. Vollgepumpt mit bordeigenen, vom Körper selbst erzeugten Hormonen surft man auf einer Welle des Glücks. Die Fähigkeit, ungutes Unabänderbares emotional auszublenden, tut Ihr Übriges. Kann ich mich glücklich schätzen?

Mann, Mann, Mann, brummt mir der Kopf. Hätte ich bloß nicht die Weinflasche geöffnet, die mir Manolo beim Segre-Stausee vors Zelt gelegt hatte. Etikettenloses, purpurenes Gesöff. Mein Kopf sagt, 15 Prozent Alkohol. Mir ist schlecht am gestrigen Morgen. Die aufgehende Sonne sticht. Ich trinke meinen Rest Trinkwasser leer, packe ungefrühstückt das Zeltlager zusammen, schaffe mich den schmalen Pfad runter bis zum Parkplatz beim Aussichtspunkt. Letzter Blick auf den Rialb-Stausee, dann rein in die Kurbeln.

Reiserad vor einem kleinen Bach auf steiniger Piste unter zwei Straßenbrücken
Der Pirinexus jenseits der Grenze bei Le Boulou ist zwar mit nigel nagelneuen Radwegeschildern versehen, hält aber manche Überraschung bereit, wie zum Beispiel diese holprige Bachdurchquerung. bei La Jonquera.

Bloß wohin? Meine angepeilte Route führt über Ponts südwärts durch weites Land bis nach Cervera, wo ich auf der Open Cycle Map einen Radweg verzeichnet sehe. Der mit iCat bezeichnete Weg schlängelt sich ab Cervera westwärts bis nach Lleida. In der Karte habe ich die Route als gestrichelte Linie eingezeichnet (Ebene Supplement20). Radwege ziehen mich magisch an. Sie sind die Blüten, die den vorankommenswilligen Radler verlocken. Wie Blumen für Insekten. Radweg? Nix wie hin! Spanische Radwege sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, weiß ich aus der Reise nach Gibraltar im Jahr 2016. Am Besten, man fährt Fatbike in Spanien – okay, ich übertreibe ein wenig, dennoch, ich sah Dinge, die als Radwege ausgezeichnet sind in Spanien …

Wenn du dich in einem Flusstal befindest, hast du als Radler neben vielen Möglichkeiten des Weiters insbesondere zwei, die sehr verlockend sind: flussaufwärts oder flussabwärts.
Segre, Segre, woher kommst Du, wohin gehst Du? Wikipedia verrät, der Riu Segre ist mit 265 Kilometern  der längste Nebenfluss des Ebro. Er entspringt auf gut 2600 Metern Höhe nördlich der spanischen Exklave Lívia, nahe der Grenzstadt Puigcerda. Der Segre ist also ein alter Bekannter für mich, stelle ich fest. Schon auf der Andorra-Reise 2000 radelte ich talaufwärts bis Bourg Madame, wunderte mich über den Fetzen Spanien in Frankreich, der auf der Karte eingezeichnet war: Lívia.
Da die Gegend ziemlich karg ist, ich erschöpft war und überhaupt im Jahr 2000 auf dem Rückweg mit kaum noch Geld in der Tasche auf Vorankommen programmiert war, ließ ich sowohl Segre als auch Lívia außer acht.
Erstaunlich, dass es oft mehrere Anläufe braucht, um Erkenntnis zu erzeugen, um Wahrnehmung zuzulassen, um die innere Landkarte mit den Informationen, die man im Laufe der Jahre sammelt, zu kolorieren. Wiederholung und hamsterradeske Vorgehensweisen sind da manchmal ziemlich nützlich.

Flussaufwärts fahren würde mich im Hier und Jetzt nicht nur in die falsche Richtung führen – Belchite liegt südwestlich – es würde mich auch in den Krieg führen. Ich recherchiere Lívias kuriosen Exklavenzustand, der weit in die frühe Neuzeit zurückführt, in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mitten in umkämpftem Gebiet gelegen, wurde die Grenze rund um den Ort mit dem Pyrenäenfrieden 1659 festgeschrieben. Seine iberische Existenz verdankt Lívia den damals herrschenden Status als Kleinstadt. Der Spanisch-französische Krieg überdauerte den Dreißigjährigen Krieg um eine gute Dekade. Elf Jahre Kriegsverlängerung im 17. Jahrhundert. Darauf hat niemand Lust. Nein nein, Segre aufwärts zu radeln würde mich nicht nur weit weg bringen vom Ziel, es würde mich am sanft murmelnden Gebirgsbach womöglich unterschwellig an Krieg und Verderb heranführen.

Noch ziemlich torkelig von Manolos Rotwein schaffe ich mich auf der Straße einen Kilometer zurück bis zum Mirador Torreblanca, wo die Straße zum Ort Torreblanca ungeteert und staubig sich Segre abwärts schlängelt. Drei Kilometer bis zum Dorf, das ich in der Mittagsstille durchquere und weiter, weiter, weiter flussabwärts. Bei Artesa de Segre überquere ich den Fluss und folge dem Canal d’Urgell.

Faszinierend! Mittlerweile habe ich mich an die Gravelstraßen gewöhnt. Es fühlt sich an, wie durch eine nordschwedische Baustelle zu radeln, die niemals endet. Oft folge ich kilometerweit einer Staubwolke, die von einem der selten verkehrenden Fahrzeuge, meist Traktoren, aufgewirbelt wurden. Bin ich das Volk Isreal der Moderne, tagsüber geleitet von einer Staubwolke, des nachts von brennenden Büschen …? Das Säuferkopfweh legt sich langsam, die Sinne werden klar und ich spiele mit solchen Gedanken an Biblisches. Immerhin ist ja auch Karfreitag, nicht? Die landwirtschaftlich genutzte Gegend bietet nicht so viel Abwechslung. Weitsicht, ja, davon hat es viel hier. Weitsicht und Staub und dieser kleine Kanal, der ein markanter, ziemlich tiefer Einschnitt ist im trockenen Land. Die Gegend wäre vermutlich unbelandwirtschaftbar, wenn es den Bewässerungskanal nicht gäbe. In der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts erbaut, bringt der Canal Principal (siehe Abschnitt mitten im Artikel), das nötige Wasser aus den Pyrenäen, um das Urgellplateau im Spitz zwischen Segre und Ebro zu einer ertragreichen landwirtschaftlichen Gegend zu peppen.

Südlich von Artesa bohrt sich die Kanalstrecke durchs Plateau, verschwindet in einem Schlund, ward nie mehr gesehen, so denke ich, aufwärts kurbelnd, schwitzend bis zu einer kleinen Kirche namens Marcavau. Hier schlafe ich meinen Rausch aus auf einer kleinen Bank unter uraltem Olivenbaum. Mann, Mann, Mann, tu das nie wieder. Wein aus Flaschen ohne Etikette ist immer gefährlich. Hätte, hätte, Weinflaschenetikette. Das kann man sogar singen.
Eine Frau räuspert sich, weckt mich. Peregrino? Fragt sie und präsentiert mir einen uralten, riesigen Schlüssel. Hmm, achsoo, fällt dann der Groschen, sie ist die Küsterin und bietet den Erschöpften Einlass in das normalerweise verschlossen Gotteshaus. Warum nicht, gebe ich ihr zu verstehen und dass es lange her ist, mit der Pilgerei. Dass ich unterwegs bin in Sachen Krieg, verschweige ich ihr. Es würde nur zu Missverständnissen führen an der scharfen Kante der Sprachbarriere. Wie sollte ich Ihr erklären, dass ich aus dem Dreißigjährigen Krieg über den Pyrenäenkrieg flussabwärts unterwegs bin zu den spanischen Bomben des Bürgerkriegs in den 1930er Jahren?

Die Kirche ist kühl, ruhig, ergreifend. Ich bin alleine. Die Kraft kehrt zurück. Kerze anzünden … es gibt ja noch eine Realität neben dieser fiktiven Reisegeschichte: das Pandemiegemetzel da draußen; all die Menschen, die erkranken, festsitzen, hoffen, bangen, sterben werden, schon gestorben sind … nicht genug Kerzen vorrätig in der kleinen Kirche von Marcavau für all das Übel. Trotzdem. Ich muss doch was tun?!

Am späten Nachmittag kurbele ich weiter auf dem frühlingsfrisch bepflanzen Plateau oberhalb des Kanals. Unheimliche Vorstellung, dass sich das Wasser unter mir seinen Weg bahnt. Auf der Karte sind in Abständen von etwa 350 Metern Berggipfel verzeichnet. Auf gerader Linie südwärts wie eine Kette. Noch merkwürdiger, die Dinger sind durchnummeriert. I’U 387,5 – Io Dos 395,6 – Io Tres – 418,3 – Io Quatre – 405,7 – Io Cinc – 422,1 – Io Sis – 432,3. Dann ein Bruch in der Nummerierung. Der siebte ist der Io Serra de la Torreta – 472,2 hoch gelegen.

Rätselhaft. Schnurgerade führen die Ios südwärts und ich ranke mich wie eine Schlange auf den staubigen Wegen darum. Die sieben Gänge Jesu vielleicht, spukt es mir im Kopf: Urteil, Kreuz nehmen, erster Sturz, Begegnung mit Maria, Simon hilft, Veronika reicht das Schweißtuch, zweiter Sturz … das sind doch mehr Stationen, und, ach ja, auf der Karte sind auch noch der Io Deu – 412,5 und der I’Onze 381,9 verzeichnet.

Irgendwann fällt der Groschen. Die Ios liegen genau über dem unterirdischen Kanal. Der Wasserader, die die umliegenden Felder fruchtbar macht. Jede Wette, dass es sich um Pumpstationen handelt.

Ein tief eingeschnittener schmaler Kanal mit beidseitigen unbefestigten Wegen biegt sich in einer lInkskurve. Unbelaubte Bäume spiegeln sich im Wasser.
Kanal d’Urgell in der Nähe von Belpuig. Quelle: Von Wela49Eigenes Werk, CC BY 3.0, Link

Im Dorf Ivars d’Urgell fülle ich meine Trinkflaschen auf. Es ist schon spät. Die Sonne wirft meinen langen Schatten in den Staub der Straße. Mein angepeilter Radweg mit dem Kürzel iCat ist nicht mehr weit. Vielleicht finde ich dort eine Schutzhütte? Weites, karges Land, alles gut einsehbar. Aber schließlich dann doch ein Parkplatz vor dem Golfplatz Belpuig. Nix mehr los hier am Abend, so dass ich das Zelt ganz unverschämt auf einer kleinen Wiese neben dem Parkplatz aufbaue. Niemanden wird es kümmern, so hoffe ich und als es dunkelt, bin ich ohnehin unsichtbar.

Tag … ich muss wieder Finger zählen, vergangenen Montag bin ich seit drei Wochen unterwegs, Tag 21 also. Daumen raus, Dienstag 22, Zeigefinger, Mittwoch 23, Mittelfinger Donnerstag 24, Ringfinger, Karfreitag, Tag 25 der Reise und nun, da ich dies schreibe auf einer kleinen Bank in der Morgenkühle, kleiner Finger, Tag 26 jetzt.

Bank, Morgenkühle, schön tourscharwenzelnd beim Golf Pitch und Putt Belpuig? Hättste wohl gerne. Wach auf! Bürostuhl ist angesagt.
Auf dem einsamen Gehöft ließ ich es gestern ruhig angehen. Ich verbummelte den Tag, brachte Saatgut aus, begann mit dem Malen eines Bildes für das Col-Art-Projekt, das wir kürzlich ins Leben gerufen hatten.

Die Vorgängerreisen Zweibrücken-Andorra 2000 und 2010 befinden sich vollends auf dem Rückweg. 2000 erwache ich auf einem Campingplatz an der Loue zu Füßen des Jura-Gebirges. 2010 treffe ich in Borreda endlich Frau SoSo wieder, die an dieser Stelle über unser Wiedersehen berichtet – die Vorlagen aus der Vergangenheit betrachtend, auf die Gegenwart abgleichend, beginnt nun vollends Neuland. Das Blogbuch entwickelt sich in eine unerwartete Richtung. Selbst in der Anfangsphase vor ein zwei drei Wochen konnte ich nicht ahnen, wie es weitergeht, ob es weitergeht. Die pandemisch bedingten Probleme, die die momentane Zeit mit sich bringt, kann ich durch die geradezu lustvolle Arbeit an den erfundenen Texten gut dimmen.

Was nicht geht, ist den Umstand zu ertragen, dass es unmöglich geworden ist, die geliebte Frau SoSo hinter der Schweizer Grenze zu besuchen. Oder sie mich. Die rührenden Bilder in den Medien vom Zaun bei Kreuzlingen kommen mir in den Sinn. In die Gitter gekrallte Hände Liebender, zwei Meter voneinander entfernt und mir wird einmal mehr der Irrsinn von Menschengrenzen bewusst, ihre behördlich angeordnete Willkür, ihre über Jahrhunderte gewachsene Tradition. Wir sitzen eingekerkert wie Mensch gewordene Lívias in fremden Landen und um uns schwirren Viren, die sich wohl sehr wundern würden über das Menschenverhalten, wenn sie denn denken könnten.

Wie der Schwede der iberischen Halbinsel den Manolo des Nordens traf | #zwand20

Blick über ziseligen Uferbewuchs auf einen blauen Fluss unter blauem Himmel. Auf einem Hühel jenseits steht ein Kastell.

Rialb-Stausee, Katalanien, 9. April 2020. Ein Ruhetag. Just als ich den vorigen Blogartikel fertig geschrieben hatte und am ersten Korrekturdurchlauf arbeitete, näherte sich ein Mann mit Hund übers Feld. Das Schneidersitzbüro im Europennerzeltlager ist dieser Tage ziemlich komfortabel. Dank des anhaltend schönen Wetters – kein einziger Regentag bisher – kann ich den Außenbereich nutzen. Ich sitze sozusagen auf meiner Terrasse. Isomatte auf trockener Erde neben ockerfarbenem Acker. Kaffee köchelt auf dem Trangia. Schon von Weitem lächelt der Mann, ein Signal, dass er mir wohlgesonnen ist. In Spanien, respektive Katalanien hatte ich ohnehin noch nie Probleme wildzeltend. Nicht mit Menschen. Niemand kümmert es. Niemand ruft die Polizei. Niemand zeigt dich an. Und wo sollte ich auch hin? Keine Ahnung wo der nächste Zeltplatz ist. Ich spreche die Sprache nicht genügend gut, als dass ich mich durchfragen könnte. Außerdem ist hier viel Platz und viele wilde Nischen, in denen man nicht auffällt, niemanden stört.  Wir halten ein Schwätzchen, radebrechend. Der Mann spricht langsam, aber Dialekt, flickt ein paar Brocken Englisch ein. Schwer zu schätzen, wie alt mein Gegenüber ist, vielleicht siebzig? Das Hundchen beschnuppert den Lebensmittelsack. Es hat wohl  den Zipfel Saucisson Sec gewittert, nussige Trockenwurst, der es von Frankreich bis hierher geschafft hat. Der Hund heißt Bella und sein Herrchen stellt sich als Manolo vor. Früher sei er auch mit dem Fahrrad gereist. Auf dem Jakobsweg bis nach Finisterre, bis ans Ende der Welt. Ha, und da haben wir ja etwas gemeinsam mit der Pilgerei. Unser Gespräch funktioniert trotz der Sprachbarriere ziemlich gut. Das haben wir Pilger wohl so an uns? Das Schwätzchen dreht sich, wie fast immer beim Reisen, um das Woher und Wohin. Dass ich aus Allemagna komme, sage ich, seit drei Wochen unterwegs, tres semanas. Und dass ich nach Belchite möchte. Da verdüstert sich sein Blick. Ruinas, mas Ruinas sagt er. Belchite ist eine Wunde in Spanien, das weiß ich. Vielleicht DIE Wunde?! Manolo sagt, ich könne ruhig hier bleiben, es würde niemanden stören und wenn ich etwas brauche, könne ich zum Haus kommen, Aqua, macht er eine Gluckergeste mit Hand und Daumen. Und eine Ich-guck-Dich-Geste, nonchalant aufs Zelt zeigend. Brauchst keine Angst haben, Peregrino, hier kommt nix weg. Geh spazieren, schau dir den Stausee an. Und das Kloster Santa Maria de Gualter, mit dem Kinn über die Schulter gestikulierend, da, da unten, nicht weit weg.

Ich bin so müde. Ich bin unheimlich erschöpft. Ich bin so viel gekurbelt die letzten drei … Himmel, dies ist schon die vierte Woche der Reise. Ein Ruhetag. Genau das was fehlt. Fast kommt er mir vor wie ein Engel. Anstifter zur Ruhe. Dieser Manolo des Nordens (den Manolo des Südens lernte ich auf dem Radweg zwischen Valencia und Pucol im Jahr 2016 kennen).

Als er mit dem Hundchen von dannen trottet, lungere ich noch eine Weile vorm Zelt, bis die Sonne so hoch steht, dass ich keinen Schatten mehr habe. Korrigiere den Blogartikel zu Ende, nehme die Satteltaschen vom Rad. Ich muss mir den Stausee jetzt doch einmal aus der Nähe anschauen. Vielleicht ein Bad? Ich bin der Schwede der iberischen Halbinsel. Wo alle Einheimischen sagen, brrr ist das kalt, schwitze ich mich halbtot. Das ist genauso, wie wenn Skandinavier zu uns in die Pfalz kommen und bei zehn Grad Außentemperatur in den nächsten Weiher hüpfen, denke ich.

Strommasten und wie Spinnweben über den Himmel ziehende Leitungen auf karger, spanischer Landschaft. Das Bild hat eine rötliche Vignettierung zum Rand hin.
Symbolbild in der Gegend um Balaguer und Lleida, aufgenommen im Jahr 2016.

Runter zur Staumauer. Schmale geteerte Straße an Betonmonstrum. Über Steine kann man bis zum See. Eine graue, felsige Narbe ringsum zeigt, wie hoch das Wasser normalerweise steht. Es ist unheimlich trocken, scheint es mir. Fast zehn Meter breit ist der Niemandsbereich zwischen der maximalen Höhe und der  Wasseroberfläche. Ein Angler auf der gegenüberliegenden Seite. Wir winken uns zu. Ich halte den Finger ins Wasser. Brrrr! Muss ja nicht den Schweden spielen. Sitze eine Weile auf einem Stein. Das Elektrizitätswerk summt. Wie Spinnfäden ziehen sich die Stromleitungen quer übers Tal bis zum Umspannwerk.

Später beim Kloster. Geschlossen. Auf dem riesigen, ungeteerten Parkplatz steht nur ein Auto. Ein paar Mülltonnen wie verloren. Thujabäume führen wie eine Miniallee auf ein weiteres Umspannwerk hinzu. Verstehe einer diese Elektrotechnik. Das Kloster wirkt von Außen wie eine Ruine, aber da man es touristisch besuchen kann, vermute ich, dass sich im Innern etwas Sehenswertes befindet. Die Wikipediaseite auf Spanisch gibt her, dass es ein Benediktinerkloster ist. Ein Bild zeigt eine Arkade mit Säulen hinter grüner Wiese. Kräutergarten vielleicht? Ein bisschen erinnert mich das Ambiente an das Kloster Hornbach in meiner Heimat. Ebenfalls eine Benediktinerabtei. Wie mächtig diese Orden doch einst waren. Wie sie sich über ganz Europa verbreiteten. Was von ihnen geblieben ist! Ob es sie noch immer gibt, die Benediktiner? Ich müsste recherchieren. Aber es ist ja Ruhetag. Ich bummele umher, fahre nach Ponts, einen Laden finden, eine Tapasbar zur Nachmittagszeit, etwas einkaufen. Ostern steht vor der Tür, ich sollte die Vorräte auffüllen. Im katholischen Spanien sind am Wochenende die Läden sicher noch viel ‚zuer‘ als bei uns zu Hause …

… halt, halt, halt Herr Irgendlink! Pandemie! Heimischer Bürostuhl, Tag 24 der Reise. Kein Ruhetag. Ich habe mir endlich die vom Sturm gefällte Pappel vorgeknöpft, die in der Brache auf des Nachbars Land liegt. Das Grün explodiert dieser Tage geradezu. Ich darf nicht zu lange warten, sonst wuchert die Baumruine zu. War nicht ohne, den zwar liegenden, aber teils unter Spannung stehenden Stamm von der Wurzel zu trennen. Trotzdem ging alles gut und am gestrigen Tag scheide ich den dreißig bis 50 Zentimeter dicken Stamm in drei Meter lange Stücke, ziehe sie an der Winde hängend mit dem uralten Porschetraktor hinauf zum einsamen Gehöft. Fünf dicke Stämme liegen jetzt vorm Atelier. Ich weiß noch nicht, was ich damit mache. Eine Recherche bei Ebay ergibt, Pappelholz ist eigentlich wertlos. Zwischen 15 und maximal 150 Euro werden Stämme wie die meinen angeboten. An Selbstabholer. Man schlägt vor, sie zu Brennholz zu zerkleinern oder zu Hackschnitzeln. Egal, die Dinger mussten vom Acker und sie sind vom Acker.

Die Arbeit im Holz und im Garten ist eine wunderbare Ablenkung. Man kann diesen Teppich aus Horrormeldungen, der einen tagein tagaus aus dem Internet und anderen Medien zu ersticken droht prima halbwegs verdrängen. Schweiß und Kettensäge, Viertonnenseilwinde und Dieselruß. Die Hölle auf Rädern, wie mein Vater den Porschetraktor zu nennen pflegte, entpuppt sich als kleines Paradies, als Klostergärtchen hinter dicken, alten, schweren Mauern. Benediktinisch filigran angelegt im eigenen Kopf, der der Tristesse der Pandemienachrichten zu entrinnen versucht.

Natürlich lagere ich nicht am Stausee Rialb. Wie könnte ich auch. Spanien listet etwa 150.000 bestätigte Infektionen. Fast 15000 Todesfälle. Es ist schrecklich. Alleine schon, mich darüber informieren zu müssen lässt es mir eiskalt den Rücken runterlaufen.

Es ist nichts geblieben außer dieser  meiner Conditional-Travel. Die Reise im Konjunktiv. Könnte, wollte, hätte.

Als ich gegen Sonnenuntergang zum Europennerzelt zurückkehre, liegt eine Flasche Rotwein vorm Zelt. Kein Etikett. Eine dunkelgrüne Literflache mit echter Korken, riojadunkler Viino tinto, und eine Tüte mit Brot und Queso und einem Stück Trockenwurst. Manolo, alter Pilger, oh Herr, welch‘ großartige Menschen es doch gibt.

Und die beiden Zweibrücken-Andorras? Im Jahr 2000 radele ich in riesigen Etappen wieder nach Hause. An Tag 24 ssteht das Europenner-Nachtlager zwischen Cressia und Augisey direkt neben der D 117 nahe Lons-le-Saunier. Wegen eines Unwetters, das gegen Abend übers Land zog ein suboptimales Notlager direkt neben der Landstraße. Ich erinnere mich, dass ich aus Angst vor Blitzeinschlägen in voller Regenmontur eine Weile fernab des Zelts auf dem Boden lag.
Die Reise im Jahr 2010 endete an Tag 24 auf einem urigen Wildzeltlagerplatz jenseits von Berga. Unter einem Olivenbaum bei der Kirche Sant Quirze de Pedret. Der Riu Llobregat, ein ‚Schwesterfluss‘ des Riu Segre sang mein Schlaflied.

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