Von Diez zur Fuchskaute – #UmsLand Tag 6

Idealerweise befände sich irgendwo außen an der Leichenhalle eine Steckdose, an der ich meine Geräte laden könnte. Der Nachlagerplatz ist jedenfalls ein Jackpot! Ruhige Lage, nur von Nordwest summt eine geschäftige Straße. Das Dorf, Homberg, schläft. Keine Hundegassigänger, nur vereinzelt Spazierende auf den vielen Wanderwegen rings um die Fuchskaute. Nebenan ist ein Trinkwasserhahn, einer jener nach oben spritzenden Hähne mit Druckknopf, wie man sie oft in Schweizer Städten findet. Das Wieschen hinter der Leichenhalle ist frisch gemäht, ideal zum Zelten und niemand in der Nähe, den es kümmert, ob da jemand für eine Nacht lagert oder nicht.

Zwar nicht wirklich ein Jackpot, aber sehr bizarr war der gestrige Lagerplatz auf einem verlassenen Sportplatz in der Nähe von Diez. Ich fühlte mich an einen Lagerplatz irgendwo in Lappland nahe Karesuando erinnert, auch ein Sportplatz in einem winzigen Dorf neben einer Schmugglerroute, die zu einer Kaltwasserquelle führe, so sagte man. Dort, vor fünf Jahren, hochoffiziell zeltend, dem Jedermannsrecht seis gedankt, fühlte ich mich auch sehr wohl und stellte das Zelt mitten im Tor auf. Gestern begnügte ich mich mit einem weniger prominenten Platz am Rande bei den Mannschaftsbänken unter einer Kiefer. Das Dorf war nah. Bis spät abends hörte ich die Stimmen feiernder Bürgerinnen und Bürger und um Punkt null Uhr sangen sie ein Geburtstagsständchen. Hoch soll er leben. Ein Mann also, der geburtstierte just am gestrigen 30. August, irgendwo nahe Diez in einem kleinen Dorf.

Die Strecke gestern: barbarisch! Bis Diez, noch etwa acht Kilometer in einem Bachtal lief es ganz gut auf geteerten Wegen. Schöne Stadt. Ich trank Kaffee, hinterließ die coronabedingte Datenspur auf einem Zettel, versorgte mich mit Croissants und Käsestangen für unterwegs. Einmal mehr der Eindruck, sie lässt sich gar nicht umsetzen, die totale Hygiene. Sei es nur, dass Geldfinger auch Kaffeeteilchenfinger sind usw. Seisdrum, irgendwo muss man sich ja versorgen.

Durch die Altstadt und Fußgängerzone, jemandem Luftpumpenhilfe gegeben und, achja, ich könnte ja auch mal wieder aufpumpen, das Hinterrad eiert. Leider schafft die Notluftpumpe Drücke über zwei Bar nicht mehr, also eiere ich weiter auf der Suche nach einer Tankstelle, scheitere an Lustlosigkeit und Umkehrwillen in Diez, ächze Richtung Montabaur und stelle nach drei Stunden fest, dass die Rheinland-Pfalz-Radroute gar nicht durch Montabaur führt, sondern östlich daran vorbei. Das erklärt, dass irgendwann Montabaur nicht mehr auf den Hinweisschildern stand und ich die Stadt auch nie erreichte. Brutalstes Auf und Ab auf oft wüsten Forstwegen, die zudem von Holzerei zerpflügt und mit Splittern und Ästen übersät sind. Ich radele bis in den Nachmittag nur mit einem Schnitt von unter zehn Kilometern. Demütig zwar, aber über meine Belastungsgrenze gehend, so dass ich in Walmerod erleichtert bin, endlich einen Bahntrassenradweg zu ergattern. 11 Kilometer windet sich das Kleinod durch eine wunderbare Landschaft, mal Wald, mal Wiese, wenig Feld und Abgeerntetheit, bis nach Weltenburg. Dort endlich Luft fürs Hinterrad. Schrieb ich im Frühling in diesem Blog über die Spanischen Vias Verdes und die Areas de Descanza, also die ab und zuen Picknickplätze am Rande der alten Bahntrassen, so muss ich für den Westerwald sagen, die Bahntrassenradwege selbst sind die Areas de Descanza. Eine elf Kilometer lange Erholungszone. Ich trödele dahin.

Richtung Rennerod rings um Seck nimmt das Land eine absolut idyllische Wendung, da bin ich mir mit einem Radlerpaar einig, das einst sechstausend Kilometer rund um Deutschland radelte. Wir fotografieren und lustwandeln, vorbei an einem Golfplatz, wo uns dicke Autos den Weg versperren, Menschen mit Caddys dahinscharwenzeln, der Sonntag gefeiert wird und neben der Übungsbahn stehen Schilder, dass man angezeigt wird, sollte man es wagen, einen der Golfbälle aufzulesen, die ab und zu flapsig auf dem Radweg landen. Nicht etwa Warnschilder wie man es von anderen Golfplätzen kennt, auf denen vor Golfballflug gewarnt wird. Egal, ich überlebe die Schusselgolfübungsanlage und natürlich stehle ich keinen der Bälle, ich schwörs.

Rennerod, fragt Ihr? Und ich singe eine Lobeshymne auf die bisher einzige Gemeinde am Radweg, die für Trinkwasser sorgt. Außerhalb auf dem Anstieg zur Fuchskaute, die nur etwa zehn fünfzehn Kilometer entfernt ist, gibt es einen kleinen Trinkbrunnen direkt auf der Wasserscheide zwischen Lahn und Dill, an der ich meine Flaschen fülle.

Ein Bahntrassenradweg aus schwarzer Asche führt schnurgerade fast unheimlich durch den Nadelwald und jenseits des Radwegs droht ein Militärgelände bis hinauf nach Rehe. Der Radweg führt weiter zur Krombachseetalsperre. Ich biege ab. Zwischen Rehe und Homberg steht, wohl auf der Gemeindegrenze, eine skurrile Tafel, auf der eine Art Friedensvertrag von 1997 verewigt ist, mit dem Gelöbnis Aisch werds nie wieder tun (siehe Bild). Ich recherchiere bei einem Mann, der auf einer Parkbank sitzt und in den Abend starrt. Die Geschichte geht so: Einmal im Jahr feiern die Homberger im Gemeindehaus in Rehe ein Fest, sozusagen zur Miete bei den Nachbarn. Der Ortsbürgermeister von Homberg pflegte bis zum Friedensvertrag von 1997 nach dem Fest das Reher Wappen in der Halle abzuhängen und das von Homberg aufzuhängen. Mit dem feierlichen Kontrakt war dann Schluss, sagte der Mann und setzte verschmitzt hinzu, seither hängt unser Bürgermeister unser Wappen ÜBER das Rehener Wapen.

Herrliches Kleinod am Rande des Weges.

Am gestrigen Tag, dem ersten Tag der Stadtradeln-Phase Zweibrückens, schaffte ich leider nur knapp 70 Kilometer für das Budget, aber immerhin. Hey, das ist der Westerwald hier und die Bahntrassenradwege sind meine Erholungszonen.

Nun noch zwei Kilometer bis hinauf zur Fuchskaute, die mit etwa 650 Metern der höchste Berg im Westerwald ist, meine ich.

Mittig von vorn nach hinten verlaufender Radweg, rechts und links Wiesen, im rechten Hintergrund ein Hügel mit einer Burg samt Hügel. Links Wald, darüber wolkiger Blauhimmel.
Unterwegs, bei Holzheim
Das Rad steht in der Bildmitte vor einer aus Naturstein gemauerten Unterführung, die auf die andere Seite des Dorfes führt an einem Kreisvortritt. Darüber Blauhimmel.
In Diez
Aus Stein gehauene Skulptur, die einen radelnden Menschen zeigt. Die Vorderseite des Vorderrades und die Rückseite des Hinterrades sind abgebrochen. Die Skulptur steht auf einer Art Schanze aus Klinkersteinen. Im Hintergrund ein Gebäude mit zwei Kippfenstern.
Hoch zu Rad
Hellblaues Fahrrad an schmiedeisernem Gitter gelehnt, mit einem Korb dekoriert, in welchem rote Begonien blühen. Im Hintergrund eine Hecke und Häuser.
Platt, aber nicht minder hübsch
Ritterrüstungskulptur aus Metall in Habachtstellung auf Metallplatte auf grauem Plattenboden vor modernem Gebäude.
Der Ritter von Görgeshausen
Große rote Trillerpfeife als Hausnummerbeschriftung an Pfahl befestigt, an welchem ein Familienwappen hängt. Im Hintergrund ein Baum und Häuser unter grauem Wolkenhimmel
Es Peifche
Graues Haus mit vielen Fenstern, vor denen überall weißblühende Blumen aus Blumenkisten wachsen, unter grauem, bewölktem Himmel.
Das blühende Haus von Niedererbach
Klassischer Jagdhochsitz am Wegesrand. Holzkaine aus Fertigelementen auf handgezimmertem Unterbau. Drumherum Bäume, vorne rechts ein Stück Radweg.
Ein Hochsitz mal wieder
Ein Richtung Himmel fahrender gelber Roller als Deko und Werbung für ein Zweiradgeschäft namens Krekel vor graublauem bewölktem Himmel
Himmelfahrt
Gullydeckel in Westerburg mit dem Wappen der Stadt, ringsum Teer,
Gullydeckel in Westerburg
Sackgassenverkehrschild vor Radweg. Unter der Sackgassentafel steht eine Warnung weiß auf grün: Diebstahl von Golfbällen führt zur Anzeige.
Bitte keine Golfbälle klauen!
Gewitterdunkler Wolkenhimmel über hellblauem Gebäude, das mit Strandszene bemalt ist. Im Vordergrund Wiese, hinten eine Discounterwerbung.
Leider unscharf. Aber trotzdem schön.
Baumstamm von unten fotografiert, aus welchem ein grüner Langlaufloipen-Wegweiser herauswächst. Darüber Äste und Laub.
Verinnerlichte Loipe
Erinnerungstafel aus Metall auf Stein, die zwei Parteien an eine Vereinbarung aus dem Jahre 1997 erinnern soll.
Vergissmeinnicht, aber anders

Von Simmern nach Diez – #UmsLand Tag 5

Dem Hunsrück eine Lanze brechen, oder, vielleicht sagt man als Radler besser, eine Speiche brechen? Jener Moment am gestrigen Tag, auf einem Bänkchen sitzend im Ort, ich glaube Damscheid, mit einem wunderbaren Blick aufs Mittelrheintal und die Hänge gegenüber, wo der Taunus beginnt, lässt mich zurückblicken auf meinen kleinen, Schweiß treibenden Abstecher zum Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz. Hunsrück, deine Radwege, Hunsrück, deine schrecklich feine Garstigkeit, hinter der sich Abenteuer und Charmanz der eigenen Art verbergen, Hunsrück, dein ewiger Gegenwind und die gefühlte Immerbergauffahrt, was hatte ich dich verflucht, im ersten Gang, im zweiten, dritten und vierten auch, und wie froh ich war, endlich das weit sichtbare Kirchberg zu erreichen, wie geborgen man sich in den Dörfern und Städtchen fühlt, willkommen, aufgenommen und nach dem Woher und Wohin befragt und wie ausgeliefert man, Westwind umspült, Regenschauer von weitem kommen sehend, auf den augustlich abgeernteten und derb geeggten Feldern doch ist. Biss in einen Apfel von einem der Streuobstbäume, vorbei an einem – ich habe so etwas noch nie gesehen – Holunderanbau. Eine Plantage von Holundergewächsen mit schwer reifen Früchten zwischen all der Abgeerntetheit.

Am gestrigen Samstagmorgen war meine große Sorge, noch bevor alle Läden schließen, Schrauben zu kaufen für das kleine Kettenblatt. Zwei von vier Stück hatte ich unterwegs verloren, ein unfreiwilliges Opfer an den großen Hunsrückgott vielleicht. Schinderhannesradweg. 39 Kilometer Bahntrasse, ein kleiner belechteter Tunnel begrüßt einen bei Beginn der Strecke in Simmern. Über Kastellaun nach Emmelshausen führt der Weg und hier brauche ich beileibe kein kleines Kettenblatt. Im Westerwald und im rechstrheinischen Rheinland-Pfalz hingegen schon.

In Kastellaun bin ich durch morgenneblige Kuhweiden und feinste Gegenlichtszenarien radelnd schon kurz nach acht. Ein Mann mit einem riesigen Hund erklärt mir den Weg zum Radgeschäft. Bis zum Busbahnhof, dann links durch die Stadt und am anderen Ende: voilà Radgeschäft. Auf dem T-Shirt des Mannes steht ‚Dies ist ein Schweizer Sennenhund und kein Pony‘ und zum Glück lese ich noch das Kleingedruckte: Nein, man darf nicht darauf reiten. Ich muss schmunzeln, lagen mir doch gerade diese Kommentare auf den Lippen. Das Tier wiegt sechzig Kilo, sagt der Mann.

Bis neun Uhr lungere ich vorm Radladen, lasse die erwachende Stadt an mir vorbeirauschen. Der Fahrradmechaniker und die Chefin sind pünktlich, schmunzeln, ob ich vorm Laden übernachtet hätte. Nein, nur die zwei Schrauben und, schwupp, fuchtelt der Mechaniker mit einem langen Imbusschlüssel die passenden Schräubchen rein. Ich bin gerettet. Kostet noch nicht einmal was und ich tue etwas in die Kaffeekasse. Fahrrad Binz in Kastellaun, merkt es Euch, falls der große Hunsrückgott ein Schraubenopfer von Euch fordert.

Das Radwegesystem in der Gegend überzeugt. Der Schinderhannesradweg und der Hunsrückradweg bilden so eine Art Grundgerüst, von dem andere Verbindungen abzweigen. Also hier endlich mal eine Speiche brechen, toi toi toi, für den Hunsrück. Gut Radfahren und viele Sehenswürdigkeiten an recht kargem, landwirtschaftlich genutztem Hochland. Und unendlich viele Windräder.

Ein Regenschauer jagt mich in der Gegend um Laudert und Pfalzfeld über Waldwege abwärts Richtung Oberwesel.

Im engen Mittelrheintal kurzes Gemetzel auf viel zu engem Fernradweg entlang Bundesstraße nach Sankt Goar. Beängstigend voller Campingplatz, Enge, Mensch und Hektik, so dass ich froh bin, mich nach der Fährfahrt auf der anderen Seite den kleinen Schmalspurbahnradweg Richtung Bogel hinaufzuschinden. Mich meines wiedererlangten kleinen Kettenblatts erfreuend. An einer Quelle namens Burgquelle, die durch einen ausgehöhlten Baumstamm gefasst wird, wasche ich meine Kleider, hänge sie zum Trocknen auf den Gepäckträger und es gesellt sich ein anderer Radler zu mir. Wir schwätzen uns den Berg hinauf, 300 Höhenmeter, sagt der Mann, sage man, seien das da nauf. Und wir reden über dies und das und das Radeln im Besonderen und als er bei Nastätten abzweigt, um nach Rüdesheim zu radeln, rufe ich hinterher, wie heißt du denn und er ruft Tom aus Hannover und ich rufe Jürgen aus Zweibrücken.

Es ist ein großer Fehler, zu denken, mit Bogel und den vermutlichen 300 Höhenmetern ab Rhein, sei man irgendwie irgendwo oben, denn die Radroute folgt ja den Grenzen von Rheinland-Pfalz und nicht etwa radlergefälligen Bächleinwegen. Elende Abs und Aufs, eine Kamelhöckerroute bis nach Katzenelnbogen, aber ziemlich gut und meist abseits der Straße auf recht guten Forstwegen geführt.

In Miehlen bei einem Brunnen, an dem nicht steht, dass es kein Trinkwasser ist, fülle ich meine Trinkflaschen. Zwei Frauen im Vorgarten gegenüber warnen mich, es sei womöglich nicht trinkbar und ich könne bei ihnen Wasser kriegen. Wir reden eine Weile. Dass der Räuber Schinderhannes hier geboren wurde in Miehlen. Sein Geburtshaus ist eine Bücherei heute. Und es gebe aber sonst nicht viel zu sehen im Dorf, einen schönen See oberhalb, leider aber abseits meiner Radelroute, wie auch immer, Die beiden Damen sind mit ihrer Freundlichkeit und der Wärme des Gesprächs doch auch eine Attraktion, denke ich, sage ich aber nicht. Es sind die kleinen Begebenheiten, die eine Region, eine Gegend, ein Dorf formen und es spannend machen oder eben todlangweilig. Miehlen werde ich trotz offensichtlicher Abwesenheit von physikalischen Sehenswürdigkeiten (kein Eifelturm, Brandenburger Tor, nichts), dennoch nicht vergessen.

Oberhalb des Dorfs sitze ich eine Weile auf einer Bank und schaue hinüber nach Damscheid, wo ich morgens saß und herüber schaute. Dem Westerwald und dem Westtaunus eine Lanze brechen, äh, eine Speiche, daran arbeite ich die nächsten zwei drei Tage.

Links im Bild das Rad auf Radweg stehend, rechts im Bild der Künstler und das Rad als Schatten, im Hintergrund Wiese im und Wanderweg.
Künstler-und-sein-Rad-Schattenselfie
Im Wald, zwischen den Baumstämmen flutet LIcht auf den Waldboden.
Im Wald
Blick von unten zu den Mauern der Burg Kastellaun hoch. Im Eckturm eine Deutschlandfahne. Am Schlossberg Hecke, Gebüsche, Bäume. Darüber Blauhimmel mit einzelnen Wolken.
Burg Kastellaun
Kastellaun, nochmals im Hintergrund die Burg, vorne eine Häuserzeile, die Straße, die eine Kurve macht, rechts Hecken. Über allem wolkiger Blauhimmel.
Der Ort Kastellaun im Rhein-Hunsrück-Kreis
Rote Lokomotive auf dem Abstellgleis, vorne Wiese, hinten Häuser und Grauhimmel.
Rote Lokomotive auf dem Abstellgleis
Baustelle. Neubaufassade mit Fensteröffnung, die behelfsmäßig mit Stoff verschlossen ist. Der Stoff ist halb zerrissen. Rechts daneben eine Metalltür, die mit einer schweren Metallstange zugesperrt ist. Darüber ein dickes Kupferrohr quer durchs Bild.
Du kommst hier nicht rein. Hier wird gebaut.
Am Rheinufer steht diese Skulptur eines Flössers samt Steuerrad auf einem weißen Brett. In der Bildmitte quer der Rhein, dahinter das andere Ufer mit unten Häusern und oben einer Burg.
In Sankt Goar bei der Fähre
Ein Fährschiff quert den Rhein. Vorne Sandstrand und Gebüsch, hinten das andere Ufer, ein Ort, Hügel, darüber Blauhimmel
Die Fähre
Auf der Fähre. Ein Ausblick auf andere Radler:innen auf der Fähre, vorne bereits das andere Ufer mit einem hohen Kirchturm. Im Vordergrund rechts noch das Künstlerrad, schwer beladen.
Auf der Fähre

Vom Cordhosenmann, der finanziellen Ausgleichsapp und dem inneren Julesvernissator – #UmsLand Tag 4

Normalerweise treffe ich Entscheidungen, was den Weg betrifft, oft erst direkt an der Kreuzung oder Abzweigung. Das hat fast schon etwas quantenphysisches, wenn der Verlauf meiner zukünftigen Wegstrecke bis zum Zeitpunkt des Abzweigens zwei gleichwertig wahre Zustände annimmt. Wie ein Elektron, das sich in einer Wolke bewegt … okay, das ist natürlich ein bisschen pseudowissenschaftliches Gelaber.

Am gestrigen Morgen nahe Ingelheim auf meinem Wildzeltplatz war mir fast zu hundert Prozent klar, dass ich streng der Rheinland-Pfalz-Radroute folgen werde und nicht, wie in meiner Projektkarte skizziert, einen Abstecher zum Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz mache. Zu unüberwindlich schien mir der Hunsrück, zu nah der Westerwald und warum sollte ich mir auf der Reise zwei solcher ottonormal-alpiner Herausforderungen antun? Kurzum, fröhlich trallala in den Morgen radelnd ging es erst einmal Richtung Bingen entlang des Rheindeichs, vorbei an den Überresten der alten Rheinbrücke – hieß die nicht Hindenburgbrücke – ein fast schwarzes Monster von Brückenkopf, der nach dem Weltkrieg noch übrig geblieben ist.

In Bingen ein kleiner Mann mit Rollkoffer, weit außerhalb, fern jeglichen Hotels oder Bahn oder Busstation, ratternd über holprige Strecke und ich wundere mich ein wenig, was ein Businessmensch mit Köfferchen hier so tut, bis ich näher komme, der Kerl ganz zerlumpt mit schmuddeliger Cordkose. Beklemmendes Gefühl, dass all sein Hab und Gut sich in dem winzigen Köfferchen befinden mag, mit dem unsereiner noch nicht einmal wagen würde, nach Mallorca zu fliegen.

Wieder gaukelt meine utopische App-Idee im Kopf, die Pflichtapp zum materiellen Ausgleich in der Welt, die so ähnlich funktioniert wie die Virus-App. Immer wenn man einander begegnet, werden die Kontostände abgeglichen und beide sich begegnenden erhalten die gleiche Summe auf ihr offenes Lebensgeldkonto, so dass der Reiche und der Arme nach der Begegnung gleich viel Geld auf dem Konto haben. Im weltweiten Einander-Begegnen wäre somit eine automatische Balance von Reichtum möglich; okay, die Sache ist hanebüchen und auch mehr so eine Gedankenspielerei. Zudem kaum jemand bereit wäre, sich auf das Experiment einzulassen.

Im vorliegenden Cordhosenmann-Fall wäre ich nicht allzuviel ärmer, was das Bargeld angeht, aus der Geschichte hervorgegangen. Und ein Verrechnen von Europennerfahrrad mit Cordhose und Rollköfferchen wäre ja nicht machbar.

Seisdrum, ich passiere das Binger Loch, die Nahemündung in den Rhein, den Mäuseturm, rein ins Mittelrheintal und wie schon erwähnt, beginnt dort für mich mehr oder weniger Neuland und auch die Alltagsgedanken, die mich haben rennen machen rheinabärts, fallen plötzlich ab und ich denke wieder über den Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz nach und einen Abstecher dorthin. Noch etwa 30 Kilometer Luftlinie. Weiß nicht, was mich geritten hat. Der Punkt ist doch nur eine fiktive, geografische Spielerei von Tourimusexperten im Bund mit Geografinnen. Laut Webrecherche ohnehin nur ein bräunlicher Hunstrückfelsbrocken mit Landkarte und umfriedet von Büschen.

Wenn es ein Hinweisschild nach Emmelshausen gibt, gebe ich einem Gottesurteil freien Lauf, dann kurbele ich zum Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz. Wenn nicht, dann gehts ab Sankt Goar auf die andere Rheinseite und hinauf in den Westerwald. Ohnehin steil genug.

Plötzlich ein Radwegschild nach Rheinböllen. Irgendwie meine Richtung Mittelpunkt, oder? Blick in die Karte, jawohl. Die Route führt von Niederheimbach über Rheinböllen und Kirchberg bis fast nach Bärenbach, unweit des Hunsrück-Flughafens und des Mittelpunkts.

Schon schwitze ich an einer Steigung bis 7 Prozent, so die Warnschilder auf den Hinweisen. Acht Kilometer im ersten Gang und ab Rheinböllen weiter aufwärts, mal auch abwärts in langen Wellen und in einer Art Böser Cop, noch böserer Cop wechseln sich Gegenwind und Steigung ab und manchmal dreschen sie gemeinsam auf mich ein.

Bemerkenswert ist das, schon von weitem sichtbare, Städtchen Kichberg mit seinen zwei markanten Türmen, einer Kirche und einem gelben, einem Leuchtturm ähnelnden alten Wasserturm. Das Monument des Hunsrücks. Kirchberg sieht man praktisch von allen Seiten, von denen man sich der Stadt nähert. Einkaufen. Rumtrödeln, liebäugeln, beim Mittelpunkt von Rheinland-Pfalz zu übernachten, der nur noch knapp zehn Kilometer entfernt ist.

Der Weg dorthin wieder eine bergauf-bergab-Prügeltour, die letzten fünf Kilometer auf schotterigen Waldwegen. Fast bin ich an die spanischen Vias Verde erinnert, speziell an die noch nicht ausgebaute VV, die von Gandia ins Landesinnere führt. Ein Holpern durch nichts. Und im Spalier vieler unzähliger, höcht kreativ gestalteter Hochsitze.

Der Mittelpunkt? Tatsächlich eher unspektakulär, aber ein feiner, angenehmer Ort mit Sitzbänken und ich lungere eine Weile herum, bald 18 Uhr, was tun? Hier zelten? Wind pfeift. Grillhütte nebenan, da könnte ich auch pennen.

Noch zwei Stunden hell. Nicht müde, noch hungrig, was sollte ich hier tun? Zwanzigtausend Meilen unter dem Hunsrück, scherzt mein innerer Julesvernisator, Reise zum Mittelpunkt des Landes …

Ich schwinge mich wieder aufs Radel und schufte mich auf fast identischer Strecke zurück nach Simmern, knapp zwanzig Kilometer, aber hey, nun gehts viel leichter. Da merkt man im Ab erst einmal, wie anstrengend das Auf gewesen wäre, wenn man den Schmerz und die Mühsal zugelassen hätte.

Gegen Dunkelheit treffe ich auf den Schinderhannes-Radweg, 39 Kilometer Bahntrasse von Simmern nach Emmelshausen. Auch er stand auf meinem Tourplan als Option und da er parallel zum Rhein führt und ich später Richtung Sankt Goar absteigen kann, schlage ich die Route ein.

Garniert mit einer Panne. Die Kette rattert, das Rad fühlt sich schwammig an und ich bemerke, dass ich zwei der vier Befestigungsschrauben verloren habe, mit denen das kleinste Kettenblatt verschraubt ist. Das ist noch nicht dramatisch, da die Bahntrasse keine nennenswerte Steigung hat, aber spätestens auf der anderen Rheinseite erwartet mich ein barbarischer Zahnradbahnradweg … Hoffen also, dass ich in Kastellaun einen Radladen finde, wo man mir solche Schrauben verkaufen kann.

Just vor Niedergang eines Regenschauers steht das Zelt auf einer Wiese am Bächlein Külz.

Mittig von vorn nach hinten laufender Radweg, im Hintergrund Schlossmauern, rechts und links Gebüsch.
Rad vor Schloss
Die untern Zweidrittel des Bildes zeigen Wasser, in dem sich der Hintergrund und der Himmel des oberen Bilddrittels spiegeln. Hügel rechts, Wald links, darüber wolkiger Himmel, im Vordergrund Seerosen oder anderes Grünzeug im Wasser schwimmend.
Am Rhein bei Bingen
Mittig von vorn nach hinten verlaufender Radweg. Ganz vorn die auf Metall geprägte straßenbreite Schrift ‚50 GRAD NÖRDLICHE BREITE‘, dahinter das Rad quer auf der Straße, rechts und links Gebüsch und Wiese.
Am 50. Breitengrad
Mauer aus Natursteinen mit drei unterschiedlich hoch hängenden Hochwassermarken aus unterschiedlichen Jahren, die neueste und höchste scheint die vom März 1988 zu sein.
Hochwassermarken
Hofplatz mit Steingarten, in welchem ein rundgeschnittenes Bäumchen steht, daneben auf einer Stange unter einem Macdonalds-Logo die Aufschrift Regionalverwaltung Hunsrück. Dahinter ein helles Backsteingebäude mit roten Zierelementen und roter Eingangstür.
Hunsrück, die Regionalverwaltung
Ein schwarzer Kunststoff-Ochse mit roten Hörnern und roter Werbeaufschrift, der auf einem flachen Autoanhänger steht, auf einer Wiese, im HIntergrund ein flaches Gebäude und Bäume, unter blassem Himmel.
Ein Werbe-Ochse
Gelbes, leuchtturmartiges Gebäude in der hinteren Bildmitte. Davor die Straße, mittig von vorn nach hinten, ganz vorne zwei auf den Teer gemalte Fußgänger:innen, auf dem Kopf stehend. Links von der Straße Wiese, rechts Gebäude und Bäume. Der Himmel ist bewölkt.
Gelber Turm
Ein kurzer, aber mit fünf Deckenlampen gut beleuchteter Tunnel in der Bildmitte. Oben drüber und drumrum ist er von Bäumen und Sträuchern bewachsen, eine schmale Teerstraße führt von vorne nach hinten mittig durchs Bild.
Durchgang

Klaus oder Wolfgang und die Schublade der Weisheit – #UmsLand Tag 3

Die Autobahn hatte ich bei der gestrigen Lagerplatzsuche nicht bedacht. Beständiges Hintergrundrauschen mit Blick über den Rheindamm auf die Sehenswürdigkeit oberhalb Ingelheims, ich meine irgendein Turm, vielleicht Hindenburgturm? Später mal die Suchmaschinen fragen.

Ich hatte nicht bedacht, dass sich ab Ingelheim das Land zwischen Rheinaue und Autobahn, gen Bingen zu, immer mehr verjüngt, der Radweg in den Obstfeldern sich der Straße nähert und einem der Lärm mehr und mehr auf die Pelle rückt. Egal. Die Nacht war okay, der Schlaf löchrig, aber gut. Es regnete sogar ein bisschen, was einem normalerweise, radelnd unterwegs, ein Graus ist. Dieses Mal nicht. Zu groß die Trockenheit, der Durst, das Verlangen nach Veränderung.

Eben jenes Verlangen nach Veränderung, das vielleicht in jedem von uns steckt, hatte mich gestern hierher katapultiert. Über hundert Kilometer auf dem Tacho. Die Oberrheinische Tiefebene per Rad rollt zwar wunderbar, aber sie ist auch auf charmante Art monoton. Faszinierend die Durchradelung dreier großer Städte, von denen Ludwigshafen an Qualität der Radwege, Sicherheit und sogar Schönheit am besten abschneidet. Es ist allerdings auch mehr eine Umradelung der Stadt durch den Altrheinarm Maudach. In schönfeinkleiner lullifulli-renaturierter Wäldchenwelt umschifft man gekonnt den Molloch der großen Chemie und anderer Fabriken. Worms ‚The Worst‘ ist dagegen die Hölle. Industrie, Staub, Dreck, Tonnen von Dieselruß am dicht neben der Bundesstraße geführten Radweg, Holperstrecken ohne Ende, apathisch verkommen, aber, na ja, das hat irgendwie auch etwas. Radelsadomasospielchen mit großen Städten.

Unterwegs rufe ich meinen Freund QQlka an und verabrede mich am Fischtor in Mainz mit ihm. Halb fünf. Nicht ahnend, dass ich noch gut vierzig Kilometer bis dorthin habe. Kopf runter und strampeln. Ich bin, wie letztens erwähnt, etwas zwiespältig, diese von Erinnerungen durchwirkte Strecke, die ich so oft radelte, zu erkunden. Wie Blitze zucken Erinerungen an Erlebnisse der letzten zwanzig, dreißig Jahre, nicht immer schön, wehmütig, ja, aber auch Gutes, natürlich.

Auf dem Radweg kommt mir ein Mann entegen mit monströs schwerem Fahrrad und Anhänger, selbst gebaut mit viel Alu und Schubladen und zack, Erinnerung an den Radler, den wir 1995 in unserer Oppenheimer WG eingeladen hatten. Wie hieß er noch, Klaus, oder Wolfgang? Klaus oder Wolfgang hatte eine Schublade in seinem Anhänger, ein kleines Fach, von außen zugänglich, das er jeden Tag öffnete und eines der Karteikärtchen herausnahm, die sich darin befanden, die Weisheit las, die auf dem Kärtchen geschrieben stand, und es wieder in die Kartei zurücksteckte. Sein Anhänger wog 150 Kilo. Klaus oder Wolfgang war etwas anstrengend, erzählte viel, hielt die Gesprächslonge, an der er einen führte streng und kurz, weshalb ich mich hütete, ihn anzusprechen, ob er Klaus oder Wolfgang heißt und 1995 in einer Oppenheimer WG zu Gast war.

Das Binger Loch des Vergessens scherze ich später am Fischtor mit Freund QQlka, da will ich heute noch hin. Er hatte zwei Einmachgläser selbst gebrühten Tees mitgebracht. Wir schlürften, schadronierten über früher und jetzt und umschifften gekonnt die Klippen des Pandemiethemas, an denen wir, jeder mit seiner Sicht, nicht zerschellen wollten. An einer Mauer neben uns stand geschrieben: Seefahrt ist Not. Im Rheinauf und Rheinab der Transportschiffe, Motorboote und Aquascooter verging die Zeit und hinter uns auf der Promenade flanierte die Stadt, joggte und ganz besonders hervor stach ein Junge auf einem E-Roller, der auf dem Rücken ein Musikdingsi trug, groß wie ein mittelalterlicher Tornister, aus dem laute Musik schallte. Ghettoblaster 2.0 sozusagen.

Gegen Sonnenuntergang dann raus aus der Stadt über den katastrophalen und extrem gefährlichen Radweg an der Rheinallee. Hatte Mainz still die Absicht, mit dieser kilometerlangen, geraden, von Bordsteinen durchwirkten und mit Laternenmasten mitten im Weg gespickten Piste, Worms den Rang der miesesten Stadtdurchquerung auf der Rheinland-Pfalz-Radroute abzunehmen? Erst bei den Kleingärten in Budenheim wurde die Strecke wieder erträglich. In Budenheim versorgten mich die Feuerwehrleute in ihrem Spritzenhaus mit Trinkwasser und ab der Held, in den Sonnenuntergang reitend entlang des Rheindamms.

Am Verkehrsmuseum Speyer die unheimliche Boeing auf Stelzen, die fast so hoch wie der Dom über der Stadt thront, vorne Straße und Zaun, darüber Blauhimmel
Tag 2: Am Verkehrsmuseum Speyer die unheimliche Boeing auf Stelzen, die fast so hoch wie der Dom über der Stadt thront
Schattenwurf des Künstlers samt Fahrrad auf rotem Klinkersteinboden. Im Hintergrund der Unterteil einer Skulptur und noch weiter hinten Menschen auf der Straße.
Tag 2: In Speyer: Künstlerschattenselfie mit Rad
Lange Hauswand, die sich mittig quer durchs Bild zieht. Darauf gemalt sind ganz unterschiedliche Menschen bei unterschiedlichen Tätigkeiten. Darüber Dach, dahinter Bäume und Blauhimmel. Im Vordergrund Wiese und ganz vorn die Straße.
Menschen am Radweg
Hausmauer, durchbrochen von drei mit Backsteinen verschlossenen Fensterlöchern und einer Holztür, die unbenutzt aussieht. Im Vordergrund zugewuchertes Gebüsch.
Du kommst hier nicht rein!
Gelbgestrichene Backsteinwand. Links im Bild Autobahwegweiser nach rechts zeigend. Rechts im Bild Absolutes Halteverbot neben einer Straßenlampenstange, an der ein Fahrrad lehnt. Vorne Straße.
Halten verboten
In der Bildmitte ein mit Wolle kringelig bunt eingestricktes Fahrrad als Kunstobjekt. Auf dem Platz vor einem Holzhaus stehen weitere Kunstobjekte. Dahinter ein ausladender Baum.
Winterfestes Fahrrad
Autobahn-Rheinbrücke zwischen Rheinland-Pfalz und Hessen von unten betrachtet. Ein Holzste4g im Wasser. Darüber Blauhimmel.
Am Rhein bei Mainz
Radweg mit gutgemeinten Bäumchen bepflanzt, die den Weg schmal machen. Links im Bild Häuserfront, davor Hecken, rechts Autostraße, darüber Blauhimmel und Stromkabel.
Mainzer Radweg
Am Ende einer Mauer aus Natursteinen, die von hinten nach vorn das Bild halbiert, steht eine menschliche Skulptur aus Metall. Die Figur hält sich, wie zum Gruß oder Fernblick, die linke Hand an die Stirn. Rechts im Bild Straße und Häuserfront, darüber Blauhimmel, links Steinboden.
Wer guckt denn da?
Im Gegenlicht sind in der Bildmitte zwei Menschen auf einer Anhhöe zu sehen. Die obere Bildhälfte zeigt den lilablauen Himmel bei untergehender Sonne, die untere Bildhälfte eine Art Deichmauer für die Straße, auf welcher die Menschen stehen, rechts und links davon hüglige Wiese mit Bäumen bewachsen.
Was der in den Sonnenuntergang reitende Held so sieht …