Mitnehmen

„Du wirst etwas mitnehmen, und du wirst es jemandem geben. Unterwegs“, sagte Künstlerin B. bei einer der vier „Henkersmahlzeiten“ kurz vorm Start der Reise. Und ich weiß weder, was ich mitnehme, noch, wann ich es wem wo gebe, rekapitulierte ich. Das Leben ist ein Paulo Coelhoeskes Mysterium, ein Traumpfad.

Als ich bei Tourstart bei der Firmenzentrale von Hauptsponsor Sarcom vorbei schaue, drückt mir Herr S. vier Baseballkappen in die Hand. Die könne ich sicher gut gebrauchen, wenn die Sonne einmal bretzelt. Somit hat sich Künstlerin B.s Prophezeihung schon bewahrheitet: ich nehme vier Baseballmützen mit und muss sie nur noch unters Volk bringen. Das hat mir den Beinamen KiBmiB eingebracht (von Frau Freihändig erfunden), Künstler in Bewegung mit Baseballmützen.

Ist natürlich hanebüchen und auch viel zu einfach und zu wenig Paulo Coelhoesk. Dem ganzen fehlt die Mystik. Die kommt erst, indem man sich im Kopf eine phantastische Parallelwelt zusammenschustert und sich auf die Ebene der Gefühle, des In-sich-hineinhorchens begibt, ein sensibler menschlicher Prozess.

„Wenn irgendwas ist“, sagte Herr S., als er mir die Kappen in die Hand drückte, „sagen Sie Bescheid. Ein Anruf genügt. Wir schicken einen Hubschrauber.“ Kilometerweit habe ich geschmunzelt und der, natürlich als Jux gemeinte, Hubschrauber, fliegt seither mit in meinem primitiv-westlich-zivilisiert-denkenden mystisch-verträumten Europennerhirn. Wo immer ich ratlos an einer Wegkreuzung stehe oder auch nur ein Funken Frust oder Hoffnungslosigkeit aufkommen will, muss ich an Herrn S.s Worte denken, und mir wird bewusst, ich nehme tatsächlich etwas mit: Sicherheit! Das Gefühl, nicht alleine zu sein, vermitteln mir aber auch die vielen Kommentare und Mails. Ebenfalls eine Art Sicherheit, wenn auch nur auf einer sehr abstrakten Spur. Ich nehme keine Baseballkappen mit, sondern abstrakten Rückhalt, den mir meine Freunde und Freundinnen geben und wie ein Komet, der seine Materie – im Vorbeiflug an einem Stern – ins All strömt, gebe ich diesen Rückhalt permanent weiter.

Zugegeben, mein Bild ist sehr schwer zu verstehen und längst ist es nicht mehr nur die konkrete Reise, die Nordseeumrundung per Rad, von der ich rede, und längst bin es nicht mehr nur ich, um den es hier geht, sondern es ist das gesellschaftliche Gewebe, in dem wir verknüpft sind und unser aller Lebenswege, die sich winden und kreuzen und verknüpfen und auseinanderführen und parallel laufen. Wir können uns gegenseitig etwas mitgeben und wenn wir unterwegs sind, erhalten es von jedem und überall, geben es weiter, überall und an jeden, der uns begegnet.

(verfasst am Ostermontagmorgen von Irgendlink, entfipptehlert, mit Links bestückt und gepostet von Sofasophia)

Tag 13 – die Strecke

Irgendlink smste vor ungefähr einer Stunde, dass er schon bald den Lee Valley Camping erreichen werde. London hat er offenbar erfolgreich umschifft, ähm, umradelt. Zur heutigen Etappe gehörte auch die Unterwanderung der Themse – mittels Fußgängertunnel. Über diesen Greenwich-Tunnel habe ich bei Wiki spannende Infos gefunden (hier zu Wiki klicken).

>>> Zum Kartenausschnitt Rochester – Lee Valley Camping: bitte hier klicken!

Hintergründiges

Über die Cycleroute 1 gibt es im Internet einige Hintergrundinfos, die ich auch erst so allmählich am Entdecken bin. Einen Ausschnitt mit vereinfachter Darstellung der Route 1 habe ich auf eurovelo.org gefunden (klicken):

Aufs Bild klicken zum Vergrößern:

Noch mehr Infos finden sich hier: Route 1 auf Sustrans. Ein Flyer in PDF-Format über die Strecke durch Kent findet sich hier (klicken).

Irgendlinks plant, heute an London vorbei nordwärts zu fahren. Wir dürfen weiterhin gespannt sein.

Hysterisierung

Vielleicht wissen wir zu viel. Vielleicht glauben wir zu viel. Vielleicht glauben wir, zu viel zu wissen. Mein England-Bild ist entstanden aus Monty Pythons, Douglas Adams, Asterix, und den gängigen Gerüchten, die einem alltäglich mündlich überliefert werden. Und wenn ich nun über England schreibe, so wie ich es erlebe, gebe ich einem Fremden, der das Land nie besucht hat, doch nur eines jener gefilterten, subjektiv und emotional verstimmten Bilder wieder, die dazu beitragen, etwas Echtes mit den Augen eines Anderen zu sehen.

Ich rede mit den Menschen, denen ich begegne, frage sie über Sitten und Gewohnheiten manchmal ganz direkt. Die Enge zwischen den Zäunen habe ich noch nicht angesprochen. Dieses beklemmende Gefühl, dass man sich hier hinter Mauern und Zäunen verschanzt. Wovor schützen sie sich?, frage ich mich, wenn ich kilometerweit auf einem zwei Meter breiten Pfad zwischen Zäunen radele. Dahinter Weizenfelder. An den Radwegen sind meist Barrieren angebracht, die so schmal sind, dass ich das vollgepackte Rad nur mit Mühe durchquetschen kann. Zig davon passiere ich gestern. Vom Obstland durchs Gewächshausland ins Schafzuchtland radele ich durch eine hügelige Gegend an der Südseite der Themsemündung entlang. Schmale Countryroads ohne viel Verkehr. Das Vorurteil, die Engländer seien rücksichtslose Autofahrer, stimmt hier nicht. Ganz im Gegenteil. langsam fahren sie mit viel Abstand an dir vorbei, warten geduldig, bis du eine Engstelle passiert hast. Wie es auf den A-Straßen, vergleichbar mit Bundesstraßen, aussieht, weiß ich nicht. Für einige Kilometer bin ich kurz vor Whitsable vorgestern einem Radweg direkt an einer A gefolgt, konstatierte: eine französische Nationalstraße ist ein Schlafzimmer gegen das, was hier stattfindet. Heilfroh, den huckeligen Radweg neben der stark befahrenen Straße für mich zu haben.

In der Schafsgegend, die sich hinter Deichen im Marschland befindet, muss ich wie ein böser Wolf wirken mit dem vollbepackten Rad: wenn ich mich den Tieren nähere, jagen sie ängstlich davon. Rechts und links des Wegs sind Zäune, dahinter die Lämmer. Sieht von Oben aus, wie Schafslaola, wenn ich dort durchradele. Dabei tue ich ihnen doch gar nichts.

Vielleicht haben die vielen Sicherheitsvorkehrungen der Menschen, Vorhängeschlösser, Ketten, Gatter, Absperrungen, Warnungen vor dem Hunde, eine ähnliche Wirkung auf mich? Eigentlich gibt es nichts, was einen beunruhigen müsste, aber im Kopf bastelt man sich seine eigene Welt. Vielleicht sind die Menschen in dieser Gegend in einer Hysteriefalle gefangen: der Nachbar installiert eine Alarmanlage und neulich habe ich in der Zeitung von einem Einbruch in Sittingbourne gelesen, sollte ich wohl auch eine Alarmanlage einbauen? Und mit jedem neuen Tor, mit jeder neuen Alarmanlage, dreht sich der Hysteriestrudel schneller, saugt jeden, der ihm zu nah kommt, abwärts ins dunkle Reich der Angst.

Wir „wissen“ zu viel, das wir nicht richtig einordnen können und verschieben somit das reale Bild, das in aller Klarheit vor uns liegt, in ein abstruses kollektives Wahnbild. Sei es nun hier im friedlichen Kent, oder da draußen in der großen weiten Welt. Wenn irgendwo ein Schiff sinkt, ein Flieger abstürzt, wird plötzlich das individuelle Gefühl für die Sicherheit von Flügen und Kreuzfahrten getrübt und man fühlt sich nicht mehr wohl. Obwohl sich äußerlich gar nichts geändert hat. Flieger stürzen immer mal ab und der Meeresboden ist voll von den wenigen, die havariert sind im Vergleich zu den vielen, die dies nicht tun.

Bei den Churchview Cottages steht eine Parkbank, auf der ich mich ausruhe, fein gepflegter Rasen, keinerlei Verbotsschild. Die Gegend kurz vor Rochester und Canham wirkt offener, ein Idyll, wie man es aus Inspektor Barnaby-Filmen kennt. Eine Weile ruhe ich mich aus, trinke, esse. Vom nahen Cottage schlendert ein Mann herüber, lächelt, wir kommen ins Gespräch. Ja, doch, das sei schon Privatgrund, aber das wäre okay, dass ich hier ruhe. Ich könne auch auf seiner Weide zelten, wenn ich möchte, offeriert mir Tim, der Landschaftsgärtner. Um das Land zu verstehn, muss ich mit möglichst vielen Menschen reden, ihre eigene Einschätzuung hören. Ein Einzelner kann dir nie die tiefgründige Wahrheit vermitteln, die du erhältst, wenn du die Vielzahl von Stimmen wie in einem Chor hörst. Tim und seine Frau Lynn geben mit Kaffee und Kekse und drucken mir von ihrem PC Karten aus bis Rochester, empfehlen mir ein Hotel, was ich als so eine Art Fügung ansehe: Tu das, was dir die „Engel“, die wie aus dem Nichts auftauchen sagen. Rochester sei eine sehr schöne, kulturelle Stadt mit Castle und Kathedrale.

Zuvor durchquert man Canham, eine Studentenstadt, sehr sauber, sehr aufgeräumt. Das „Steamfestival“ hat just an diesem Ostersonntag stattgefunden mit Oldtimer-Korso und einem Fest in den alten Docks. Ich umradele einen südlichen Seitenfluss der Themse, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Dank Ebbe liegen viele Boote auf dem Trockenen. Die Cycleroute 1 führt direkt durch Rochester, ich muss dort die Brücke nehmen, denn der 1996 eröffnete Medlway Tunnel ist für Radler, Pferdegespanne und Fußgänger gesperrt.

(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)