Zeit für einige akrobatischere Maßnahmen

„We have cut our cornus back and the physocarpus has had a lot of it’s excessive shoots thinned out but now it’s time to tackle a few more acrobatic jobs.“ (Garden News, December 6, 2011)

Das Weiße Rössel in Sibdon bei Peasenhall. Was hab ich gut geschlafen. Weich wie Schwarzwälder Kirschtorte war der Boden. Eine verfilzte, kurz geschorene Wiese. Wie die Deutschen Hund und Auto abgöttisch lieben, so lieben die Engländer Hund und Garten. Obwohl der Frühling auf sich warten lässt, sieht man die Menschen vor ihren Häusern auf winzigen Rasentraktoren und mit metallsuchgerätähnlichen Rasentrimmern. Kaum ein verwilderter, oder ungepflegter Garten, kaum ein Rasen, der nicht fein säuberlich auf englische 3/4 Inch-Länge geschnitten ist.

Die Route 1 führt direkt am White Horse vorbei. Über die ewigen, fast unbefahrenen Country Roads gelange ich nach Halesworth, in dem sonntagnachmittags etliche Läden und Pubs offen sind, sowie die Bücherei. Ein eisiger Nordwind verbläst mich, ab und zu Hagelschauer aus dicken schwarzen Wolken. Typisches Aprilwetter. Vorgestern hat mir jemand die Wetterprognose gegeben, es werde schneien. Tse.

Unterwegs sind immer Gedanken. Ständig rattert die Hirnmühle. Es würde mich interessieren, was dabei herauskommt, wenn man mal einen Tag Irgendlinks-Hirn-macht-was-es-will mitschreiben würde. Meine phantastische Zukunftsvision, die ich auf dem Jakobsweg hatte, kommt mir in den Sinn: In nicht all zu ferner Zukunft können sich die Menschen Chips implantieren lassen, die direkten Zugriff haben auf die Großhirnrinde, und mit denen man direkt gedachten Text, Melodien oder Bilder, die das Auge registriert, digital ausgeben kann.

Jetzt bloß nix Falsches denken. Mein eigenartiges Denkorgan beschäftigt sich oft meilenweit mit irgendwelchem Stuß und es fühlt sich für mich an, als denke es fertig druckbare Sätze, Abschnitte, Kapitel; Choruse, wie Jack Kerouac zu sagen pflegte. An diesem Morgen fummelt es an einem Artikel, der den Titel haben soll: „Schrödingers Platten“. In dem Denkwerk soll der berühmte Quantentheoretiker, der einst ein gedankliches Experiment zum Daseinszustand eines submolekularen Teilchens erdacht hat, bekannt als Schrödingers Katze, auf ironische Weise verhonepipelt werden. Ich und mein eigenwilliges Hirn wollen ihm andichten, dass es in dem Experiment, bei dem im Groben erklärt wird, dass die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist, eigentlich gar nicht um eine Katze ging, sondern um einen Fahrradreifen, der nach quantentheoretischer Erkenntnis auch platt und nicht platt zugleich sein kann.

In der Tat muss es sich für außenstehende Mitlesende in diesem Blog genau so verhalten: Irgendlinks Fahrradreifen sind zugleich platt, als auch nicht platt. Da der Herr vehement den Druck in seinen Reifen verschweigt, könnte beides möglich sein. In meiner Phantasie soll dieses, mein spielerisches quantentheoretisches Experiment als „Irgendlinks Platter“ in die Wikipedia der Zukunft Eingang finden.

Die Cycleroute 1 schlängelt sich zwischen Halesworth und Beccles in einem Wiesenland zwischen A 145 und A 144. Hügelig. Nie steil Es gibt keine Zweibrücker Kreuzberge in der Gegend. Schon seit London nicht. Gegen 17 Uhr Ortszeit handele ich nach einer alten Europenner-Regel. Zum Glück. Fahre nie später als 17 Uhr eine große Stadt an! Erfahrungsgemäß dauert es bis zu vier Stunden, Großstadt-Gewirre zu durchqueren. Verirrungen und Fotomotive zeichnen dafür verantwortlich. Das Raus aus der Stadt im Spießrutenlauf gegen die Dämmerung ist nicht sehr schön.

Das Hinweisschild auf den Campingplatz Outney Meadow bei Bungay, das direkt unter dem Radwegweiser klebt, kommt gerade recht. Es ist der Campingplatz, den ich eigentlich gestern schon angepeilt habe, als Basislager bevor ich zu Klausbernd nach Cley radele. Am Eingang erwartet mich schon der Besitzer. Er habe mich auf der Landstraße gesehen und sich gedacht, das ist bestimmt ein Nordseeumradler. Aha. Ich bin baff. Erstmals weiß jemand in der Gegend, dass es diesen Radweg gibt, und er hat auch noch mitgedacht, und seinen Campingplatz vom Radwegnetz aus markiert. Einen windgeschützen Platz fernab der A-Straße empfiehlt er mir. Er scheint bestens auf Nordseeumradler eingestellt. Für 5 Pfund bar Kralle checke ich ein. Nur wenige weitere Gäste. In der Laundry, der Wäscherei, lade ich den iPhone Zusatzakku über Nacht. Neben dem Klo hängt ein Schild „Save Water“ und draußen vor der Tür hängt ein Schild „Waste Water“. Hum? Im Badhaus liegt die Garden News vom letzten Winter. Ich erinnere mich eines alten Berber-Tricks, von dem ich einmal gehört habe, mit dem man sich vor Kälte schützen kann: Stopfe zerknüllte Zeitungen unter deine Jacke. Da gerade ein Hagelschauer nieder geht, was grundsätzlich kalte Luftmassen vermuten lässt, packe ich das abgegriffene Blatt ein. Die letzte Nacht im Weißen Rössel war grenzwertig, was das Wärmegefühl angeht. Ausgestopft mit der Dezemberausgabe des beliebten englischen Magazins, verbringe ich eine angenehm, warme Nacht. Als ich gegen vier Uhr aufwache, NICHT weil ich friere, ist das Zelt gefroren.

Tipp des Tages: Der Zeitungstrick funktioniert bestens.

Tag 19 – die Strecke

Auch heute geht’s, wie gehabt, ihm Langsammodus nordwärts. Irgendlink beschreibt das aktuell herrschende Wetter eher schwierig; mal Hagelschauer, dann wieder Sonne. Mehrheitlich ist es kühl und windig. Eben richtiges Aprilwetter.

Vom Outney Meadow Campingplatz bekomme ich gute Nachrichten. Schön sei es dort.

Schön auch, dass ihn morgen Abend in Cley next the Sea ein gemütlicher, warmer Ort erwarten wird. Klausbernd und Dina (siehe Blogroll), zwei engagierte Bloglesende und selbst Bloggende, werden ihn beherbergen.

>>> Peasenhall Camping – Outney Meadow Camping: zum heutigen Kartenausschnitt bitte hier klicken!

Schwanzwedelnd, um Geschichtenleckerli heischend oder Zum Weißen Rössel

The White Horse, eine Meile außerhalb von Peasenhall. Ein Edelrestaurant, wie sich herausstellt.  An der Wand hängen Urkunden und handgemalte Teller, die bekunden, dass das Restaurant regelmäßig Platz 1 unter den Dinig-Pubs in Suffolk belegt. Nur in einem Jahr, 2007, klafft eine Lücke, sagt die Besitzerin, da seien sie nicht zugelassen worden zum Wettbewerb. Die Preise liegen für den Hauptgang bei 15 Pfund. Obschon in meinem Hinterkopf das Damoklesschwert des Bankrott baumelt, gönne ich mir diesen Abend unter samstagsfeinen Gästen.

Von meinem Platz, unweit des ehemals offenen Kamins, in dem ein geschlossener Ofen lodert, beobachte ich das Ein und Aus der Gäste. Zwei-Meter-Typen, die sich limboesk unter der kleinen Tür durchzwängen gefolgt von edlen Ladies, Menschen in Abendgarderobe. Alle kommen zuerst zum Tresen, um sich anzumelden, die Karte zu empfangen, ein Getränk zu bestellen, zu ihren Tischen zu verschwinden. Direkt neben der Tür steht ein zum Tisch umfunktioniertes Fass, an dem Kurzzeitgäste Platz nehmen, Pärchen, die nur mal eins trinken möchten. Ein kahler Kerl fummelt zwischen den Beinen seiner gelangweilt wirkenden Begleiterin. Sie knutschen.

Wie ein Leuchtfeuer schweift mein Blick über die Gästeschar über das Kommen und Gehen. Fast erstarrt trinkt ein Zausel ein Pint nach dem anderen, wohl fest verankert in seiner Stammecke am Tresen. Mit dem Daumen fummelt er im Mundwinkel. Hinterm Tresen rochadieren Wirt und Wirtin. Ich bestelle Lamm und ein Pint. Genieße die Wärme und die murmelnde Ruhe im Raum, das Klappern von Geschirr, die fremde Sprache, von der ich doch mehr verstehe, als ich anfangs geglaubt habe.

Der Hund des Wirtspaars mogelt sich durch die offene Tür, schwanzwedelt von Tisch zu Tisch. „Oooch, ist der süß“, ruft eine Braunhaarige, und ihr Kavalier, dessen Schlips wie eine Henkersschlinge schlapp um den Hals hängt, streichelt zurückhaltend das Tier. Er will ihr gefallen, konstatiere ich. Sie kennen sich noch nicht lange. Er hat Angst vor Hunden oder ekelt sich. Mit dem Taschentuch wischt er sich die Hand ab, kramt ein Päckchen Tabak hervor, dreht zwei Zigaretten, beide verschwinden nach draußen, um zu rauchen und der Hund sitzt nun bettelnd am Tisch neben mir, wo ein Paar, das sich schon lange kennt, diniert. Sie lacht mit dem Hund, mit mir, und er schneidet ein Stück von seinem Steak ab, spießt es auf die Gabel, bückt sich zum Hund, zieht es mit den Fingern von der Gabel und gibt ihm zu fressen.

So sind wir Hunde an den fett gedeckten Tafeln dieser Welt. Die einen wollen Fleisch und Lächeln und ein anerkennendes Wort und die anderen wollen Geschichten und Lächeln und ein „ooch, bist duuu aber ein Feiiiiner“, gesprochen mit der hohen Stimme edler Damen an einem Abend im Irgendwo und Irgendwann dieser schönen reichen Welt.

(entfippthelert und gepostet von Sofasophia)