Eierdieb der feinen Künste

Muss es so weit kommen? Frühmorgens nehme ich drei Eier aus dem Körbchen im Gemeinschaftsraum des Minicampings Noorderbuurt. Sieht gut aus, so ein Eierkorb auf Kühlschrank, dazwischen Wäscheleinen gespannt wie ein Spinnenetz mit den trocknenden Klamotten des belgischen Radlerpärchens und meines Temporär-Gegenwindzugpferds Rainer und von mir. Ich mag den Minicamping. Da es noch immer stark windet und es einiges zu tun gibt im mobilen Büro, trödele ich im Zelt bis 12 Uhr. Die anderen sind bei teils starken Regenschauern schon abgereist. Rainer kommt zum Abschied an mein Zelt, ertappt das ganze Ausmaß meiner fast viermonatigen Reise: drei Quadratmeter Küche, Bad. Im Schneidersitz, unrasiert, Kaffee kochend. So sieht ein Artist in Motion aus. Ein Künstler in Bewegung. Kunstbübchen, Europenner, nenn es wie du willst.

Gegen Mittag lassen die Schauer endlich nach und ich radele wieder auf die Route LF10b, die südlich von Den Helder auf die eigentliche Noordzeeroute trifft, den LF1a. Ungefähr an diesem Punkt fängt Holland auch an, richtig spannend zu werden. Kilometerweit geht es durch eine verwunschene Dünelandschaft. Der Radweg – mutterseelenalleine in der freien Natur. Obwohl ich so spät gestartet bin, knacke ich gegen Abend die Achzig-Kilometermarke. In einem Einkaufszentrum nördlich der Fährstation, die 24 Stunden am Tag nach Haarlem verbindet, versorge ich mich mit Lebensmitteln. Vor der Tür steht ein Obdachloser, der die örtliche Obdachlosenzeitung verkauft. Natürlich kaufe ich, obwohl das Blatt auf Niederländisch ist. Beschließe, daraus Zeile 13 auf Seite 33 zu zitieren und einen Blogeintrag aus der Sache zu stricken. Dummerweise hat das Blatt keine 33 Seiten. Hum.

Gegen Dunkelheit radele ich kilometerweit durch ein Naturreservat, in dem das Zelten explizit verboten ist. Ein Hirsch springt über den Radweg. Irgendwo hat jemand Landart in den Baum gehängt. Rosa Schläuche und Gummihandschuhe. Ein Parkwächter patrouliert im Allradauto. Langhornrinder grasen. Die Viecher sind gar nicht scheu. Als ich mich nähere, um zu fotografieren, greift mich ein Bulle an.

Ich frage mich nach einem Campingplatz durch, erreiche einen Dünencamping nördlich von Zandvoort. Mit 12€ recht teuer. Die Zeltarreale A, B, C, D und E sind von grasbewachsenen Wällen umgeben. Fünf Minuten Duschen für 1€ und das Wifi 2€ pro Stunde. Willkommen in den begehrten Dünen Mittelhollands. Zum Glück bleibt mir eine lärmige Partynacht, wie sie auf vergleichbaren deutschen Zeltplätzen üblich ist, erspart.

Und die Eier, die den Titel spenden? Ach ja. Als ich gegen Mittag das Geld in die Kasse lege, habe ich nur noch 59 Cent Kleingeld, einen Cent zu wenig, um die Rechnung korrekt zu begleichen. Weshalb ich mit gespielt schlechtem Gewissen, einem Lächeln im Gesicht und tiefsinnigen Gedanken über den Christuspfennig davon radele. Ich Sechzigstel-Eierdieb, ich elender.

(sanft redigiert und gepostet)

Nach LA, Scheinwerten hinterher hechelnd

LA hat angefragt. Sags laut: Äl-Äi. Das klingt wie Verschwörung, dunkle Macht. Ich könnte die Kunststraße „Ums Meer“ auf der wichtigsten internationalen Schau für mobile Kunst zeigen. Speedlife hat mich gänzlich wieder. Mails jagen über den Atlantik, zu Sponsor Sarcom, zur Presse.

In all dem Trubel habe ich glatt verbummelt, in Boulogne-sur-Mer Bescheid zu sagen, dass ich vermutlich schon Dienstag dort sein werde. Puuh. Die Zeit rennt. Ich komme mir vor, wie der namenlose Hund, der mir im Mai 2000 nördlich des Flughafens von Montpellier einige Kilometer hinterher gerannt ist. Ich mit vollbepacktem Radel, er ein junges, ausgesetztes Tier auf der Suche nach einem Herrchen. Die Oberschenkel hatte er mir zerkratzt, als er an mir hochsprang, so dass ich ihn zurück schickte in den Straßengraben. Hunde und Radler passen leider nicht zusammen.

Die Gier nach Liebe, Nähe, Rudel, Nahrung, Anerkennung, Ruhm und Ehre ist eine schreckliche Kraft, die uns Menschen dazu veranlasst, Großes zu vollbringen, aber auch, uns zu verausgaben bis zum Gehtnichtmehr. Das Hundchen von Montpellier kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich anfange zu rennen, dem ersten besten hinterher, weil ich mir etwas davon verspreche. Zugegeben: das International Mobile Art Festival ist eine Sache, die es wert ist. Eine Art Adelung als offizieller Mobilkünstler von allerhöchster Ebene. Aber das Zeitfenster ist denkbar eng: Am ersten August habe ich drei Tage Zeit, etwa 800 Bilder und Textfragmente und Kartenstücke in eine iPad-Schau zu verpacken, die Daten samt iPad nach LA zu schicken. Spätestens am zehnten August muss es dort sein. Run run run.

Das Hundchen aus Montpellier war ziemlich ausdauernd. Ich radelte mit zwanzig Sachen auf ebener Strecke, völlig außer Puste und immer wieder springt mich das Tier an, winselt ein unverstehbares „nimm mich mit, sei mein Rudel“, so dass ich minutenlang immer wieder überlege, kannste dir das leisten, einen Hund auf der Radeltour mitzunehmen. Schäferhundgröße. Nicht so leicht auf dem Gepäckträger unterzubringen. Mein armes, weiches Herz bricht, als ich einen Hügel hinauf keuche, das Tier immer wieder wegschicke, es eine Weile stehen bleibt, mir nachschaut, wieder losläuft, aufholt, ich den Gipfel des Hügels erreiche und auf der anderen Seite mit 40 km/h hinabkeuche, Kilometerweit um zwei drei Kurven. Das Tier ist weg. Und ich um die Fleisch gewordene Erfahrung reicher, dass, egal, ob Tier oder Mensch, immer wieder Situationen kommen im Leben, in denen man bereit ist, alles zu geben, sich bis in Todesnähe zu verausgaben. Wir Menschen vielleicht sinnloser, blinder, Geld, Macht und anderen fiktiven Werten hinterher hechelnd, als etwa ein Hund, der von all dem menschgestrickten Schein gar keine Ahnung hat und der nur eins kennt, fressend durchkommen in irgendeinem Rudel dieser Welt.

Tag 114 – die Strecke

Auf der Velsen Fähre, Nähe Haarlem. Es ist bewölkt, aber trocken, lese ich kurz nach acht Uhr. Und dass er bereits um die achzig Kilometer gefahren sei.

Bin auf Midicamping. Bis jetzt ruhig, aber ich traue der Sache nicht, schreibt Irgendlink zwei Stunden später.

Da hoffe ich doch gerne mit, dass die Ruhe bleibt und dass das Männerklo diesmal sauber sei.

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Am Deich

So siehts hier aus. Blick nach Norden. Die Deiche sind hier 10 bis 12 Meter hoch. Das Meer tost. Rechts im Bild ist es relativ windstill. Links haut es einen fast um, schreibt Irgendlink zu diesem Bild, das er mir soeben zugemailt hat.

Oeverdijk Fraktal

Wie nennt man eigentlich den Raum, der bei der Durchdringung eines regelmäßigen Dodekaeders mit einem Zylinder entsteht? Schaum vorm Mund. Die Regenjacke flattert. Die gelbe Schutzhaube, die die Lenkertasche überzieht und die nur von einem Gummizug gehalten wird, droht davon zu fliegen. Wenn ich meinen Körper doch nur auf Durchzug stellen könnte, die Lücken zwischen den Atomkernen derart erweitern, dass die Regen- und die Windatome hindurch passen. Durchdringung eines menschlichen Körpers mit einer Schlechtwetterfront, schießt es mir in den Sinn. Wie nennt man den Raum, der dabei entsteht? Wie heißt die Schnittmenge aus voran strebendem Radler und Gegenwind. Der feine Niesel nagt wie Ameisen an den Knochen. Das wird nix mit der geradezu archimedesken Idealvorstellung von der Mensch-Schlechtwetter-Geometrie. Jenes goldene Ideal der Einheit mit den Gegensätzen. Der Regen wird dich zernagen und was übrig bleibt als Schnittmenge, das ist kein Raum, den man sich vorstellen könnte, das ist ein Körper, von dem nur noch eine ziselige Linie übrig bleibt. Ein hässliches Fraktal am Deich.

Kurz hinter Harlingen bin ich mit Wind und Nieselregen alleine. Ich und die Nordsee. Ha. Da kommt mir der Kerl da vorne mit dem Hundchen gerade recht. Gebeugt wie ein Embryo, der schon laufen kann, zündet er sich unter der Jacke eine Zigarette an. Abwechslung für mein Hirn, das sich damit beschäftigt, Wegstrecken und Zeiten auszurechnen. Mit acht bis zehn Kilometern pro Stunde ächze ich voran. Vierzig Kilometer bis nach Den Oever auf der anderen Seite des Deichs, der das Ijsselmeer von der offenen See trennt. Fünf Stunden. Keine Windstille in Sicht. In Harlingen, wird mir plötzlich klar, hättste sollen noch einkaufen. Mist. Mister Oberschlau hatte mal wieder nichts besseres zu tun, als fotografierend durch die Stadt zu gondeln. Von Blüte zu Blüte wie eine Biene, die nur an den Blumen schnuppert, anstatt fleißig Nektar zu sammeln. In dem Käseladen in der Hauptstraße, den mir mein schottischer Freund Ray per SMS empfohlen hatte, bin ich eingekehrt. „Geh in den Laden mit den netten Service Ladies und trinke einen frisch gepressten or Ange Saft, so lecker“, steht in der Nachricht. Tu immer das, was dein schottischer Mitradler dir empfiehlt. Angesaft? Wassen das? Ziegensaft? Arglos bestellte ich Angesaft, in der Hoffnung, dass die Lady das versteht, aber sie zuckt nur mit den Schultern. Der einzige Saft, den wir haben, ist der da und sie zeigt auf ein Fläschlein Orangensaft. Hum? Nehme ich halt den. Erst später, draußen vor dem Laden auf einer Bank sitzend wird mir Rays Schreibfehler bewusst „or Ange“, oh Hirn.

Ohne Abwechslung am Deich. Mann mit Hundchen habe ich längst hinter mir gelassen. Unendlich langsam keuche ich auf Zurich zu, fotografiere das Ortsschild, suche nach einem Laden, vergeblich, ziehe auf der Kante einer mit Vogelmist überzogenen Bank vor der Kirche die Regengamaschen aus. Der Niesel lässt nach. Im einzigen Laden des Dorfs, einem Angelladen, empfiehlt mir die Besitzerin, acht Kilometer mit dem Wind nach Makum zu radeln, dort gäbe es einen Einkaufsladen. Oder nach Den Oever, zweiunddreißig Kilometer übern Oeverdeich. Der Angelshop ist in einem hellblauen Haus untergebracht, unter dessen Giebel „Zurich Bank“ geschrieben steht. Ich könnte es schaffen, bis 18 Uhr in Den Oever zu sein. Vorbei am einzigen Hotel Zurichs. Wenn die Reise ganz am Anfang stünde, ich genug Geld und Zeit hätte, würde ich mich in dem Laden jetzt einmieten. Stattdessen: Regengamaschen wieder anziehen, Hase und Igel-Spiel der Niederschläge. Nase auf dem Lenker vermindert den Winddruck, steigert die Geschwindigkeit um ein bis zwei Kilometer pro Stunde. Ich könnte am Tacho lecken, so nah bin ich mit dem Mund davor. Komfortabel ist das nicht. Kurz nach Zurich beginnt der Deich. Wasser, links und rechts von mir. Von der vierpurigen Straße neben dem Radweg hupen manchmal aufmunternd einige Autos. Ein Engel muss jetzt her. Bei einem Stopp und Schwätzchen mit einem holländischen Radler, der in die Gegenrichtung unterwegs ist, holt mich Rainer ein. Dortmunder auf Holland-Runde. Gemeinsam üben wir den Belgischen Kreisel, was neben ein bisschen Ausruhen im Windschatten – alle zwei bis dreihundert Meter lösen wir uns ab – auch endlich die ewig rechnende Hirnmühle abstellt. Der Takt ist wichtig, wird mir klar. Sobald wir Menschen miteinander arbeiten, Sport treiben, uns sonstwie aufeinander einlassen, müssen wir eine Konzession an die Zeit machen, müssen wir uns auf Termine und Rhythmen einigen. Eine späte Hommage auf den „Takt“, der mir vor einigen Wochen beim Wiedereintritt in die Deutschenatmosphäre so sehr aufgefallen ist. Demut am Deich. Ungefähr in der Mitte überholt uns ein breitschultriger Rennradler, jagt mit geradezu unvorstellbarer Geschwindigkeit an uns vorbei. Wir sind so perplex, dass wir es verpassen, uns in seinen Sog einzuspeisen.

Ein paar Kilometer später folgt ein Monument-Café, eine Art Turm mit Rastplatz auf einer kleinen Insel. Nur noch knapp fünf Kilometer bis Den Oever. Der Rennradler überholt uns erneut – offenbar hat er beim Turm eine Pause eingelegt – dieses mal gelingt der Coup, wir folgen mit fast zwanzig Stundenkilometern mehrere Kilometer in seinem Windschatten. Aufgeschlossener Nordseeradler sucht solventen, breitschultrigen Mann mit gelbem Rucksack. Nichts muss, alles kann.

In Hippolytushoef lasse ich in einem Restaurant meine Trinkflasche auffüllen. Kommt doch genug von oben, sagt der Wirt. Aber in einer halben Stunde lässt es nach und fängt erst um zehn Uhr wieder an. Guter Köder. Zwei Fischlein an der Kaffeeangel. Wir schlürfen Kakau, Bier, Pommes, ehe wir nach einer knappen Stunde im Regen weiter radeln.

Minicamping heißt das Zauberwort. Rainer, erfahrener Hollandreisender, klärt mich auf. Minicampings sind winzige, günstige Farmcampings – ein Vorgeschmack war mein gestriger Platz, mit 3 Euro wahrscheinlich der billigste im ganzen Land. Etwa fünf Kilometer hinter Hippolytushoef werden wir fündig. Im Quarantaineweg, tse. Der Platz hat sogar einen Aufenthaltsraum, in dem wir unsere Kleider trocknen können. Irgendwie passt die Adresse.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)