Muster. Wo du nur hinschaust in der Welt, gibt es Muster. Sie zu erkennen ist die Aufgabe des aufmerksam durchs Leben Gehenden. Denn sie bilden eine Art Rückgrat, an dem sich Nerven, Sehnen und Muskelstränge winden. Was wird bleiben von der schnell durchradelten Gegend zwischen Arras und Saarbrücken? Dass die Champagne nicht nur Wein ist, hatte ich erwähnt, dass sie im Gegenteil sogar viel eher Getreidefelder ist, flach, staubig, überhitzt im Sommer. Braun, klebrig und fast menschenfeindlich im Herbst hatte ich auch erwähnt. All das stimmt nicht. Es kommt immer auf den Zeitpunkt an, zu dem man eine Gegend durchradelt. Den Jahreszeitpunkt wie auch den Tageszeitpunkt. Das günstige oder ungünstige Licht, die eigene innere Verfassung. Die Richtung ist auch wichtig. Das wusste schon Flann O´Brien in Der dritte Polizist. Gehst du in die falsche Richtung, zieht sich der Weg ohne Ende, gehst du in die richtige, dann fliegt er dir entgegen. Die erweiterte Richtungsbetrachtung nach Irgendlink setzt einen drauf: es gibt nur richtige Richtungen und verfälschte richtige Richtungen. Bei einer verfälschten richtigen Richtung hast du ein Problem mit deiner Einstellung. Du selbst bist ein Teil des Wegs. Das Ziel ist weder der Weg, noch das Ziel, sondern du.
So oder so ähnlich vor mich hindenkend in den Endphasen von „Ums Meer 2012“ kurbele ich das obere Ainse-Tal hinauf nach Grandpré, wo ich einen holländischen Radler aus Vlissingen treffe. Kaum kann ich mich erinnern, wo die Stadt liegt. Eine Eigenart des zurückgelegten Wegs ist, dass man die Dinge durcheinander bringt, sobald sie nur ein paar Tage zurückliegen. Es gibt tatsächlich nur die Gegenwart, in der die Dinge wahr sind. In der Zukunft sind die Möglichkeiten wahr und in der Vergangenheit wird das Echte mit dem Möglichen zu einer phantastischen Masse verquirlt, in dem wiederum alle Möglichkeiten der Welt liegen, aber nur für den, der durch die Zeit reisen kann.
Der Holländer und ich hatten den gleichen Weg. Von Vlissingen via Breskens und Belgien nach Boulogne, hilft er mir auf die Sprünge. Grandpré sonntags Flohmarktstimmung. Autos parken in allen Gassen am Straßenrand und Menschen laufen kreuz und quer. Auf dem Markt vor der Kirche (in der Bildcollage zu sehen) trudeln sie durcheinander, kaufend, feilschend, quatschend. Ein Händler beschallt den ganzen Platz. Dudelsackmusik, so dass ich sentimental werde, mich für den Moment zurückversetzt fühle nach Edinburgh, das ich durch den Tunnel einer umgewidmeten Bahnstrecke an einem ähnlich sonnigen, aber kühlen Tag erreichte. Menschen im Park, Sonnenanbeter vor reflektierenden Mauern, Congas und ein echter Dudelsack. Das Gemurmel, kollektiv, unverständlich, einlullend. Ich hab wahrlich viel gesehen auf meiner Runde um die Nordsee.
Ein winziger Hund zofft sich mit einem trägen Bernhardiner, der aus dem Seitenfenster auf der Rückbank eines Peugeot 205 schaut. Welch absurdes Bild. Als säße eine Kuh auf dem Rücksitz. Der Fahrer wirkt fast unsichtbar, steuert die schief hängende uralte Karre durch die Stadt. Eines der Muster der letzten Tage ist das Hundegebell. In jedem Dorf, vor jedem Hof, in jedem Vorgarten, den ich passiere, verbellen mich die Hunde. In größeren Ortschaften löse ich eine wahre Kaskade des Bellens aus. Vom Ortsanfang bis Ortsende könnte ein Blinder exakt meinen Standort bestimmen, nur anhand einer imaginären Skizze der jeweiligen Hundestandorte und wann sie zu bellen beginnen. Der Fremdkörper im ländlich französischen Idyll. Wenn man alles Hundegebell der letzten Tage mitschneiden würde und es als Soundfile abspeichern würde, könnte man eine wahre Oper des Hundebellens daraus basteln. Schon arbeite ich an einer Arie für Trompete und Hund, an einer Sinfonie für zehn Pinscher und einen Berner Sennenhund, an einer Kakophonie der sturzbachähnlich über mich herein brechenden Hundewarnrufe. Cascading Style Sheets – ein Ausdruck aus dem Webdesign, Cascading Dog Bells, die kaskadierend hierarchisch arrangierten Glocken des Hunds, fabuliere ich tollpatschig. Ein bisschen Quatschassoziation darf sein, oder?
Ein weiteres Muster sind die Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg. Alle paar Kilometer findet man einen: Amerikaner, Engländer, Deutsche, Franzosen – mit Hinweisschildern in der jeweiligen Landessprache und darunter, auf Französisch, sind die Mahnmale europäischer Zwistigkeiten ausgeschildert. Hunderte, Tausende, Millionen Gräber. Steinkreuze, Eisenkreuze, Holzkreuze, Namen, Nummern, frisch gemähter Rasen, zigjährige Bäume. Dichte Hecken oder Zäune oder Mauern umranken die Felder. Es obliegt den jeweiligen Ländern, ihre Gräberdenkmäler zu pflegen. Beim deutschen Friedhof in Romagne mache ich Halt. An der schweren Eisentür am Eingang gibt es eine Art Briefkasten mit Gästebuch und einem Buch, in dem die Namen der armen Teufel, die hier liegen, verzeichnet sind. Mit der Grabnummer. Die Kriegsgräberfürsorge hat im Gästebuch auf jeder Seite ein Muster gedruckt, wie man es zu benutzen hat: Name, Adresse, Nation, Email und wahlweise einen Kommentar kann man eintragen. Oben auf jeder Seite steht Frau Mustermann. Internationale Einträge. Echt traurig, was unser Land mit den Überbleibseln der tollen Soldaten gemacht hat, schreibt ein Jan Wolf. Unsere guten Soldatengräber sollten besser gepflegt werden. Und wie zum Trotz schreibt ein anderer: Wir gedenken unserer gefallenen deutschen Soldaten weltweit (im Muster steht: wir gedenken der gefallen Soldaten aller Nationen weltweit). Die filigrane Kommunikation auf den toten Seiten toter Gästebücher an den Pforten toter Orte.
Über die angebliche Schäbigkeit des sehr gut gepflegten Friedhofs beklagt man sich, was ich erst verstehen kann, als ich ein paar Kilometer weiter durch einen amerikanisches Gräberfeld radele. Die D123 führt auf der Ostseite von Romagne auf einer prächtigen Doppelallee mitten durch das großzügige Areal. An den Einfahrten markieren schneeweiße Türme das Monument des Massentods. Was für eine elende Vergeudung von Menschenleben! Ich stelle mir all die jämmerlichen Einzelschicksale vor von träumenden, liebenden, hoffenden Männern, die sich allesamt überlegt haben, irgendwie davon zu kommen, baff, Granate, die übernächtigt, verschmutzt, durchnässt in den Schützengräben gelegen haben, zisch, Schrapnell, bei Kälte und Regen jahrelang unter Dauerfeuer, Kopfschuss, nie durchschlafen, Lungenriss, niemals waschen, raus da raus da raus da, Offensive, Bajonett im Bauch, einen Idioten womöglich zum Vorgesetzten, im Rücken die eigenen Leute, Maschinengewehrsalve, damit man auch ja angreift, wenn das Kommando kommt, sonst metzeln einen die eigenen Kumpels. War es so? Hundert Jahre her. Himmelnocheins, wenn man das Universum in all seiner zig milliardenlangen Existenz auf einen einzigen Tag projiziert, dann haben die armen Schweine, deren Überreste in den Gräbern verrotten zu exakt dem selben Zeitpunkt gekämpft, wie ich diese Zeilen schreibe. Wie lange sind hundert Jahre, wenn 13 Milliarden Jahre ein Tag ist?
Was habe ich es doch so gut, in einem befriedeten Kontinent zu leben. Vielleicht sollte ich mich bei den Kerlen, die meine Großväter waren, bedanken? Dennoch bleibt das schale Gefühl, ob das alles überhaupt nötig war.
In der Nacht, schon jenseits der Meuse, schlafe ich sehr unruhig am Rand eines Feldwegs irgendwo in den flachen Ländern Richtung Mosel. Ich kann vier rote Blinklichter sehen im Nordosten. Ob das die Kühltürme von Cattenom sind?
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)