Leben im Gallert

Dunst. Wie durch eine beschlagene Brille sehe ich das Land. Vom Gold der abgeernteten Felder ist nur noch fahles Gelb übrig. Am Horizont vereinzelt Häuser, die beinahe wie eine Fata Morgana schimmern. Hortensien verblassen vor Ziegelsteinmauern, die gegen nikotingelb tendieren. So muss sich das Leben eines Parasiten in einer Qualle anfühlen. Leben im Gallert. Ein Quallenparasit wird wohl nie ein guter Fotograf werden wegen des dunstigen Lichts. Nichts ist wirklich trocken, nichts ist wirklich nass. Alle Kleider, das Zelt, das Radel, ich – sind beschlagen. Soll um die dreißig Grad heiß werden. Gewitterneigung ab Nachmittag. Dazu das triste Land. In der Nähe von Busigny frage ich einen Rennradler über einen Étang, einen Teich, auf den ein Schild hinweist. Ob es ein Badesee wäre? Natürlich nicht. Nur ein sumpfiger Tümpel voller Molche. Die Gegend böte nichts, sie sei toute monde triste, sagt der Junge. Ich bin versucht, auf eine kleine Hasstirade einzustimmen, aber weil ich ein netter Mensch bin, sage ich, dass es nur aufs Licht ankommt und auf die Stimmung und dass diese seine Heimat sicher auch ihre schönen Seiten habe. Im Frühling zum Beispiel.

Ich muss an die Meseta denken, die ich im Winter bei Frost im Nebel durchquert habe, wahrlich kein schöner Anblick, dieses ach so herzige Kleinod des Camino, das von vielen Pilgern in den höchsten Tönen gepriesen wird, Mohnblumen, aufschießendes Getreide, bunt und frisch, all das existiert nicht im Winter. Tristesse ist dann, wenn die Natur ruht.

In Busigny verschicke ich eine Postkarte. Der Mann am Schalter verkauft mir Marken. Die sind sehr schön, sagt er, zeigt mir einen Bogen brauner Etwase, die ich ohne Brille nicht erkennen kann. Jeanne d‘Arc und schon reißt er eine ab, leckt lasziv die Rückseite, klebt sie auf die Karte. Unter den Achselhöhlen zeichnet sich sein Hemd dunkelblau. Immer wieder werde ich angesprochen auf der Straße wegen des Radels und des vielen Gepäcks. Und wenn ich sage, dass ich aus Deutschland komme, staunen die meisten Menschen so sehr, als sei es eine Weltreise, lumpige fünfhundert Kilometer, dass es mir fast peinlich ist, von der Siebentausend-Kilometer-Nordseerunde zu erzählen. In den Niederlanden ist man derart vollbepackt nichts besonderes, in Frankreich offenbar eine Seltenheit. In Deutschland wurde ich verhöhnt. Und auch hier rief man mir vorgestern hinterher, die Tour de France ist vorbei.

Kaum verlasse ich Busigny, wird die Gegend lieblicher. Weniger garstig kahle Agrarwüste. Mehr kleine malerische Wieschen, Auen, einzelne Bäumchen, Kühchen. Wie eine Spielzeugeisenbahnlandschaft ohne Spielzeugeisenbahn. Wie eine Nordpfalz, die man mit einem überdimensionalen Bügeleisen versucht hat, zu glätten. Will sagen: Die Gegend ist geschwungen, aber nie gemein steil. Was auch wichtig ist bei der Hitze. Obendrein habe ich Glück mit dem Verkehrslärm, erwische eine Kette von ruhigen Departementsstraßen, auf denen ich weitgehend alleine bin. In südöstlicher Richtung schufte ich Richtung Verdun. Der Festungsort, bekannt aus dem Ersten Weltkrieg, ist noch ungefähr hundertfünfzig Kilometer entfernt. Wenn ich Verdun erreiche, überschreite ich den Abholhorizont. Die Distanz nach Zweibrücken, in der man mich bequem per Auto abholen könnte. Ich muss nur das Zauberwort ins Telefon kreischen: Ich bin ein Künstler, holt mich hier raus. Kollege T. steht in den Startlöchern. Natürlich werde ich versuchen, die gesamte Strecke zurück zu radeln. Je nach Wetterlage oder bei einer Panne, habe ich jedoch nicht genug Zeitreserven.

Nach etwa 80 Kilometern befinde ich mich an ähnlicher Stelle, wie bei den Tagesetappen des Hinwegs. Zwanzig Kilometer südlich von Hirson auf einer frisch gemähten Wiese. Der besitzer „erwischt“ mich, als ich das Zelt aufbaue. Holt die Heuballen vor dem drohenden Gewitter ein und wir schwätzen ein bisschen. So erfahre ich, dass diese Wiese alljährlich im Mai Parkplatz für ein Motocross-Rennen ist. Oben am Hang stehen die Kassenbuden. Ein Blechkasten, den ich als mögliche Notunterkunft ins Auge fasse, sollte das Gewitter zu stark werden. Direkt neben dem Zelt entspringt sogar eine Quelle. Idealer geht es nicht fürs Wildzelten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Liveschreiben # 12 – Auflösen der fiktiven Ebenen, die sich im Laufe des Berichts ergeben haben.

Stammlesende wissen es: in diesem Blog, das eigentlich von der Reise um die Nordsee handelt, haben sich im Laufe der Zeit jede Menge fiktive Ebenen angesammelt. Es gibt Verkehrsminister, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, und denen ich alle möglichen Mängel am Radwegenetz auf flapsige Weise angehängt habe, es gibt eine mysteriöse Gottheit, die vor zig Milliarden Jahren das Universum erschaffen hat und die den Irgendlink und alles, was geschieht auf dieser Welt, bis ins Feinste vorausgeplant hat. Der Lauf der Atome berechnet bis zu Perfektion. Es gibt einen aufblasbaren Butler und das Clownfrühstück. Wie löse ich nun diese vielen „Stussebenen“ am Ende des live geschrieben Buchs wieder auf? Noch immer unterwegs in den letzten vier Tagen der Reise, gibt es verdammt viel Literaten-Pflichtarbeit. Noch einmal soll hier der naive, tagebuchschreibende Junge zu Wort kommen, um die Verkehrsminister- und Clownebene zu lösen.

Liebes Tagebuch. Gestern war es endlich so weit. Stell dir vor, ich konnte den deutschen Verkehrsminister Dr. Karl Theodor August zu K. endlich dingfest machen. Der bekennende Hobbyclown hatte sich zusammen mit seinem düsteren Freund Fríëđølîñ in einer Ferienanlage versteckt, wo sie bei Schunkelmusik allabendlich frivole Witze vor betagtem Publikum vortrugen. Der arme Kerl kann von seinem Ministergehalt – unglaublich, nur 200 Euro pro Stunde verdient er und dann gehen noch Steuern ab – leider nur mehr schlecht als recht leben. Deshalb verdient er sich in den Ferien etwas als Clown hinzu. Allerdings seine Leidenschaft. Der alte Trick, den mir mein aufblasbarer Butler James beigebracht hat, funktioniert noch immer. Verkehrsminister August war so dumm, mir zu glauben, dass ich ihm eine Gratis Fußverlängerung mache. Es war ein leichtes, ihm eine Betäubungsspritze zu setzen. Nun stehen seine Schuhe, zu einem Kreuz geformt, am Staßenrand südlich von Cambrai (siehe dazu Szintillas Blog) . Das Abendlich wirft ihren unheimlichen langen Schatten über die weite Ebene und taucht die letzten Stoppeln, die vom Kurzhalmweizen übrig sind, in ein rötliches Licht. Blöderweise konnte Fríëđølîñ, ein pfiffiger, dunkel gekleideter Typ, entkommen. Er sinnt auf Rache. Ich schreibe diese Zeilen auf dem Marktplatz von Busigny. Bin mir nicht sicher, was der Mann im schwarzen Anzug im Schilde führt, der betont gelangweilt neben dem Brunnen steht. Er trägt eine Sonnenbrille und hat offenbar ein Funkgerät. Manchmal hebt er die Jacke ein bisschen an, wohl, um sich Luft zuzufächeln. Aber warum spricht er dann mit seiner Achselhöhle. Dass er nur Zeitung liest, nehme ich ihm auch nicht ab. Der kann doch gar nicht den Artikel lesen, das Blatt ist beschädigt. In der Mitte klafft ein großes Loch, durch das er mich unentwegt anstarrt.

Liebes Tagebuch. Ich muss nun weiter ziehen.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Liveschreiben # 2 – wie man einen Eintrag, den man nicht geschrieben hat, nachträglich in das live geschriebene Buch integriert.

Das geht leider nicht.

Ich habe es versucht mit einem Beitrag über das Crask Inn in Schottland. Über die Orkneyinseln, Shetlands, Norwegen, Schweden, Dänemark, Niederlande, Deutschland und Belgien schleppe ich eine Idee mit, wie ich das Ding doch noch elegant in das Buch integrieren könnte. Mache ich‘s am Wetter fest? In den Niederlanden hatte ich bei Sturm ähnliche Bedingungen wie im Crask Inn. Das wäre vielleicht ein Anknüpfpunkt? Mache ich es an der Geographie fest? Bei der Rücküberquerung des Breitengrads, auf dem das Crask Inn liegt, hätte ich eine gerade, von Menschen gemachte Linie, die als hanebüchener Rettungsanker dienen könnte, über die Ereignisse dort zu berichten.

In den Tiefen des elektronischen Notizbuches schlummern einige Ansätze, eine Geschichte nachträglich zu integrieren. Keiner war mir gut genug. Und am Ende, nun in der Champagne, am fünftletzten Tourtag, komme ich zu der Erkenntnis: lass es einfach sein.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 123 – die Strecke

Ich bin soeben auf einem schönen wilden Nachtplatz bei Terron sur Ainse gelandet, gegenüber von einem Sportplatz, schreibt Irgendlink kurz nach neun Uhr. Am Telefon erzählt er von den Holländern, die ihm das Zelten dort erlaubt haben. Sie bringen ihm Eier und Brot. Das Wetter hat gehalten, doch die Wiese ist noch klitschnass vom Regen der letzten Nacht. Und das Radel sieht nach seinem heutigen Schlammbad aus wie … aber halt, das erzählt euch Irgendlink besser selbst.

>>> Wildzeltplatz zwischen Harcigny und Plomion – Wildzeltplatz bei Terron sur Ainse: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!

Das Jetzt und die Ewigkeit

Warum ist es nur so verflixt schwer, in der Ewigkeit des Moments zu leben? Wenn Du eine Strecke von siebentausend Kilometer, zurückzulegen per Rad oder zu Fuß, in kleine Einzelstücke zerlegst, kommt dir das nicht sehr weit vor. Vor Beginn der Reise habe ich allen Lieben daheim erzählt, dass ich nur drei Wochen wegfahre. Eine normale Zeitstrecke von der Länge eines Sommerurlaubs. Das versteht jeder. Nach den drei Wochen radele ich weitere drei Wochen und so weiter Das habe ich mir selbst auch gesagt. Gleichzeitig hat dieser Trick Platz geschaffen für ein völlig neues Reise- und Zeitempfinden. Denn die Länge an Zeit, die vor mir lag, war dennoch da. So konnte ich das Experiment „Lebe im Moment“ über Wochen gut durchhalten. Es gab ja keinen Endtermin für die Reise. Anfang Juli hatte ich dennoch grob skizziert. Das Kind braucht einen Namen. Die Ewigkeit erreichst du, wenn du die Zeit vergisst. Aufhörst zu rechnen. Durchschnittswerte zu ermitteln. Zu zählen. Das Ende nicht siehst. Das Ende kommt nur dem in Endlichkeit denkenden endlich vor. Wenn Du aber keinen Begriff mehr hast, keinen Maßstab, mit dem du eine Zeitspanne bewerten kannst, hast du die selbstgebastelte Unendlichkeit inmitten der begrenzten Zeit.

In der Nähe von Rethel stoße ich auf einen Bahntrassenradweg. Nicht befestigt und auch nicht in meine Richtung führend. Aber das Ding klingt verlockend, nach all den Kreuzbergen. Es führt nach Westen ins nächster Bachtal, etwa zehn Kilometer, von da aus könnte ich über die Straße bis ins Aisnetal gelangen, welches wiederum östlich weiter führt. Würde zwei Kreuzberge sparen. Wäre fünfzehn Kilometer weiter? Hmmm. Ich entscheide mich für fünf Kilometer Quälerei, komme schließlich an die Bach- und Flusstraßen in meine Richtung. Einkaufen in Rethel. Achtzehn Uhr. Drückend schwül.

Das obere Aisnetal ist wunderschön. Die Lagerplatzsuche erweist sich jedoch als schwierig. Ein Mann im Vorgarten schenkt mir zwei Flaschen Wasser, sagt, dass es Gewitter geben könnte. Das macht das Lagersuchen besonders schwer. Ich brauche einen Platz mit Notunterkunft in der Nähe, falls es zu arg wird. Am besten etwas mit Blitzableiter. Wie hanebüchen das doch ist. Ich habe als Kind zu viele Bücher gelesen, in denen steht, wie gefährlich Gewitter sind und wie man sich verhalten sollte: Nix metallisches am Körper, in der Hocke in einer Mulde kauern. Nicht am Waldrand, nicht unter einzelnstehenden Bäumen. Nachts habe ich genug Zeit, mir Gedanken um die Unwägbarkeiten der Spannungsausgleichs zwischen Himmel und Erde zu machen. Verdichtetes Halbwissen bringt mich irgendwann auf den Trichter, dass ich über Blitz und Donner eigentlich gar nichts weiß und die anderen, die die Bücher geschrieben haben, wissen auch nichts darüber, weshalb es am besten ist, sich gar keine Gedanken zu machen, denn der Blitz schlägt sowieso ein, wo er will und das muss kein Metall sein und auch kein höchster Punkt von irgendwas.

In Voncq wird die Landschaft geradezu malerisch. Fettes, farbenfrohes Abendlicht. Hinter einem Maisacker sehe ich einen Lagerplatz, fahre in den Feldweg daneben, versinke nach zwei Metern im Schlamm. Nur zwei Meter(!) und das Rad ist über und über verdreckt. Die Räder stecken unter den Schutzblechen fest. Ich muss es zurück zur Straße tragen. Mit den Fingern den Dreck entfernen. Mir deucht, hier hat es letzte Nacht viel geregnet. Weiter auf der D 14 mit schleifenden Rädern. Fluchend, gegen die Dämmerung ankämpfend.

Terron sur Aisne. Richtung Stade. Der Sportplatz ist oft eine gute Wildzeltgelegenheit. Schöne ebene Zeltfläche, frisch gemäht und für den Notfall gibt’s oft auch noch eine Tribüne oder ein Trainerhäuschen, in dem man sich unterstellen kann. Dieses Mal nicht. Mitten im Dorf. Ein paar Meter weiter eine frisch gemähte Wiese. Mein Lagerplatz! Die Sonne kommt nochmal unter den Wolken hervor. Gegenüber der Wiese sitzen Leute auf der Terrasse, die ich prophylaktisch frage. Niederländer. Sie sind zwar nicht die Wiesenbesitzer, aber ich hab mich immerhin angemeldet. Später bringen die beiden Männer mir einen Sack mit Broten und Eiern.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)