Der Rausch, durch Frankreich zu radeln ist unbeschreiblich. Schon auf früheren Reisen hat mich die „Verfranzösischung“ des Landes so sehr fasziniert, von den Grenzen ins Landesinnere, wird mit jedem Schritt, den man geht, das Land französischer. Schon jenseits der Grenzen in Deutschland oder Belgien, balsamiert einen das eine oder andere Wort. Ein Bonjour hier, ein Attention da. Wie das Leben eben so ist auf der Straße. Man grüßt sich, redet über das Wetter und man warnt einander. Vor was auch immer.
Auf dem Camping in Le Mont bin ich schon voll drin in der Sprache, obschon die Menschen, Wohnwagen und Zeltnachbarn ein sehr brachiales Französisch reden, so dass ich zunächst glaube, sie kommen aus Katalanien. Ein Kerl mit Gipsarm von den Fingern bis zur Schulter – wie ein Butler sieht er aus, der ein Handtuch trägt – müht sich mit der Dusche. Am nächsten Morgen ist er mir behilflich, meinen Zwischenakku wiederzukriegen, den ich in der Nacht habe laden lassen von der Nachbarin. Sie, die stellvertretende Patronin, hat nämlich vergessen, ihn mir zurück zu geben, als sie frühmorgens weggefahren ist. So stehe ich vor verschlossener Tür und setze Gott und die Welt in Bewegung, ehe ich eine knappe Stunde später loskomme. Die Zukunft ist wie ein aufgeschreckter Hase, der im Zick-Zack übers Feld rennt. Zeitnot? In einer Rue de la Panne wird mir bewusst, wie zerbrechlich all unsere Pläne sind. Toller Straßenname. Brachial übersetze ich Pannenstraße. Hysterisch knartzt die Kette. Bloß nicht jetzt reißen! Monsieur Quehen im Rathaus wäre sicher traurig, wenn ich nicht zum 16 Uhr-Termin aufschlage.
Bei einem Dorf, in dem ich die Kirche fotografiere – ich habe ein Faible für französische Kirchen – komme ich ins Gespräch mit einem Mann, der gegenüber wohnt. Ein sehr kurzer Dialog, in dem es um das richtige Maß geht, nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht zu heiß, nicht zu kalt, pas trop humide, pas trop aride. Etcetera. ich muss französisch üben. Nach fast vier Monaten nur Englisch, habe ich selbst Schwierigkeiten mit dem Deutsch. Tse. Die Landessprache auf dem Nordseeradweg ist eindeutig Englisch. Einfach zu lernen, jeder spricht ein paar Brocken und für fast alle ist es eine Fremdsprache. Fair, nicht?
Die Strecke nach Boulogne zieht sich. Die offizielle Nordseerunde führt vorbei am Cap Nez Blanc, am Kap der weißen Nase, südlich von Calais bis zum Hafen von Boulogne. Fast sechzig Kilometer radele ich auf meist ruhigen Landstraßen. Das Frankreich, wie ich es liebe. Mal sieht die Gegend aus wie die Schwäbische Alb, nur ohne Felsen, mal ein bisschen wie die Nordpfalz, und wegen der Hitze von fast dreißig Grad, fühlt es sich ein bisschen an wie die Provence im Spätsommer – es fehlen nur noch der Mont Ventoux und ein paar Weinberge. Chateau Neuf du Pape hechelnd ackere ich über eine Kette von Zweibrücker Kreuzbergen (so nennt der Fachradler kurze, steile Anstiege, die ein ähnliches Kaliber haben, wie der Kreuzberg in Zweibrücken).
Wäldchen, Feldchen. Kurz vor Boulogne ist die Straße mit Namen beschriftet, mit Allee Soundos. Riesengroß. Hier, ganz in der Nähe der Säule der großen Armee, war wohl der Zieleinlauf der Tour de France-Etappe am dritten Juli. Dem Tag, an dem ich ursprünglich die Nordsseumrundung beendet haben wollte. Die Zukunft ist ein unberechenbares Wiesel, ein Marder, der die Kühlschläuche von im Freien abgestellten Fahrzeugen durchknabbert.
Der LF 1, die Route de la Mer du Nord (in Deutschland gibt es das Meersalz in Packungen, auf denen geschrieben steht Sel du Mer – totaler Quatsch, es muss heißen, Sel de la Mer – ich mache das deshalb öfter falsch, so wie im vorigen Artikel), nimmt tatsächlich ein fulminantes Ende in Boulogne am Hafen.Well Done, Frankreich.
Ca. fünfzehn Uhr erreiche ich die Stadt, schieße das Foto ein paar Artikel zuvor. 6999.89 Kilometer seit Zweibrücken. 1.31 Euro in der Tasche. Am Bankautomaten hebe ich 160 Euro ab, verplempere fast zehn davon in einem Café am Kirchplatz für ein Quiche und ein Tässchen Kaffee. Die Plätze am Straßenrand, draußen vor den Lokalen kosten mehr, als die drinnen, oder am Tresen.
16 Uhr Rathaus. Überaus freundlicher Empfang durch Herrn Quehen. Auch Frau Hingrez, seit kurzem Oberbürgermeisterin der Stadt und ihre Beraterin, begrüßen mich, so dass mir ganz warm ums Herz wird.
Später erzählt mir Herr Quehen im Saal des Standesamts von der Städtepartnerschaft mit Zweibrücken, dem langsamen, manchmal schwierigen Wachstum der Freundschaft. Am Wochenende fährt eine Delegation mit dem Bus zum Zweibrücker Stadtfest. Im Gepäck zweihundert Kilo Makrelen, die sie am Schlossplatz feil bieten. Der Erlös kommt bedürftigen Kindern in Zweibrücken zu Gute. Danke so sehr, Monsieur Quehen für Ihr großartiges Engagement. Danke, Boulogne …
Im Hotel Les Gens de Mer verbringe ich die Nacht, wie auch bei meiner Durchreise im April. Mittlerweilen ist das Ding ausgebucht. Hochsaison. Und die Olympiade in London wirkt sich bis hierher aus. Mit dem Zug ist es ein Katzensprung von Boulogne in die Britische Hauptstadt. Zig Sportlerinnen und Sportler wohnen Tür an Tür. Aus den Fenstern haben sie ihre Trikots gehängt zum Trocknen und Lüften. Flaggen menschlichen Wetteifers. Hach.
Ich schlafe kurz. Von halb zwei bis sieben. arbeite an der Los Angeles-Ausstellung, telefoniere spät noch mit Steph in Paris, der eine Flash-Präsentation der Kunststraße vorschlägt. Das macht mir ein bisschen Sorge und auch das bevorstehende Kunstzwergfestival in meinem Atelier wirft seine Schatten voraus. Die Zukunft ist nur zwei Meter von meinen Füßen entfernt, denke ich beim Erwachen. Nur raus durch die Tür, hinein in die Unwägbarkeiten eines neuen Tages.
An einem Dankesartikel arbeite ich für Euch da draußen, die Ihr das Blog so interessiert verfolgt habt. Aber noch ist die Reise nicht zu Ende. Ich sende nun diesen Artikel an die Homebase. dann mache ich die Tür auf.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)