Bei Firdgum
Zum neununddreißigsten Mal …
Hier ist sie, die Nummer neununddreißig … Nach immer zehn Kilometern fotografiert Irgendlink die Straße, die er radelt. Bei jedem Wetter. Immer sechzehn Bilder fasst er fürs Blog zu einer Collage zusammen – sie sind seine Hommage an den Weg, den er zurücklegt. Mehr über die Kunststraße als Kunstkonzept: hier klicken.
Tag 113 – die Strecke
Zusammen mit Rainer aus Dortmund, der Holland umradelt, und einem belgischen Radlerpärchen bin ich auf einem Farmcamping bei Hippolytushoef. Zwischen Den Oever und Den Helder. Grad mit Zeltaufbau fertig. Nass. So schreibt Irgendlink um Viertel nach neun.
Mehr als drei Stunden hat er über den langen Deich gebraucht. Im Wind über eine so exponierte Straße durchs Meer zu fahren stelle ich mir ziemlich anstrengend vor. Ich bin gespannt auf Irgendlinks Bericht.
>>> Farmcamping vor Harlingen – Farmcamping bei Hippolytushoef: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!
Und gleich noch eine …
Hier nun noch die Kunststraßen-Collage Nummer 40. Als Betthupferl für die deutschen LeserInnen, als Bettmümpfeli für die SchweizerInnen unter uns … aber holländisch weiß ichs nicht. Und franzöisch, englisch, norwegisch, dänisch, schwedisch, flämisch, gällisch, schottisch und plattdeutsch erst recht nicht.
Infos zur Kunststraße im vorletzten Artikel oder im Menü unter Kunststraßen.
Gute Nacht allerseits.
Oeverdijk Fraktal
Wie nennt man eigentlich den Raum, der bei der Durchdringung eines regelmäßigen Dodekaeders mit einem Zylinder entsteht? Schaum vorm Mund. Die Regenjacke flattert. Die gelbe Schutzhaube, die die Lenkertasche überzieht und die nur von einem Gummizug gehalten wird, droht davon zu fliegen. Wenn ich meinen Körper doch nur auf Durchzug stellen könnte, die Lücken zwischen den Atomkernen derart erweitern, dass die Regen- und die Windatome hindurch passen. Durchdringung eines menschlichen Körpers mit einer Schlechtwetterfront, schießt es mir in den Sinn. Wie nennt man den Raum, der dabei entsteht? Wie heißt die Schnittmenge aus voran strebendem Radler und Gegenwind. Der feine Niesel nagt wie Ameisen an den Knochen. Das wird nix mit der geradezu archimedesken Idealvorstellung von der Mensch-Schlechtwetter-Geometrie. Jenes goldene Ideal der Einheit mit den Gegensätzen. Der Regen wird dich zernagen und was übrig bleibt als Schnittmenge, das ist kein Raum, den man sich vorstellen könnte, das ist ein Körper, von dem nur noch eine ziselige Linie übrig bleibt. Ein hässliches Fraktal am Deich.
Kurz hinter Harlingen bin ich mit Wind und Nieselregen alleine. Ich und die Nordsee. Ha. Da kommt mir der Kerl da vorne mit dem Hundchen gerade recht. Gebeugt wie ein Embryo, der schon laufen kann, zündet er sich unter der Jacke eine Zigarette an. Abwechslung für mein Hirn, das sich damit beschäftigt, Wegstrecken und Zeiten auszurechnen. Mit acht bis zehn Kilometern pro Stunde ächze ich voran. Vierzig Kilometer bis nach Den Oever auf der anderen Seite des Deichs, der das Ijsselmeer von der offenen See trennt. Fünf Stunden. Keine Windstille in Sicht. In Harlingen, wird mir plötzlich klar, hättste sollen noch einkaufen. Mist. Mister Oberschlau hatte mal wieder nichts besseres zu tun, als fotografierend durch die Stadt zu gondeln. Von Blüte zu Blüte wie eine Biene, die nur an den Blumen schnuppert, anstatt fleißig Nektar zu sammeln. In dem Käseladen in der Hauptstraße, den mir mein schottischer Freund Ray per SMS empfohlen hatte, bin ich eingekehrt. „Geh in den Laden mit den netten Service Ladies und trinke einen frisch gepressten or Ange Saft, so lecker“, steht in der Nachricht. Tu immer das, was dein schottischer Mitradler dir empfiehlt. Angesaft? Wassen das? Ziegensaft? Arglos bestellte ich Angesaft, in der Hoffnung, dass die Lady das versteht, aber sie zuckt nur mit den Schultern. Der einzige Saft, den wir haben, ist der da und sie zeigt auf ein Fläschlein Orangensaft. Hum? Nehme ich halt den. Erst später, draußen vor dem Laden auf einer Bank sitzend wird mir Rays Schreibfehler bewusst „or Ange“, oh Hirn.
Ohne Abwechslung am Deich. Mann mit Hundchen habe ich längst hinter mir gelassen. Unendlich langsam keuche ich auf Zurich zu, fotografiere das Ortsschild, suche nach einem Laden, vergeblich, ziehe auf der Kante einer mit Vogelmist überzogenen Bank vor der Kirche die Regengamaschen aus. Der Niesel lässt nach. Im einzigen Laden des Dorfs, einem Angelladen, empfiehlt mir die Besitzerin, acht Kilometer mit dem Wind nach Makum zu radeln, dort gäbe es einen Einkaufsladen. Oder nach Den Oever, zweiunddreißig Kilometer übern Oeverdeich. Der Angelshop ist in einem hellblauen Haus untergebracht, unter dessen Giebel „Zurich Bank“ geschrieben steht. Ich könnte es schaffen, bis 18 Uhr in Den Oever zu sein. Vorbei am einzigen Hotel Zurichs. Wenn die Reise ganz am Anfang stünde, ich genug Geld und Zeit hätte, würde ich mich in dem Laden jetzt einmieten. Stattdessen: Regengamaschen wieder anziehen, Hase und Igel-Spiel der Niederschläge. Nase auf dem Lenker vermindert den Winddruck, steigert die Geschwindigkeit um ein bis zwei Kilometer pro Stunde. Ich könnte am Tacho lecken, so nah bin ich mit dem Mund davor. Komfortabel ist das nicht. Kurz nach Zurich beginnt der Deich. Wasser, links und rechts von mir. Von der vierpurigen Straße neben dem Radweg hupen manchmal aufmunternd einige Autos. Ein Engel muss jetzt her. Bei einem Stopp und Schwätzchen mit einem holländischen Radler, der in die Gegenrichtung unterwegs ist, holt mich Rainer ein. Dortmunder auf Holland-Runde. Gemeinsam üben wir den Belgischen Kreisel, was neben ein bisschen Ausruhen im Windschatten – alle zwei bis dreihundert Meter lösen wir uns ab – auch endlich die ewig rechnende Hirnmühle abstellt. Der Takt ist wichtig, wird mir klar. Sobald wir Menschen miteinander arbeiten, Sport treiben, uns sonstwie aufeinander einlassen, müssen wir eine Konzession an die Zeit machen, müssen wir uns auf Termine und Rhythmen einigen. Eine späte Hommage auf den „Takt“, der mir vor einigen Wochen beim Wiedereintritt in die Deutschenatmosphäre so sehr aufgefallen ist. Demut am Deich. Ungefähr in der Mitte überholt uns ein breitschultriger Rennradler, jagt mit geradezu unvorstellbarer Geschwindigkeit an uns vorbei. Wir sind so perplex, dass wir es verpassen, uns in seinen Sog einzuspeisen.
Ein paar Kilometer später folgt ein Monument-Café, eine Art Turm mit Rastplatz auf einer kleinen Insel. Nur noch knapp fünf Kilometer bis Den Oever. Der Rennradler überholt uns erneut – offenbar hat er beim Turm eine Pause eingelegt – dieses mal gelingt der Coup, wir folgen mit fast zwanzig Stundenkilometern mehrere Kilometer in seinem Windschatten. Aufgeschlossener Nordseeradler sucht solventen, breitschultrigen Mann mit gelbem Rucksack. Nichts muss, alles kann.
In Hippolytushoef lasse ich in einem Restaurant meine Trinkflasche auffüllen. Kommt doch genug von oben, sagt der Wirt. Aber in einer halben Stunde lässt es nach und fängt erst um zehn Uhr wieder an. Guter Köder. Zwei Fischlein an der Kaffeeangel. Wir schlürfen Kakau, Bier, Pommes, ehe wir nach einer knappen Stunde im Regen weiter radeln.
Minicamping heißt das Zauberwort. Rainer, erfahrener Hollandreisender, klärt mich auf. Minicampings sind winzige, günstige Farmcampings – ein Vorgeschmack war mein gestriger Platz, mit 3 Euro wahrscheinlich der billigste im ganzen Land. Etwa fünf Kilometer hinter Hippolytushoef werden wir fündig. Im Quarantaineweg, tse. Der Platz hat sogar einen Aufenthaltsraum, in dem wir unsere Kleider trocknen können. Irgendwie passt die Adresse.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)