Längst hat das Schnellleben wieder Besitz von mir ergriffen. Keine Chance, sich zu entziehen. Der Wurm schmeckt immer nach dem Apfel, in dem er lebt. Ich lebe nun mal in Deutschland. Unsichtbar drückt meine Muttergesellschaft mir ihren Takt auf. Das leise Schwingen der Atome? Ist das Deutschatom wirklich um so vieles anders, als etwa das Dänisch-, Schwedisch-, Norwegisch- und Englisch-Atom? Oder verfällt der Mensch in seiner Muttergesellschaft ganz natürlich in deren Takt? Stallgeruch der westlich zivilisierten Welt. Während ich weiterhin durchs Deichland radele, schwingt in meinem Kopf die Zuhause-Welt, ich denke mir den Weg zurecht. Ich befinde mich südlich von Bremerhaven und habe Angst vor einem Gewitter nachts, überlege, ob allzu festes Wetzen des Fleece Shirts am Kunststoffschlafsack vielleicht genau den elektrischen Impuls verursacht, der letztlich einen plötzlich tödlichen Blitz auslöst, der von meinem Zelt in den Himmel schießt. Dass Blitze von der Erde in den Himmel laufen, und nicht umgekehrt, habe ich einmal gehört, dass sie bis zu zwanzig Kilometer lang werden können, womit es hanebüchen ist, langsam bis sechs zu zählen, und mal dreihundert zu nehmen und sich zu sagen, ach, das Gewitter ist ja noch fast zwei Kilometer weit weg. Musste ich aber auch mein Zelt mitten auf dem Deich aufstellen – wann war das? Vorgestern. Die Sorgen waren nur kurz, das Gewitter zog vorbei, ich schlief wieder ein, radelte am nächsten Tag weiter die Weser hinauf, überquerte sie mit der Fähre bei Brake. Ganz in der Nähe haben sie einen Tunnel gebaut, der am Tag dreißigtausend Autos durchpumpen kann. Die Fähren schaffen nur dreitausend. Der Tunnel verbindet das Autobahnnetz mit der B soundsoviel in Ostfriesland. Auf der Tafel, die über den Tunnelbau im Jahr 2004 aufklärt, steht, dass das gut ist, sowohl für die Natur, als auch für den Menschen. Jenseits des Tunnels im Niemandsland stehen Schilder zum Protest gegen die A22. Ich durchradele ein idyllisches Moor. Kein Lärm. Kein Straßensäuseln, nur Landschaft, Insekten, Getier, Kühe, ab und zu ein Hof. Die armen Teufel haben keine Chance. Ist ja wohl klar, dass man, wenn man einen millionenteuren Tunnel baut, auch eine Autobahn dazu braucht, die irgendwas an etwas anderes anschließt und erschließt.
Zwei Motorradler verirrt am Wegrand. Den Radweg gibt es hier in dem Sinn auch nicht. Überhaupt macht es keinen Sinn, sich an der Nordseeküstenroute zu orientieren. Der deutsche Verkehrsminister hat sein Geld dummerweise in Witzwortschilder investiert, so dass es keine durchgehende Nordseeradweg-Beschilderung gibt. Durch Deichbauten und Umleitungen wird man nur verwirrt. Am besten man besorgt sich eine Straßenkarte, fragt die Leute, fährt nach Kompass. Eine Schande, dass ausgerechnet das deutsche Nordseeradwegstück zu den miserabelsten zählt. In Varel muss ich gegen 19 Uhr das Nachtlager aufschlagen, da ein Sturm heranzieht. Regen. Auf der Wiese hinter einem Parkplatz fürs örtliche Brauhaus baue ich das Zelt auf. Ein Jäger mit Hund gibt mir den Tipp, im Hafen, zweihundert Meter weit, gäbe es eine Toilette und Duschen. Mit 50 Cent plus 1 Euro für eine viertel Stunde Heißwasser kann ich mich einkaufen.
Superplatz. Morgens suche ich vergeblich Willis Radladen, den ich abends passiert hatte. Es soll nicht sein, dass mir die Speiche gewechselt wird, die seit Skagen fehlt. Schicksal. Der Tunnelbau geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Auch nicht die Analogie zwischen Blitzen und großen Städten. Potentialausgleich, Spannungsabbau durch Autobahn. Genau wie zwischen Blitzanfang und Blitzende, herrscht im impulsiven Fortschrittsland eine hohe Spannung, die mittels Verkehrsverbindungen abgebaut wird. Güter von A nach B. Geld von C nach D. Der asphaltene Blitz der Ückermark. Über Wilhelmshaven radele ich weiter auf irgendwelchen Radwegen. Nordseeradwegschilder gibt es keine. Ein Landwirt erklärt mir nordwestlich von Wilhelmshaven, dass man die Radwegschilder vor einer Weile abmontiert hatte, wegen der Kavernen. Wassen für Kavernen? Neunzig Tage, sagt er. Wir befinden uns in dieser Gegend auf den Erdölreserven der Bundesrepublik. Kilometertiefe Ausspülungen im Sand, in die man Öl gepumpt hat und Gas, welches in Krisenzeiten dafür verwendet wird, das gesamte Land neunzig Tage lang aufrecht zu erhalten, damit man sich mit Waffengewalt den Weg zum Öl freischießen kann. Hum? Ich versteh zwar nicht, warum man für den Bau von Kavernen Radwegeschilder abmontieren muss, aber die scheckige Katze, die mir der Mann hinhält, ein Wunder der Natur in allen Pastellfarben, passt irgendwie zu diesem verrückten Alice-im-wunderlandesken Tag. Sie spricht allerdings nicht.
Ich erreiche wieder den Deich, ignoriere eine Baustelle. Das Ding wird erhöht. Achtmeternochwas lese ich in einem Dorf, wo man einen Pfosten aufgestellt hat mit den wichtigsten Sturmflutmarken seit tausend Jahren. Schilder zeigen den jeweiligen Wasserstand an. Die Orkanflut von 1962 toppt alles. Die Namen sind witzig. Diokletiansflut, Marcellusflut oder so ähnlich heißen sie. Allesamt in den Monaten Oktober bis Februar. Die zweite, Manndränke, hat es mir angetan. Witziges Wort.
Am Abend treffe ich Ray wieder. Kurz hinter Neuharlingersiel führt der Radweg direkt am Wasser entlang. Man hat einen Planetenpfad aufgestellt im getreuen Maßstab, Neptun, Uranus, Saturn – bei Jupiter überquere ich den Deich, weil die Sonne auf dem Meer aufschlägt. Wunderbarer Untergang, Tausende Mücken, Schafe – eine Erdmiete auf der anderen Seite des Deichs. Idealer Lagerplatz, sowohl wind-, als auch sichtgeschützt. Hintendran finde ich Ray. Verdutzt schaut er mich an: Wie hast du mich gefunden – ahhh, think like an animal, lacht er. Und ich sage, dass ich froh bin, ihn hinter Jupiter zu finden und nicht hinter Uranus (auf Englisch klingt Uranus doch sehr seltsam).
Alles in allem hat mich das Speedlife nun vollends wieder. Ich sitze auf dem Wagen des Lebens, steil abwärts und schwinge tollkühn Yieehaa schreiend den wurmstichigen Bremshebel in der Hand. Funken sprühen, Staub und die Katastrophe sind nur noch ein paar Jahre entfernt.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)