Tag 94 – die Strecke

Von Itzehoe nach Glückstadt und dort mit der Fähre über die Elbe sind die beiden heute gefahren. Anschließend auf dem Elbradweg Richtung Cuxhaven. In zügigem Tempo, denn Irgendlink will am Dienstag, spätestens Mittwoch, in Oldenburg sein.

Die Rückkehr in die Welt der Kalender. Es gilt, die eine Wirklichkeit gegen die anderen einzutauschen.

In der Nähe von Cuxhaven sind Ray und Irgendlink nun auf einem Camping, in Otterndorf, an- und untergekommen. Nach neun Uhr. Morgen wolle er früher losfahren, sagte Irgendlink vorhin. Es ist so, wie es ist.

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Ja genau! Bumm boltz fallera. Muh!

Die dunkle Seite des Mondes. Ich schlafe bis nach neun. Immerhin bin ich nicht so matt, wie nach der Nacht auf der Shetlandfähre. Schwüler Morgen. Im Süden rumpelt ein Gewitter. Wir frühstücken, vergessen die Eier bis sie blau gekocht sind, stecken den Rahmen ab für den Tag. Bis Glückstadt können wir gemeinsam radeln, schlage ich Ray vor. Knapp 30 Kilometer. Dann will ich ordentlich reintreten 100 Kilometer sollte ich machen. Wegen des Termins Anfang August muss ich für ein paar Tage in den Schnellmodus schalten, mich aufs Nötigste beschränken, konsequent an der Kunststraße arbeiten. Schreiben am besten ganz sein lassen. Die Kunstmaschine kann auf Hochtouren laufen, es fehlt ihr dann aber an Geschmeidigkeit.

Mein Plan ist, bis zum 4. Juli an die niederländische Grenze zu radeln, in Oldenburg mit einem Mietwagen in den Urlaub zu fahren mit SoSo, die am 5. Juli in Hamburg landet. In den letzten beiden Juliwochen sollten die knapp tausend Kilometer Kunststraße bis Boulogne fertig werden.

Soweit die Idee. Derweil schlagen die Rechnungen, die ich in Schweden und Dänemark durch Kartenzahlung verursacht habe, auf meinem Bankkonto ein wie ein Meteoritenschauer auf atmosphärelosem Mond.

Dangdida dangdanggg summt mir Pink Floyds Dark Side Of The Moon dreißig Kilometer weit bis Glückstadt in den Ohren. Die Strecke ist nicht sehr schön. Hochspannungsleitungen an Flachland garniert mit einfachen Klinkerhäuschen. Teilweise entlang einer Hauptstraße auf separatem Radweg. Glückstadt. Eine Dame in der Touristinfo gibt uns Karten mit dem Nordseeradweg bis Cuxhaven, das sei widerlich da drüben am Südufer der Elbe mit den vielen Viehgattern. Alle hundert Meter müsse man sich da durch quetschen. Der kürzeste Weg zur Fähre? Geradeaus bis zum Hafen, dann rechts übern Deich. Wir verirren uns in der Namenlose Straße. Tse.

Kilometerlange Auto- und LKW-Schlange am Fähranleger. Im Zwanzigminutentakt fahren drei kleine Fähren über den paar Kilometer breiten Fluss. 3,50 Euro die Überfahrt. Drüben warten wir ein Gewitter ab in einer mit Reet gedeckten Schutzhütte. So wird das nix mit meinen hundert Kilometern.

Gegen 20 Uhr bringt mich Ray zur Raison, das bringt doch nix, so zu hetzen. So landen wir gemeinsam auf einem von drei nebeneinander liegenden Campings in Ottersdorf. Kurbad. Touristenbuden, Deichspaziergänge. Kühe mit Glocken am Hals. 6,50 Euro die Nacht auf der Zeltwiese, in der eine verdächtige Reihe Mittelklassewagen steht. Familienkutschen, Pavilions, Papis, Mamis, Kinder bis zwölf am Fußball, laut kreischend bolzend. Aber das wird aufhören, bilde ich mir ein. Ich naiver Wicht. Gegen 23 Uhr ist es tatsächlich ruhiger. Papis Softrock krieg ich mit Ohrenstöpseln weg, hoffe, dass nicht ein Bier das nächste gibt. Betrunkene merken nämlich nicht, dass sie laut werden.

Gerade bin ich eingedöst, da plärrt es zehnstimmig aus Kinderkehlen: „Das ist die schönste Nacht in meinem Leben.“ Taschenlampen gehen an. Der Rindslederne wird gebolzt, was dem Einschlafen nicht sehr erträglich ist, impulsartiger Lärm im Fußballtretfrequenzbereich, die Papiherde dreht U2s Where The Streets Have No Name lauter. Im Namen der Liebe schreit Ray Ruhe. Ich rufe hinterher Ruhe. Das wirkt kurzfristig. Die Plagen spielen nun im Flüsterton Verstecken, vergessen sich kurze Zeit später wieder, werden lauter. Scheiß ADS. Schließlich laufe ich zur Rezeption, zu, keine Telefonnummer, um mich zu beschweren. Die Polizei zu rufen, scheint mir überreagiert. Also Spaziergang. Die Sicht vom Deich auf die Elbmündung habe ich schon bei Sonnenuntergang genossen. Stoisch wummern dunkle Schiffe, ziehen Bugwellen hinter sich her, die, längst nachdem die Frachter vorbei sind, wie ein Wasserfall am Ufer rauschen.

Schnaufende Kühe auf der Deichwiese, mahlendes Geräusch, wenn sie auch zu so später Stunde noch grasen. Der Camping nebenan wartet mit einer lauten Gesprächsrunde auf, vermutlich Mittdreißiger, die sich über den Sinn des Lebens betrinken. Ein Typ mit heller Stimme ist besonders nervig. Auf nicht Hörbares, das eine offenbar rücksichtsvolle Person in der Runde erzählt, bestätigt er laut: Ja genau! Wieder und wieder. Wie das Quäken einer Spielzeugpuppe, die man an einer Schnur aufziehen kann. Ähnliche Frequenz wie die Bolztruppe auf meinem Platz (ein Lärmimpuls alle 15 Sekunden). Vom Deich aus kann ich beide Zeltwiesen sehen und hören. Die Kids haben den Stroboskopeffekt an ihren Taschenlampen entdeckt. Ich stelle fest, dass man im Leben immer die Wahl hat zwischen verschiedenen Übeln. So, was willst du, mein Lieber? Die Mittvierziger mit den unerzogenen ADS-Kids, One Man In The Name Of Love, oder die Lebenssinn-Diskutanten mit der aufziehbaren Kasperlepuppe?

Ein Kreuzfahrtschiff treibt gegen Hamburg. Die Kühe kommen zu mir auf die Deichkrone, umzingeln mich neugierig. Ich streichle ihre schnaubenden feuchten Nasen, erzähle ihnen, dass sie bald Fußbälle werden und als Lederkorsetts in Sexshops verkauft, dass man ihre Knochen zu Gummibärchen kocht, sich die Zunge schmecken lassen wird, mit denen sie an meiner Hand lecken. All das Zeug. Diese verrückte Welt. Ich komme aus der Stille, wird mir klar, ich bin nicht resozialisierbar. Nie werde ich hündisch jemandem hinterherschreien dürfen Ja genau, fünfzehnsekundenweise.

Auf keiner Reise zuvor habe ich so sehr gespürt, wie anders es anderswo sein kann. Wohl bin ich deshalb so pienzig. Ray liegt vermutlich schlafend im Zelt. Ich bin über einen Zaun geklettert auf ein Gelände voller Strandkörbe. Allesamt sind sie abgeschlossen, so dass ich mich auf einen Betonweg lege direkt am Flussufer. Das Brillenetui ist mein Kopfkissen und Schiffsbrummen und Wellenrauschen und Kuhglocken sind mein Nachtlied.

Die dunkle Seite des Clowns

Liebes Tagebuch, was war ich wieder böse letzte Nacht. Mein aufblasbarer Butler James hat sich ernsthafte Sorgen gemacht um mich. Zusammen gesunken habe er mich am Deich gefunden, wo ich mir mit einer Taschenlampe, mit eingeschalteter Stroboskopfunktion, von unter dem Kinn das Gesicht angeleuchtet habe.

Ganz düster habe das ausgesehen, Meine Güte Sire … hat er gesagt, Sire, und mit seinen stets weißen Handschuhen habe er mich an der Schulter packen müssen, versucht, mich wachzurütteln aus meiner Apathie, aber ich habe nur Swing Low Sweet Chariot gesungen und neben mir habe eine dunkle Kuh gelegen, der ich zärtlich die sabbernde Nase getätschelt habe. Nachdem er mir meinen Lieblingstee aus Clownsfußschweiß gekocht hatte und ihn mir tropfenweise eingeflößt hatte, sei ich endlich zu Bett gegangen. Der Tee war sehr, sehr lecker und auf dem Beutel stand: Kein Unglück ist vom Unglück der anderen getrennt. Ob das was zu heißen hat?

Die Clownsschule, die in der Mitte der Zeltwiese ihr Zirkuszelt aufgestellt hat, hat letzte Nacht eine Generalprobe für die Abschlussklasse veranstaltet. Die kleinen, sie heißen alle August, sind zwar verdammt dumm, aber als es darum ging, sich gegenseitig Erdebeertorten ins Gesicht zu klatschen, war es eine Pracht, dies mit anzusehen. Das Erdbeertortenklatschen hört sich ziemlich ähnlich an, wie wenn ein Profifußballer beim Elfmeter einen Ball tritt. Neben der Dummheit eine weitere Analogie, die ich zwischen Clowns und Fußball feststelle.

Ich hungere! James ist zwar ein außergewöhnlich pfiffiger Clownfänger – einmal hat er einen Clown unter dem Vorwand, ob er denn schon seinen Namen schreiben kann, in die Falle gelockt und ihn ein Dokument unterzeichnen lassen, das uns auch gleichzeitig seine Schuhe und das Zirkuszelt vererbt, sollte ihm etwas zustoßen. Der Kerl war so dumm, das Kleingedruckte zu überlesen. Aaugkuzt hat er mit seiner krageligen Clownsschrift unter das Dokument gesetzt.

Leider nutzt mir James‘ Finesse heute nichts. Hoher Besuch hat sich angesagt. Stell dir vor, liebes Tagebuch, der deutsche Verkehrsminister Dr. Karl Theodor August zu K. ist angereist, um bei den Veranstaltungen für die Abschlussklasse eine Torte zu werfen. Auch er hat einst in dieser offenbar berühmten Schule seine Ausbildung gemacht. Hier wimmelt es nur von Security. Die Schule ist hermetisch abgeriegelt und sie üben das hysterische Lachen. Einer der älteren Clowns macht es vor, mit einem Zeigestock an einer Tafel: „Ha-Ha-Ha“, und die unbeholfenen Hahaha-Schützen sprechen ihm im Chor nach. Mjam mjam, sehen die lecker aus. Hach, warum kann ich nicht einfach zufrieden sein, mit dem was ist?

Der Platz ist paradiesisch. Direkt hinter dem Zelt verläuft der Weg zum Deich. Dort führen die Leute nun ihre Hundchen hin zum Defäkieren. Und wenn sich zwei Hundchenleute begegnen, spielt sich immer das gleiche Schauspiel ab: zuerst sagen sie Der macht nix, dann fangen die Tierchen an zu knurren und an den Leinen zerren, dann quetschen sich die atemlosen Herrchen aneinander vorbei, lassen die Hundchen schnuppern. Isn Mädchen, fragt dann der eine, ja, sagt die andere und so lavieren sie nebeneinander vorbei, so dass ich gleich noch einen weiteren Aufsatz schreiben könnte mit dem Titel Nadelöhr der Hunde. Hach und nun, da es langsam warm wird im Zelt, sitze ich knurrenden Magens, muss an James‘ Worte denken – er ist weit gereist – dass man am anderen Ende der Welt, wo es keine Clowns gibt, Hunde essen würde. Das Fleisch schmecke ähnlich.

Ich hoffe, es kommen bald wieder bessere Zeiten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Dösedösen

Ray ist verschwunden. Fünf Kilometer vor Cuxhaven sacke ich in eine Hängematte bei einem Strandbad, schlafe sofort ein. Höre nur noch Rays Kameraklicken. Als ich erwache, ist er weg. Es gibt so viel zu sehen an der Elbmündung. Schiffe, Industrie, Bagger, Windräder, Radler, Schafe. So viel zu fotografieren, dass wir staffellaufähnlich auf dem Deich radeln, uns gegenseitig immer wieder überholen, uns nie aus den Augen verlieren. Ein Touristenpaar mit zwei winzigen Hunden treibt hunderte Schafe vor sich her. Die Tiere blöken, haben vor Menschen und Rädern keine Angst, aber die beiden Pinscher schieben die vergleichsweise riesigen Wolllieferanten vor sich her wie ein Gletscher die Endmoräne. Schafslaola. Ob Herrchen und Frauchen die unübersehbaren Hundeverbotsschilder am Eingang zum Deichweg nicht gesehen haben? Der örtliche Schultheiß droht darauf mit Geldbuße. Oder ist es jene Ach-der-tut-doch-nix-Ignoranz, die Hundebesitzern manchmal zu eigen ist?

Morgens auf dem Zeltplatz dachte ich noch demütig, dass es mein demokratisches Schicksal ist, um den Nachtschlaf gebracht worden zu sein, stellt die Truppe mit den vielen Kindern doch eine eindeutige Mehrheit gegen Ray und mich und noch drei-vier arme Teufel, die lieber schlafen wollten. Wenn die Mehrheit nachts Lärm beschließt, ist das eine legitime Sache. Dafür haben wir in Europa seit 1789 gekämpft. Nun ist es mit den beiden Hundchen anders. Wie russische Oligarchen halten sie die Lämmer in Schach.

Kurz nach dem Losradeln spüre ich die Erschöpfung. Werde wortkarg, beantworte alle Fragen, die Ray stellt, morgenmufflig mit Ja, Nein, Schwarz oder Weiß. Ich könnte durchaus verstehen, dass er einfach weiter geradelt ist, als ich in der Hängematte eingeschlafen bin. Mit so einem Murrer will doch niemand radeln. Es könnte auch sein, dass er selbst verpeilt ist wegen wenig Schlaf. Dass er gar nicht bemerkt hat, wie ich rumhänge.

Nun in einem Café in Döse – haha, Döse, das passt -, schreibe ich diese Zeilen, lade das iPhone, wird mir klar, dass die letzten drei Einträge gar nicht entstanden wären ohne die Widrigkeiten. Bloggen also nur eine Art Druckstab im wohl berechneten Fachwerk des Lebens?

Lastfall S wie Störenfried, da soll mir mal jemand nen Cremonaplan für zeichnen.

Ray SMSt, er sei auf der blauen Brücke bei Alte Liebe.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 95 – die Strecke

Von Otterndorf über Cuxhaven inkl. Dösen in Döse, wo es neben der Strichstraße nicht nur eine Alte sondern auch eine Neue Liebe gibt, sind die beiden Radler Richtung Bremerhaven gekurbelt.

Irgendwo unterwegs haben sie sich aus den Augen verloren. Während Ray die Fähre erwischt hat, hat Irgendlink sie verpasst. Über den Fischereihafen hat er sich deshalb südwärts auf die Suche nach einem Wildzeltplatz gemacht.

Uff. Hab nen guten Platz, schreibt er um zehn Uhr. Werde morgen die Schnellfähre bei Brake nehmen und nach Westen ans Meer zurück auf die Nordseeroute. War anstrengend heute. Ich hoffe, es bleibt ruhig.

>>> Ottersdorf – bei Lune (Alte Lune): zum Kartenabschnitt von heute: bitte hier klicken!