Die dunkle Seite des Mondes. Ich schlafe bis nach neun. Immerhin bin ich nicht so matt, wie nach der Nacht auf der Shetlandfähre. Schwüler Morgen. Im Süden rumpelt ein Gewitter. Wir frühstücken, vergessen die Eier bis sie blau gekocht sind, stecken den Rahmen ab für den Tag. Bis Glückstadt können wir gemeinsam radeln, schlage ich Ray vor. Knapp 30 Kilometer. Dann will ich ordentlich reintreten 100 Kilometer sollte ich machen. Wegen des Termins Anfang August muss ich für ein paar Tage in den Schnellmodus schalten, mich aufs Nötigste beschränken, konsequent an der Kunststraße arbeiten. Schreiben am besten ganz sein lassen. Die Kunstmaschine kann auf Hochtouren laufen, es fehlt ihr dann aber an Geschmeidigkeit.
Mein Plan ist, bis zum 4. Juli an die niederländische Grenze zu radeln, in Oldenburg mit einem Mietwagen in den Urlaub zu fahren mit SoSo, die am 5. Juli in Hamburg landet. In den letzten beiden Juliwochen sollten die knapp tausend Kilometer Kunststraße bis Boulogne fertig werden.
Soweit die Idee. Derweil schlagen die Rechnungen, die ich in Schweden und Dänemark durch Kartenzahlung verursacht habe, auf meinem Bankkonto ein wie ein Meteoritenschauer auf atmosphärelosem Mond.
Dangdida dangdanggg summt mir Pink Floyds Dark Side Of The Moon dreißig Kilometer weit bis Glückstadt in den Ohren. Die Strecke ist nicht sehr schön. Hochspannungsleitungen an Flachland garniert mit einfachen Klinkerhäuschen. Teilweise entlang einer Hauptstraße auf separatem Radweg. Glückstadt. Eine Dame in der Touristinfo gibt uns Karten mit dem Nordseeradweg bis Cuxhaven, das sei widerlich da drüben am Südufer der Elbe mit den vielen Viehgattern. Alle hundert Meter müsse man sich da durch quetschen. Der kürzeste Weg zur Fähre? Geradeaus bis zum Hafen, dann rechts übern Deich. Wir verirren uns in der Namenlose Straße. Tse.
Kilometerlange Auto- und LKW-Schlange am Fähranleger. Im Zwanzigminutentakt fahren drei kleine Fähren über den paar Kilometer breiten Fluss. 3,50 Euro die Überfahrt. Drüben warten wir ein Gewitter ab in einer mit Reet gedeckten Schutzhütte. So wird das nix mit meinen hundert Kilometern.
Gegen 20 Uhr bringt mich Ray zur Raison, das bringt doch nix, so zu hetzen. So landen wir gemeinsam auf einem von drei nebeneinander liegenden Campings in Ottersdorf. Kurbad. Touristenbuden, Deichspaziergänge. Kühe mit Glocken am Hals. 6,50 Euro die Nacht auf der Zeltwiese, in der eine verdächtige Reihe Mittelklassewagen steht. Familienkutschen, Pavilions, Papis, Mamis, Kinder bis zwölf am Fußball, laut kreischend bolzend. Aber das wird aufhören, bilde ich mir ein. Ich naiver Wicht. Gegen 23 Uhr ist es tatsächlich ruhiger. Papis Softrock krieg ich mit Ohrenstöpseln weg, hoffe, dass nicht ein Bier das nächste gibt. Betrunkene merken nämlich nicht, dass sie laut werden.
Gerade bin ich eingedöst, da plärrt es zehnstimmig aus Kinderkehlen: „Das ist die schönste Nacht in meinem Leben.“ Taschenlampen gehen an. Der Rindslederne wird gebolzt, was dem Einschlafen nicht sehr erträglich ist, impulsartiger Lärm im Fußballtretfrequenzbereich, die Papiherde dreht U2s Where The Streets Have No Name lauter. Im Namen der Liebe schreit Ray Ruhe. Ich rufe hinterher Ruhe. Das wirkt kurzfristig. Die Plagen spielen nun im Flüsterton Verstecken, vergessen sich kurze Zeit später wieder, werden lauter. Scheiß ADS. Schließlich laufe ich zur Rezeption, zu, keine Telefonnummer, um mich zu beschweren. Die Polizei zu rufen, scheint mir überreagiert. Also Spaziergang. Die Sicht vom Deich auf die Elbmündung habe ich schon bei Sonnenuntergang genossen. Stoisch wummern dunkle Schiffe, ziehen Bugwellen hinter sich her, die, längst nachdem die Frachter vorbei sind, wie ein Wasserfall am Ufer rauschen.
Schnaufende Kühe auf der Deichwiese, mahlendes Geräusch, wenn sie auch zu so später Stunde noch grasen. Der Camping nebenan wartet mit einer lauten Gesprächsrunde auf, vermutlich Mittdreißiger, die sich über den Sinn des Lebens betrinken. Ein Typ mit heller Stimme ist besonders nervig. Auf nicht Hörbares, das eine offenbar rücksichtsvolle Person in der Runde erzählt, bestätigt er laut: Ja genau! Wieder und wieder. Wie das Quäken einer Spielzeugpuppe, die man an einer Schnur aufziehen kann. Ähnliche Frequenz wie die Bolztruppe auf meinem Platz (ein Lärmimpuls alle 15 Sekunden). Vom Deich aus kann ich beide Zeltwiesen sehen und hören. Die Kids haben den Stroboskopeffekt an ihren Taschenlampen entdeckt. Ich stelle fest, dass man im Leben immer die Wahl hat zwischen verschiedenen Übeln. So, was willst du, mein Lieber? Die Mittvierziger mit den unerzogenen ADS-Kids, One Man In The Name Of Love, oder die Lebenssinn-Diskutanten mit der aufziehbaren Kasperlepuppe?
Ein Kreuzfahrtschiff treibt gegen Hamburg. Die Kühe kommen zu mir auf die Deichkrone, umzingeln mich neugierig. Ich streichle ihre schnaubenden feuchten Nasen, erzähle ihnen, dass sie bald Fußbälle werden und als Lederkorsetts in Sexshops verkauft, dass man ihre Knochen zu Gummibärchen kocht, sich die Zunge schmecken lassen wird, mit denen sie an meiner Hand lecken. All das Zeug. Diese verrückte Welt. Ich komme aus der Stille, wird mir klar, ich bin nicht resozialisierbar. Nie werde ich hündisch jemandem hinterherschreien dürfen Ja genau, fünfzehnsekundenweise.
Auf keiner Reise zuvor habe ich so sehr gespürt, wie anders es anderswo sein kann. Wohl bin ich deshalb so pienzig. Ray liegt vermutlich schlafend im Zelt. Ich bin über einen Zaun geklettert auf ein Gelände voller Strandkörbe. Allesamt sind sie abgeschlossen, so dass ich mich auf einen Betonweg lege direkt am Flussufer. Das Brillenetui ist mein Kopfkissen und Schiffsbrummen und Wellenrauschen und Kuhglocken sind mein Nachtlied.
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