Jemand, der in der Nordpfalz, wo ich aufgewachsen bin, erzählt hätte: „Du, von Meisenheim am Glan nach Osten, zum Beispiel nach Jakobsweiler, radelst du am besten geradeaus. Irgendwie über Finkenbach nach Mannweiler ins Alsenztal, von da via Schmalfeld, Gaugrehweiler, Gutenbach und Kriegsfeld und vergiss nicht den Donnersberg, is ne schöne, ruhige Radlerstrecke“ – den hätte ich verduzt angeschaut. Die Strecke führt erbarmungslos über Berg und Tal. Nimm’s quer, has‘ mehr, könnte man sagen.
Noch immer klingen die Stimmen der vier alten Männer am Kanalhafen in Stenay im Ohr, wie sie Gauloises Caporal rauchend mir den Weg über die Nationalstraße nach Sedan erklären, dabei interne Debatten führen, welche Alternativen es gibt, und nein, eine Fahrradstrecke direkt am Kanal, die gibt es nicht. Ihre Zähne sind durchweg gelb von Nikotin, wenn man die Reste von natürlichem Gebiss in ihren Mündern so nennen darf. Sie tragen Kamelhaarmäntel, ich weiß nicht, was sie vor dem Schleusenhäuschen tun. „Wenn er halt ruhige Sträßchen haben will“, sagt einer, „dann soll er doch bei der Kirche in 2 km rechts abbiegen und der D30 folgen nach Beaumont“ _ „Beaumont“, nicken alle, „aber das geht sooo“. Und mit der Hand macht einer eine Schlangenlinienbewegung. Ich weiß, dass Mont Berg heißt und radele trotzdem los.
20 km weiter weiß ich auch, was sie mit der Schlangenlinienbewegung gemeint haben. Tatsächlich nimmt man sämtliche winzigen Seitentäler der Meuse quer, und die kommen etwa in 1-km-Abständen, 500 Längenmeter hoch, 500 Längenmeter runter, mindestens acht mal, dabei im Schnitt stets aufwärts, so dass die ‚Runters‘ nicht sehr ins Gewicht fallen. Das und ein eisiger Wind und trübe Wollken sind zermürbend. Ist der Welpenschutz jetzt endgültig vorbei? Beaumont ist, wie der Name sagt, schön.
In Mouzon, 9 km weiter, bin ich endlich wieder im Tal, fühle mich, als habe ich 5 Zweibrücker Kreuzberge hintereinander hochgeradelt, hungrig, fröstelnd rolle ich aus auf den 16 Kilometern am Fluss entlang bis Sedan. Am Campingplatz hängt ein Schild, dass er erst am 22. April öffnet. Ein riesiges, weites Gelände am Kanalhafen, dummerweise weit einsehbar, so dass ich es nicht wage, dort wild zu Zelten: Polizisten, die auf der Dammstraße patrouillieren, könnten mich entdecken, Junkies, Bettler und die Bürger starren aus den Fenstern ihrer Mietwohnungen wie aus Schießscharten auf das sportplatzähnliche Areal, ohne jeglichen Sichtschutz.
In einer Kebabbude erbettele ich Wasser, fülle meine Vorräte auf, präpariere mich auf die erste Nacht Wildzelten westlich von Sedan. Über die D5 ins Dörfchen Floing, en passant noch ein Baguette in einer spätoffenen Boulangerie gekauft. Sie haben einen Geldautomaten, statt Kasse, so dass die Bäckerin nie Geld anfassen muss. Schönes, warmes Baguette. Gleich hinter Floing entdecke ich einen Waldrand, der sich zum Wildzelten eignen würde, oberhalb des Dorfs, gegen Westen gelegen, so dass mich die Morgensonne weckt. Überall in Floing weisen rote Schilder auf Pensionen hin, auf Gites, Fremdenzimmer, die man mehrtageweise mieten kann. An einer Gite komme ich vorbei, mit großem Garten voller Schafe, versuche den Besitzer zu finden, um vielleicht im Garten zu zelten. Schon bald 20 Uhr. Die Gegend ist symphatisch, hinter einem Umspannwerk gehts rauf zu meinem Waldrand, oder, so weist ein rotes Schild, in die andere Richtung, zum Gästehaus Lamberty. Genau wie damals auf der ersten Etappe des Jakobswegs sehe ich mich einer geradezu simpson-esken Situation gegenüber. Ich erinnere: die gelbe Comicfamilie aus Springfiel, USA, ist mit dem Kanu auf einem Fluß auf der Flucht vor Indianern. Der Fluss gabelt sich und in der Zeichentrickfolge wird hin und her geschnitten zwischen den beiden Flussvarianten. Einer mit Sonne, Blümchen, Schmetterlingen, Frieden und der andere mit dornigen, kahlen Ästen, Krokodilen, Wildwasser, Unwetterstimmung. Natürlich zieht das Schicksal die Simpsons in den bösen Flussarm.
Mein Hirn kalkuliert die Möglichkeiten exakt, wie es wohl in der Simpsonszene sich anfühlt, nur dass ihm nicht klar ist, was die gute und was die schlechte Version ist. So offenkundig überspitzt ist das echte Leben nicht. Mein Hirn kann sich sowohl Gästehaus, als auch Wildzelten am Waldrand vorstellen. Vielleicht waren es die Graffities an der Mauer des Umspannwerks, die dem dörflichen Idyll einen urban verkommenen Eindruck geben, was mich auf den Weg zum Gästehaus gebracht hat? 30 Euro setze ich mir als Limit. Durch ein eisernes Tor führt der Weg über eine golfplatzähnliche Wiese mit Teich, Sitzbänken zu einer feinen Villa. Das Zimmer kostet 38 Euro, mit Frühstück. Und ich schlage ein, verlängere den Welpenschutz. An der Haustür hängt der Code zum Wifi Netzwerk.
(Das Wort Welpenschutz habe ich während der Kunstmesse vor zwei Wochen bei meinem Freund QQlka in der WG gelernt. Es besagt, dass ein Neuling, zum Beispiel bei einem Brettspiel, das er noch nicht kennt, noch eine Weile mit Samthandschuhen angepackt wird.)