Auf ein Wort

Tumult hinterm Vorhang der feinen Künste

Nur noch zweihundert Kilometer bis Deutschland! Ich nähere mich, laut Tacho, der Fünftausendvierhundert-Marke, der ungefähren Länge des Nordseeküstenradwegs. Das Stück Zweibrücken bis zur Partnerstadt Boulogne-sur-Mer, das ich in der ersten Aprilwoche als Prolog erradelte, schlägt mit knapp tausend zusätzlichen Kilometern zu Buche und die Strecke von Dover nach Colchester auf dem englischen Radweg Nummer 1 gehört auch nicht zur offiziellen Nordseeroute. Zweihundert Kilometer weit habe ich mich verirrt – grob geschätzt. Somit fehlen mir noch tausendfünfhundert Kilometer Strecke. Der deutsche und der niederländische Teil. Drei Wochen als junger Mann ohne Kunstflausen im Kopf.

Das Experiment, diese vierte Livereise, ist bis dato ein voller Erfolg. Ich konnte meine Ideen zum Schreiben-unterwegs, als auch zur konzeptuellen Kunst um Strecken ausweiten, Neuland gewinnen, mir selbst einige Dinge klar machen, und durch das disziplinierte, tägliche Arbeiten an der Sache feilen. Schreiberisch überraschen die neuen, fiktiven Ebenen, das Sich-weit-hinauslehnen, die Lust am Experiment, ohne zu ahnen, wohin es führt.

Kunststraßentechnisch sind eine Reihe von neuen Ideen im Spiel – wie ich die Sache präsentieren könnte und wie gegebenenfalls „kommerzielle Endprodukte“ aussehen könnten:

  • Das Stelen-System etwa: quadratische Pfosten von unterschiedlicher Höhe für jedes Zehnkilometer-Bild, die Seiten sind bedruckt mit Texten und den „schönen bunten Bildern“, den Sehenswürdigkeiten, sowie mit den Bildkoordinaten und gegebenenfalls mit einer Seite für Anmerkungen, die im Blog gemacht wurden. Für eine derartige Präsentation, die idealer Weise in einer Kunsthalle gezeigt wird, benötige ich viel Geld. Die Stelen werden in Form der zurück gelegten Route aufgestellt, so dass man ihnen als AusstellungsbesucherIn folgen muss, wie einst dem Kapschnitt, der auf einer Art Carrerabahn über dreißig Meter weit sich durch die Galerie Walpodenstraße schlängelte.
  • Aus den Einzelbildern könnte man auch einen Tageskalender erstellen, jeder Tag ein Zehnkilometer-Foto, wobei die Länge des Kalenders sich aus der Länge der Strecke ergibt und sich nicht mehr nach dem Umlauf der Erde um die Sonne richtet.
  • Geht es mir nicht bei dieser Reise um das Aufbrechen jeglicher Korsette, letztlich auch des Zeitlaufs? Aus den seriellen Tafeln könnte eine beilaufende Bildsammlung entstehen – so wie sie im Blog gezeigt werden.
  • Die Idee, statt Multiples, nur noch Unikate zu erzeugen: jedes iPhone-Foto wird nur ein Mal ausbelichtet, dann vernichtet. Mit Bildkombinationen wäre es dennoch möglich, ein Bild in verschiedenen Tafeln mehrfach zu verwenden.
  • Kollaboration mit Baba, die den zerschnittenen, abgenutzten Reifen bemalt, dessen einzelne Stücke ungefähr iPhonemonitorgroß auf Holzplatten aufgezogen werden, damit sie flach und bildhaft sind.
  • Ein limitiertes Poster für die SponsorInnen, sowie ein limitiertes Bild, das mit den Kettengliedern der Radlerkette „signiert“ ist (Loch ins Dibond bohren und die Kettenstücke einnieten).
  • Zu guter Letzt denke ich über eine Art Nischen-Streetview nach: die Gegenden, die Google nicht aufnimmt selbst erschließen, eine Software entwickeln, die fertige Internetseiten ausspuckt, wobei Koordinaten, Bild und Infotext automatisch verarbeitet werden, krönend käme hinzu, dass abfotografierte Infotafeln über Sehenswertes am Wegrand automatisch in Text verwandelt werden. Datenbankdenken, gewürzt mit einem Spritzer Kunst.

Schreiberisch lerne ich, wie man verschiedene Erzählebenen erzeugt, sie miteinander verknüpft, wobei die Eleganz oft aus dem intuitiven Moment entsteht, ein bisschen stolz bin ich schon auf meine Entdeckung der Zeitebenen, der halb fiktiven Figuren, der flapsigen dummer August-Frühstücke, sowie des trichterförmigen Eintauchens in die eigene Reisehistorie immer wieder.

Dieses live geschriebene Blog könnte sogar als Plattform dienen, meine Idee für das Buch „Europenner“, das schon seit 1994 gärt, wieder aufzugreifen und, in einem zweiten Arbeitsschritt, das Ding aufzusetzen und zu verankern an der realen Struktur?

All die Gedanken zur Kunst und zum Schreiben werden sabotiert von der Gewissheit, dass ich auch ohne es zu tun, ohne es zu verwirklichen, ein glücklicher Mensch bin, es gut und gerne als „Lohntacker“ aushalten kann, ja, auf einer gewissen, „faulen“ Ebene meines Seins mich sogar danach sehne, vor der Kunst, bzw. vor der Vermarktung meine Ruhe zu haben und einfach nur vor mich hinzuleben. Mir wird klar, dass das Kunstschaffen an sich mir unheimlich Freude bereitet und dass ich es, nebenbei gesagt, gerne und ohne Murren tue, dass ich in gewisser Weise sogar die Kunstmaschine bin, die ich skizziere, wenn auch Maschine falsch ist, ich zu viel Herz habe, zu viel Gefühl, zu unkontrollierbar bin, dennoch, der Akt des Datensammelns, den ich seit zwei Monaten betreibe ist das, was ich für alle Zeit tun könnte. Aber wohin mit den Daten, wenn du sie nicht kommerzialisierst? Sie im Blog zu deponieren und sie mit einigen Wenigen, die per Serendipitätsprinzip da hinein geraten sind und Gefallen daran finden, zu teilen, ist eine gute Methode. Sie nährt jedoch nicht ihren Mann.

Bin ich so einfach gestrickt, dass ich in Richtung Geld laufe, wie die Motte zum Licht?

Wenn ich ein Leben als Tacker lebe, was passiert dann mit all den Dingen, die nur ich kann? Fast selbstherrlich muss ich sagen, dass ein Grundstock an technischem Wissen, die Fähigkeit schreiberisch schnell und unter selbst ungünstigen Bedingungen, direkt Erlebtes zu skizzieren, sowie der fotografische Blick, gepaart mit einem Grundstock Masochismus, den eine strapaziöse Reise mit sich bringt, in mir auf einen Stapel fallen. Hinzu kommt mein abstrakt architektonisches Talent, seltsame Konstrukte zu erstellen, die weder Haus noch Zweckbau sind, aber irgendwie doch Gebäude. Luftschlösser der Postmoderne. Selbstherrlich fabuliere ich, dass es nur wenige gibt, die ebensolche Eigenschaften mit sich bringen. Ich bin der richtige Mann am richtigen Ort zur rechten Zeit der modernen Blogliteratur. Was Künstler können, können nur Künstler. Künstler sein ist, im Gegensatz zur landläufigen Meinung aus der wohligen Mitte der Gesellschaft kein Zuckerschlecken. Du lebst im ständigen Scharmützel zwischen der Lust, einfach die Seele baumeln zu lassen und das Hirn abzuschalten und dem euphorischen Trieb, kommerziell schwer nutzbare Gedanken abzuarbeiten.

Es zeugt von Arbeitsscheu, einfach arbeiten zu gehen, und ansonsten seine Ruhe zu haben.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 87 – die Strecke

Noch immer radeln Ray und Irgendlink durch eine Art „Niemandsland“ – zumindest was die Verbindung zur virtuellen Welt betrifft.

Nehmt es bitte nicht persönlich, wenn Irgendlink zurzeit keine Kommentare beantwortet und keine Blogs besucht. Er ist nicht im Netz, denn sein Wochenpass ist heute Morgen abgelaufen und da er ja spätestens übermorgen in Deutschland eintrifft, lohnt sich der Kauf eines neuen Passes nicht. So hofft er unterwegs auf freies Wlan. Oder er wird sich morgen einen Tagespass kaufen. Tja, das sind so die kleinen Entscheidungen eines Europenners.

Kurz vor Esbjerg, das ich in Eisberg umgetauft habe, haben sich die beiden Männer kurz nach acht in einem Wald ihre Zeltlager eingerichtet. Irgendlink ist erschöpft, der ungewohnte Rhytmus zu zweit macht sich allmählich bemerkbar. Das Wetter hat wieder umgeschlagen. Regnerisch, kühl, zwischendurch trockene Phasen.

Wie wäre es morgen mit einem Art-Break?, fragte ich vorhin am Telefon.
Mal schauen. Ich muss morgen in der Stadt eh wieder mal alles mögliche tanken und endlich die fehlende Speiche ersetzen.

>>> Camping Bjerregaard – kurz vor Esbjerg: zum Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

>>> Zum Ausschnitt auf der OpenStreetMap: bitte hier klicken!

Good News:
Lind Kernig hat sich übrigens wieder gemeldet. Doch lest selbst, was er schreibt. Auf Emils Blog. Hier klicken

The Morbaek Plantage Massacre

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier?

Wie ein Strudel saugt das Alltagsleben. Ich muss an die Zeichentrickserie Wickie und die starken Männer denken, so komisch das klingt, jene Szene, in der das Wickingerschiff auf hoher See in einen Strudel gerät, unweigerlich dem Untergang geweiht. Wickie hat eine Idee. Wie üblich.

Mit fünfzehn Stundenkilometer rolle ich meinem alten Alltagsleben entgegen. Per Telefon und E-Mail trudeln erste Warnungen ein, so dass ich mir um eine Resozialisierung Gedanken machen muss. Bin ich überhaupt resozialisierbar nach so langer Zeit und nach all den Erlebnissen? Im Süden Norwegens und Schwedens auf den schlechten Radwegen hatte ich noch gescherzt, dass das Radeln auf nasser Straße mit dem schneidenden Geräusch von Allwetterreifen auf Asphalt nur dazu dient, mich wieder an Menschennähe zu gewöhnen. An das alltägliche Gemetzel aus Terminen und Unabdingbarkeiten. Wie weit darf man sich ohne Gefahr davon entfernen? Du wirst Dich verändern, sagte Kommentator Stefan und er muss es ja wissen, hat er doch vor einiger Zeit eine 6000 km-Radeltour durch Europa gemacht. Das Problem an der eigenen Veränderung ist, dass man es selbst gar nicht merkt, weil es langsam geht.

Ein Tier will nur fressen und schlafen. Es baut weder Luftschlösser, noch entwickelt es Sehnsüchte. Derart einfach gestrickt bleibt einem Tier auch jegliche Sorge um die Zukunft erspart. Wahrscheinlich nimmt das Tier Zeit überhaupt nicht wahr. Es kennt nur den Hunger. So ähnlich funktioniert der Idealkünstler. Er kennt nur den Hunger nach Neuem. Er sucht danach, findet es, betrachtet es, lässt es zurück, nachdem er es durch die Maschine gejagt hat.

Ewige dänische Dünen, von graugrünem Gras bewachsen, Krüppelkiefernwäldchen, hinter jedem Hügel ein Ferienhäuschen – der zwei Meter breite Radweg schlängelt sich zig Kilometer weit durch die malerische Küstengegend nördlich von Esbjerg. Ein Traum von einem Radweg. daran rüttelt kein Windchen etwas. Ich bin nicht fit, schleppe mich voran bis in die Mittagszeit – wenn ich alleine radeln würde, würde ich mich auf unbestimmte Zeit in die Sonne legen und vor mich hindösen, aber Ray macht mit demonstrativem Plastiktütenrascheln darauf aufmerksam, dass er langsam unruhig wird. Das Leben mit Menschen ist grundsätzlich ein Kompromiss. Wer keine Kompromisse eingehen will, muss alleine bleiben. Wie ein Tier. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Nachdem alle Plastiktüten zu Ende geraschelt sind, fordert mich Ray auf, lets go. Der Startschuss.

Nun gibt es kein Ignorieren mehr der unterschwelligen Aufbruchsaufforderungen. Ich frage mich, ob das eine Einbahnstraße ist mit den Kompromissen, dass der Schnelle grundsätzlich den Langsamen dominiert – aber dann wird mir klar, dass es egal ist, von welcher Seite man die Kräfteentwicklung betrachtet. Der Langsame bremst den Schnellen und der Schnelle zerrt am Langsamen. So ist das auch auf deutschen Autobahnen. Der Schnelle drängt lichthupend, dicht auffahrend, den Langsamen, der Langsame blockiert stoisch den Schnellen. Es geschieht jetzt, es geschieht immer, es ist ein geradezu natürliches Schauspiel, das die Wollenden und die Nichtwollenden auf der offenen Bühne des Alltags vollführen. Es frisst sich in alle Lebensbereiche.

Paar Tage her, dass ich jenen riesigen Hund sah an einer zwanzig Meter langen Leine vor dem versunkenen Leuchtturm, wie er das Frauchen hinter sich her zerrt, die Nase stur im Sand. Ein wunderbares Bild. Eine Sekunde zu spät betätige ich den Auslöser der Nikon, sonst hätte ich Hundchen links, Frauchen rechts, Leuchtturm in der Mitte und die Leine zum Zerreißen gespannt. Das Leben wartet nicht auf die einen hundertfünfundzwanzigstel Sekunde lang offene Blende eines dahintreibenden Künstlers.

Da ich nachmittags auf einer Parallespur des Lebens dahin radele, mehr dösend, als wach, baldowert Ray einen Wildzeltplatz aus, fragt sich durch in ein Wäldchen namens Morbaek Plantage, wo angeblich niemand etwas dagegen hat, wenn man sein Zelt dort einfach aufbaut und vielleicht gibt es dort sogar einen Shelter. Noch fünfzehn Kilometer bis Esbjerg. Wir bauen auf weichem, trockenem Moos auf. Das Wäldchen ist ein Naturreservat. Ich bin zu müde, um mich zu widersetzen – normalerweise meide ich solche Gebiete.

Nachts Regen. Morgens ist Rays fünf Kilo schwere Frontpacktasche weg. Unglaublich. Das fest verschlossene Ding einfach geklaut. Die unabgeschlossenen Räder stehen noch auf dem Waldweg. Wer klaut eine schmutzige Packtasche voller Lebensmittel und lässt zwei Tausend Euro-Fahrräder stehen? Nur ein Tier tut so etwas. In England wurde mir nördlich von London auf dem Campingplatz Lee Valley eine Lebensmitteltasche aus dem Zelt gestohlen, vermutlich von einem Fuchs. Nur fünf Minuten lang hatte ich das Zelt verlassen, den Reißverschluss offen. Du musst denken, wie ein Fuchs, wie ein wildes Tier, wenn du die Tasche wieder finden willst. Wildtiere halten sich nicht lange mit Formalitäten auf. Die Tasche muss in unmittelbarer Nähe vom Zelt sein. Im dichtesten Gestrüpp erkennen wir Plastiktütenfetzen, die Butterdose, Papier, schließlich die ganze Packtasche, unversehrt, nur die Aprikosen hat das Vieh mit den schlauen Pfoten zwischen Abdeckung und Tasche herausgefummelt. Die Aprikosen, ein Stück Butter und ein Haufen Plastikfetzen. Das Tier lauert vermutlich im Gestrüpp, beobachtet uns, die wir Futter haben. Das Morbaek Plantage Massacre, titele ich scherzhaft.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)