Wie ausgestorben ist der Ponyhof. Nur ein Pferd, das ab und zu grummelt und mit den Hufen gegen die Stallwand trampelt. Seit halb sieben bin ich wach. Koche Kaffee auf dem Spirituskocher. Praktischerweise steht ein Stahltisch vor meinem Container. Eine junge Katze gesellt sich zu mir. Doch ein Lebewesen. Aber vom geschäftigen Treiben, das ich mir von einem Pferdestall erwarte, Viehtränke, Futter, ausmisten keine Spur.
So radele ich ohne Abschied weiter auf dem Ginsteleden bis nach Kungsbacka, formuliere in Gedanken eine Email an Nathalie, um auf diese Weise Tschüss zu sagen, irgendwann.
Das Fon ist bei moderaten fünfzig Prozent und die Mili fasst wieder Strom vom Nabendynamo. Für die nächste Livereise nehme ich mir vor, die Technik zu verbessern, den Ladeakku fest zu verlöten, wie im übrigen alles elektrische. Auch an der Liveblogtechnik doktore ich gedanklich herum. Letztlich müsste ich, oder jemand, der die Liveschreibe kommerziell gestalten möchte, die Jugend gewinnen. Kaufkräftige, willenlose KonsumentInnen zwischen 15 und 30. Und wie kriegt man die? Mit Onlinegames.
Schon 2001 habe ich mit Medienmanager Thilo, bei einigen Bieren zu viel, darüber gebrütet, wie man eine interaktive Livereise gestalten könnte. Die Sache ist simpel: Du musst zum lebenden Avatar werden, der von den lieben Kommentierenden ferngesteuert wird.
So phantasiere ich vor mich hin, verliere Höhe Åsa den Ginstleden und radele zwölf Kilometer Umweg. Hektik macht sich breit. Wann wohl die Fähre in Varberg ablegt? Ob es mehrere gibt pro Tag. Um nur „rechtzeitig“ zu kommen, trete ich ordentlich rein, habe ruckzuck fünfzig Kilometer auf dem Buckel. Schaue nicht so genau hin, weil ich ja in Gedanken schon die X-Uhr Fähre in Varberg besteige. Sowas hirnrissiges. Ich gehe von einem fiktiven Zeitplan aus, auf dem sich all meine Hektik, Anstrengung und Schweiß gründet. In Frilesås ziehe ich die Notbremse, nachdem ich den Zwölf-Kilometer-Unaufmerksamkeitsumweg gemacht habe. Welchem Gespenst jage ich hinterher? Das Denkmal der unbekannten Timetable. Ich meißele in Granit, baue einen Götzen aus Minuten. Ihm zu dienen trete ich mächtig rein.
Ich könnte auch einfach ins Netz gehen und nachschauen. Aber das würde meiner Schinderei jeglichen Zauber nehmen, mich gegebenenfalls noch mehr unter Druck setzen, wenn etwa die Fähre um 15 Uhr ablegt. Schon der Gedanke, dass sie vielleicht um 15 Uhr ablegen könnte, lässt mich ordentlich reintreten. Die Gegend ist flach. Nicht hässlich noch malerisch. Gegen Varberg dominieren mächtige Felsen in sanften Wiesen. Bei einem Dorf namens Li, gleich neben einem Weiler namens Tom, gibt es zig Hinkelsteine zwischen Koniferengewächsen, deren Name ich nicht kenne. Imposant. Nach fast achzig Kilometern erreiche ich Varberg. Gunillasberg nenne ich die Stadt nach meiner Freundin, Kunstsammlerin, Mäzenin Gunilla, die hier geboren ist. Von Anfang an war klar, dass ich eine Varberg-Bildtafel ihr zu Ehren gestalte. Selbst wenn ich deshalb die imaginäre 15 Uhr-Fähre verpasse.
15:00 endlich da. Der Grenaa-Kai ist verwaist. Nur ein Auto mit Wohnanhänger deutet darauf hin, dass heute vielleicht noch was geht. Die Timetable sagt, dass montags bis freitags täglich zwei Fähren fahren: eine um 8:50, utopisch pervers früh. Die andere um 19:45. Das Paar im Wohnwagen bestätigt das. Puuh, genug Zeit, Gunillaberg zu erkunden.
Zunächst lade ich in einem Café den iPhoneakku, trinke Kaffee und esse Riesenschokokuss. Kaffee darf ich nachschenken ohne zu zahlen. Das ist so in Schweden. In Norwegen gibts den zweiten nur billiger. Anyway.
Stunde später kreuz und quer durch die Stadt und auf der Hauptstraße scheint sich etwas anzubahnen. Männlein in Amischlitten flanieren. Auch erwachsene Kerle mit Asterixbart. Versteh einer diese Volk. An der Straße warten etliche hundert Menschen, vielleicht tausend? Worauf. Wummern. Am Ende der Straße ein Polizeiauto, gefolgt von einer Kolonne aus Trucks, Oldtimern und Traktoren mit Anhängern. Techno. Loveparade? Fasnacht?
Schulaus. Die örtliche Uni spuckt ihre AbsolventInnen aus. Jubelnd mit Schuluniformen und weißen Mützen auf ihren Trucks, die behängt sind mit selbstgeschriebenen Bannern, die ich nicht verstehe. Faszinierend wird das Spektakel, wenn man sich in den Stadtkern begibt. Der Korso fährt im Rechteck um die Quadraturen, so dass man an einem Punkt zwischen den akustischen Schneisen, die sich automatisch bilden, aus verschiedenen Richtungen von verschiedenen Musiken beschallt wird. Fast wie in diesen Vampirfilmen, in denen das dunkle Gemach der scheußlichen Kreatur von Kugeln zersiebt wird und plötzlich aus allen Richtungen Lichtstrahlen eindringen, das Böse verbrennt. Ich muss an Whitby denken, Bram Stoker Stadt, das ich just am Wochenende des Frühlingstreffens der europäischen Gothicszene durchradelt habe. Ich bin ein Vampir, zerschossen von den höchst wirksamen akustischen Strahlen der schwedisch zivilisierten Welt.
Gegen 18 Uhr legt sich der Spuk. Nur noch Amischlitten voller Schulabgänger kurven durch die Stadt. Und ein einzelner kleiner Polo, der die Bässe elend aufgedreht hat, erstaunlicherweise aber an der Bahnschranke, an der er neben mir wartet, für kurze Zeit die Musik ausstellt.
Ich buche die Fähre im Büro am Hafen, erschrecke beim Preis: 525 SEK. Durch 8 gleich Euro die Frau am Schalter sieht mein blasses Gesicht. Billiger wirds nur, wenn ich vorab im Netz buche, ähm, gebucht hätte. Aber, fügt sie hinzu, sie lasse mir die Gebühr nach von 150 SEK.
Ich setze sie unbekannterweise auf die Liste der SponsorInnen des Herzens.
Nun bin ich mit fast nur Truckern an Bord. Bärbeißige Typen mit Unterbiss, karikaturenhaft, Jogginghosen, Adiletten, Kulturbeutel und Handtuch, kehlige Witze, solche Bäuche. Habe beim Buffet die Softeismaschine entdeckt. Das ist das Paradies. Ich darf das Ding selbst bedienen, könnte mich mit offenem Mund darunter legen …
0:00 solls in Grenaa an Land gehen. Keine Ahnung, wo ich dann zelten werde.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)