Oder: Ein großer Roman, der auf einem kleinen Campingplatz in Malö spielt.
„Ganz schön schwer, jeden Tag etwas zu schreiben“, gaukelt das Damoklesschwert des Reisealltags über meinem Kopf. Ich bin müde. Unendlich müde. Vergesslich bin ich auch. Vorbei an Wäldern, Seen, durch Mückenschwärme, unter Regen, vorbei an Häusern, Scanner der Welt. Bei einem Haus Nummer 44 schießt es mir in den Sinn, tse, genau dein Alter, aber halt, halt, halt, so alt bist du doch gar nicht! Wie alt ich bin, habe ich vergessen für den kurzen Moment irgendwo in der Gegend um Grebbestad, lege eine Pause ein auf einem der vielen flachen Felsen, der warm ist von dem bisschen Sonne – wann war das? Vorgestern.
Gestern war mehr oder weniger Regen. Jeden Tag etwas zu schreiben über die Reise, macht mir SoSo am Telefon klar, ist gar nicht so einfach. Die Tage sind gleichförmig, die Gegend ist mit ein paar Worten schnell skizziert und es macht kaum Sinn, zu erwähnen, dass es regnet, dass die Sonne scheint, dass der Wind weht. Woher auch immer. In meinem Hirn formiert sich eine Geschichte über den schwedischen Verkehrsminister, aus purer Wut, weil ich kilometerweit im Starkverkehr über die 172 radeln muss, zum Glück sind die schwedischen Straßen breit genug, dass zwei LKW und ein Radler aneinander vorbei passen, sonst wäre ich längst tot.
Björn K. wollte ich erfinden, wie er 1975 seinen norwegischen Cousin Sverre K. besucht und ich wollte der Familie K. eine lange Familiengeschichte im Bereich Verkehrswesen andichten, die bis zu Marco Polo oder Odysseus zurück zu verfolgen ist und allesamt haben die K.s Mist gebaut und es mit miserabler Planung ihren Mitmenschen schwer gemacht auf den Straßen dieser Welt.
Hanebüchen!
Aber wenn du alleine durch die schwedischen Wälder radelst, verselbständigt sich dein Hirn. Kurz vor Lysekil holt mich eine Autofahrerin aus meinem Gedankenreich. Ich stehe vor einer Infotafel mit Lageplan der Kommun, also des riesigen Gemeindegebiets, das gut 50 km lang ist. Ob sie mir helfen könne und so fallen wir in ein Gespräch über Nordseeradweg, Länge der Reise, immer alleine, schlechte Radwege – während sie mir ihre gut einen Meter lange Straßenkarte hochhält, damit ich sie fotografieren kann, erklärt sie, dass sie mit dem Auto diesen Weg, zeigt mit dem Finger, nach Göteborg nimmt, wo sie eine Freundin besucht und sie komme aus Lysekil. Fetzen von Menschenleben, kurz erzählt zwischen Tür und Angel. Brille, dunkle Haare, weiße Zähne, ca. 30 Jahre alt. Was wir unterwegs alles mitnehmen. Ein Reisetag wird nie langweilig. Dennoch wäre es wohl kaum von Interesse, alle Begegnungen wie einen Rosenkranz herunter zu beten: und dann kam der Wanderer, der auf Flatö wohnt und dessen Bruder Deutschland von Kiel nach München durchradelt hatte und dessen Freund demnächst mit diesem Boot – der Wanderer zeigt vorbei an der wuchtigen Fähre, vor der wir warten zum kleinen Hafen auf Flatö – ja, genau, das zwölf Meter lange Holzboot, mit dem wird er bis nach Bergen schippern. Und wir resümieren den Oslofjord und sein, des Wanderers, Leben auf der kleinen Insel, die wir gleich mit der Fähre ansteuern werden.
Die Fähre nach Flatö ist eigentlich ein Brückenersatz. Kaum 100 Meter trennt die Insel vom Festland. Es kostet auch nichts, sie zu benutzen. Sie sieht aus wie eine der Rheinfähren: großes dreispuriges Parkdeck mit einem Turm daneben, in dem der Käptn sitzt.
Eine Perle weiter in meinem Rosenkranz die beiden Franzosen. Müffelnde Radler, denen man die Wochen auf der Straße schon anriecht. Sie reisen ohne Gepäck auf dem Nordseeradweg, machen die Strecke jährlich in Etappen. Dieses Jahr sind sie in Kopenhagen gestartet, eine Gruppe von 12 aus Lille, über 700 Kilometer weit gegen den Wind in Dänemark geradelt, Skagen, dann von Fredrikshafen nach Göteborg. Nun hier. Ein Begleitfahrzeug haben sie und abends treffen sie sich immer in den Vandrarhemen oder günstigen Herbergen.
Ray, mit dem ich um Stavanger ein paar Tage geradelt bin, hat einige Einträge zuvor kommentiert, er sei schon in Göteborg, und zum Glück hat er die Strecke skizziert mit der Empfehlung, auf der Insel Malö auf den kleinen günstigen Campingplatz zu gehen. Die Strecke seit Lysekil ist wieder erträglich, hat auf schmalen Sträßchen Wohlfühlradwegqualität. Ich lockere Björn K.s Daumenschrauben. Für 100 norwegische Kronen quartiere ich mich ein – eigentlich sollte der Platz 100 SEK kosten, aber ich hatte nur noch 70 im Seckel und Kartenzahlung ging nicht. Großzügig rechnet der verschmitzte Platzowner 1:1 um.
Dringend nötig ist der Platz wegen der Stromversorgung. Mein Zwischenakku, den ich in Inverness gekauft hatte, ist kaputt. Zu viel Regen.
Was mich anfangs beunruhigt, macht mich nun zuversichtlich. Es ist vielleicht nötig, neue Wege zu finden. Erfahrungsgemäß hilft Mangel und Krise ungemein, Neues zu definieren.
Wer weiß, wie es weiter geht? Ich könnte per Hand auf Papier schreiben, das Fon nur noch nutzen, wozu es eigentlich gedacht ist: zum Telefonieren. Die Streckenfotos mit der Nikon machen und die Standorte schreiberisch notieren, so wie beim Kapschnitt 1995.
Ich könnte auch in Göteborg in den Flieger steigen. Oder hier auf dem kleinen Campingplatz in Malö direkt neben der Steckdose campieren, den großen Roman schreiben, der auf einem kleinen Campingplatz in Malö spielt.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)