Glommebrücke und alte Spinnerei in Fredrikstad (für groß aufs Bild klicken)
Am Glomme-Wanderweg Richtung Sarpsborg (groß auf pixartix_dAS bilderblog)
Artist in Motion
2012 bereiste Konzeptkünstler Jürgen Rinck alias Irgendlink den Nordseeradweg, der durch neun europäische Länder entlang der Nordseeküste führt. Während der Langstrecken-Radtour, die von Zweibrücken via Boulogne sur Mer entgegen dem Uhrzeigersinn fast 7800 km um die Nordsee führt, machte er alle zehn Kilometer ein Foto der bereisten Straße. Ganz egal, ob es an der Stelle etwas Sehenswertes gibt, oder nicht. Kunststraße, nennt er dieses Langzeit-Kunstkonzept, das er seit 1994 auf all seinen Reisen durchführt.
Glommebrücke und alte Spinnerei in Fredrikstad (für groß aufs Bild klicken)
Am Glomme-Wanderweg Richtung Sarpsborg (groß auf pixartix_dAS bilderblog)
Bin nun ca. 10 km südlich von Hamburgsund auf frisch gemähter Wiese. Ich baue das Zelt jetzt auf. Es gab Regenschauer heute, für mich nur Nieselregen, aber hier ist die Straße nass. Sehr schöne Etappe, wenn man von dem unfreiwilligen E6-Stück absieht, schreibt Irgendlink kurz nach neunzehn Uhr.
>>> Strömstad, Camping – Nähe Hamburgsund, Wildzeltplatz: zum Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!
>>> OpenStreetMap: zum heutigen Ausschnitt: bitte hier klicken!
Wenn ich Verkehrsminister wäre, würde ich dafür sorgen, dass mindestens die ersten fünfzig Kilometer Radweg ab der Landesgrenze in einem perfekten Zustand sind, dass die Beschilderung schlüssig ist und gut sichtbar am rechten Radwegrand angebracht ist, keine Schlaglöcher, keine lebensgefährlichen Hauptstraßen-Fallen. Ich Schlange, ich. Nach und nach würde ich die Touristen an schlechtere Bedingungen gewöhnen, würde ihnen schleichend die gemeine Radlerrealität meines Landes unter die Ohrläppchen reiben, so dass sie erst nach hundert Kilometern merken, wie beschissen es um die Radwegeversorgung steht. Zu guter Letzt würde ich, nur zu meiner Erbauung, die Autobahn sperren und den Verkehr auf die Radroute umleiten, ich Terroregime des modernen Radtourismus, ich.
Goodies, Goodies, Goodies – Süssigkeitenläden erwarten einen jenseits der Grenze in Schweden, Tankstellen, Zigarettenläden, Weinhandlungen, monströse Supermärkte mit extragroßen Einkaufswagen, riesige Parkplätze davor. Mitten im Wald hat man eine Lichtung geschlagen. Von Svinesund, wie es auf der Karte steht und auf Schildern, kann ich nichts erkennen. Ich erinnere mich, dass es kompliziert ist, den Ortskern einer schwedischen Stadt zu finden. SoSo und ich haben 2010 einmal ewig gesucht, um zum Kern einer Stadt in Skåne zu finden. Per Auto. Versteh einer diese weitflächig verteilten Siedlungen. Kein Svinesund. Nur Supermärkte.
An Hand des GPS-Tracks finde ich den Nordseeradweg. Er führt über fast unbefahrene Straßen durch den Wald – erst kurz vor Söderstad gelangt man auf eine stärker befahrene Straße mit separatem Radweg. Schilder gibt es ab und zu an unnützer Stelle, Cykelsparet steht darauf. Kein Hinweis, was für eine Radspur das ist, woher sie kommt und wohin sie führt. Das ist mir auch egal, solange die Strecke gut auffindbar ist und die Schilder nicht ins Nichts führen oder drei Wege gleichzeitig ausweisen.
In Söderstad: das schwedische Männlein! Beinahe hatte ich vergessen, wie derb und unprofessionell die Männleins in Schweden auftreten – als Männlein bezeichnet man erwachsene Menschen männlichen Geschlechts, die durch Äußerlichkeiten versuchen, auf sich aufmerksam zu machen und ihr geringes Selbstbewusstsein mit lärmenden Aktionen zu verstecken. Das schwedische Männlein fährt einen rostigen Volvo mit Hinterradantrieb und in jedem Kreisverkehr, dessen es habhaft wird, lässt es die Reifen durchdrehen, so dass die Karre hinten ausbricht wie beim Grasbahnrennen und Spuren von Gummi und Fetzen und Lärm hinterlässt. Im Gegensatz dazu ist das norwegische Männlein, das sonntags zwischen zwei und vier auf der Hauptflanierstraße seiner Kleinstadt mit offenem Fenster, röhrendem Auspuff und lauter Musik auf und ab fährt, ein Waisenkind, und das deutsche Männlein, besoffen glastrümmernd an Bushaltestellen ein prolliges Ärgernis.
Abends Regen. In einem Supermarkt kaufe ich ein paar Dinge, erstaunt, wie billig. Türme aus Bierdosen, Cola, Wände aus Schokoladentafeln, auf dem Parkplatz viele Autos mit norwegischem Kennzeichen, ein deutsches Wohnmobil. Ein alter Zausel mit langem Haar und Bart schiebt seinen Einkaufswagen im Millimetertakt zum Auto. Der Kerl stinkt. Er kann kaum noch laufen, tut mir leid und macht mich gleichzeitig wach, wie wichtig es ist, dass ich das tue, was ich gerade tue. Jetzt und nicht später. Immer wieder begegne ich Menschen, die mir bestätigen: Mache diese Reise, bevor es zu spät ist. Der Fischer, der mir vor fast zwei Wochen einen Fisch geschenkt hatte, kommt mir in den Sinn, wie er sich keuchend an die Hüfte langte. Er könne keine Radeltour mehr. Gehen sei schon schwer genug. Kaum 62 ist er. Oder der Mann mit den zwei Herzinfarkten und dem Schlaganfall, der sich Gott zugewandt hat.
Auf dem Camping Söderstad quartiere ich mich ein für 150 SEK, die Wartin akzeptiert meine norwegischen Kronen, rechnet auf 140 NOK um. Ob das der offizielle Kurs ist? Es gibt Wifi. Nachts lade ich den Zwischenakku an der Rezeption. Dauerregen bis zum Morgen. Den Tag verbringe ich trocken, gerate schon 10 km nach Söderstad auf eine stark befahrene Straße – kaum zu glauben, dass mein GPS-Track auf dem iPhone mich hierher geführt hat. Erst nachdem ich in einer Tankstelle aus dem Straßenatlas eine Karte der Region abfotografiere, weiß ich, wo ich bin: die Radelstrecke wäre theoretisch ruhig, aber aus irgendeinem Grund hat man die vierspurige E6 zwischen Söderrstad und Tanumshede auf die Straße umgeleitet. Verwaist und still liegt die nigelnagelneue E6. Keine Ahnung, warum sie gesperrt ist. In meiner abfotografierten Karte lese ich, dass sie 2009 eröffnet wurde. Vielleicht stimmt etwas nicht mit den Tunneln oder den Brücken?
Über Lur radele ich auf fast unbefahrener Strecke weiter. Tanumshede. Grebbestad. Dann die mäßig befahrene 163 immer der Küste nach. Wieder auf dem offiziellen Radweg. Wunderschöne Strecke. Aber: Schweden darf sich nicht anmaßen, einen Teil des Nordseeküstenradwergs zu besitzen. Keine Schilder, kein Radweg, alter Schwede! Einen GPS-Track kann jedes Kind im Internet zurechtschustern.
Dennoch bin ich froh, hier zu sein. Knapp südlich der Tanum Kommun schlage ich mein Zelt auf einer frisch gemähten Wiese auf in der Gegend um Gerleseborg und Bovallstrand.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Gibt es etwas Trostloseres, als in einem schwedischen Bushäuschen zu sitzen an stark befahrener Sonntagstraße, die nur so tut, als sei sie der Nordseeküstenradweg, einen Regenschauer abwartend? Zu Hause muss die Liebste ihren Geburtstag ohne dich feiern.
Noch etwa 90 km bis Göteborg. Schöner Platz, schreibt Irgendlink um Viertel nach acht. Bin aufm idyllischen Camping Samuelsson. Malö. Jetzt koche ich im Zelt. Es nieselt. Mili ist kaputt. Werde in Göteborg neues kaufen.
Ach, die Invernesser Mili, das neue Herz, das Irgendlink sich als Ersatz für das geklaute kaufen musste – einfach kaputt! So was aber auch … Wars der Regen? Eine Garantierückgabe dürfte ein bisschen schwierig sein, weshalb ein neues Herz nötig wird. In Göteborg oder vielleicht schon früher, irgendwo unterwegs. Hoffen wir das beste.
>>> Bei Hamburgsund – Camping Samuelsson, Malö: zum Kartenausschnitt von heute: bitte hier klicken!