Reloaded Post: Liveschreiben # 6 – ein Binden am Sack der Literatur.

Lieber Irgendlink, sagt Sofasophia gestern Abend am Telefon. Ich bin mir nicht sicher, ob alle deinen schwarzen Humor verstehen. Da gibt es diesen einen kleinen Abschnitt in deinem ansonsten echt tollen Text, der mir ein wenig weh tut. Und das, obwohl ich deinen Humor ansonsten verstehe und mag. Und obwohl ich weiß, dass du das, was du da geschrieben hast, keineswegs weder so gesagt noch so gemeint hast. In meinen Ohren klingt es dennoch ein bisschen – hm … wie soll ich sagen … schnippisch? überheblich? zu dick aufgetragen? –, wenn du schreibst: ‚Etabliere eine Art Homebase, nimm deine Lesenden hart an die Kandare. Die können in den Kommentaren für dich schuften, hey, und du wirst sehen, wie happy sie dabei sind. Denn sie kriegen das Gefühl, noch dichter dran zu sein an der Reise.‘

Hum, ich glaube du hast recht. Das hört sich wirklich irgendwie seltsam an. Ich hätte den Text nochmals durchlesen sollen, sagt Irgendlink. Manchmal geht das Temperament mit mir durch, wenn ich drauflos schreibe. Und ich werde satirischer als ich will, ohne es zu merken. Verletzen wollte ich aber gewiss niemanden.

Das weiß ich gut!, sagt Sofasophia. Vielleicht bin ich ja auch die allereinzigste, der es so eingefahren ist. Der Rest des Textes ist echt klasse! Vor allem der Schluss gefällt mir ausgesprochen gut. Schreib bloß weiterhin einfach drauflos. Eine Rückmeldung wollte ich dir trotzdem geben.

Schnitt

Spät nachts, vor dem Schlafengehn, ruft Sofasophia per iPhone die WordPressApp auf und aktualisiert Irgendlinks Artikel und Kommentare. Oh, hoppla?! Der diskutierte Artikel ist weg, einfach weg. Heute Morgen erfährt sie von Irgendlink, dass er, weil zu müde, des Nachts den Artikel nicht überarbeiten mochte, sondern ihn einfach – zack! – gelöscht hat.

Nach einer Diskussion per Mail ist Irgendlink jedoch bald überzeugt, dass der Artikel zu gut für den Papierkorb ist. Er bittet Sofasophia den Artikel nochmals hochzuladen.
Wie wärs mit einem Kollaborationsartikel? Du knöpfst Dir die fraglichen Passagen vor und machst Anmerkungen, gerne bissig, kleine Knuffe in die Magengrube des Herrn Schmierfink. Ich beabsichtige einen weiteren Text: Liveschreiben 7 – Baden im Fettnapf der Literatur.

Und das tut Sofasophia hiermit  wenn auch ohne Knuffe. Die weggelöschten beiden Kommentare konnten zum Glück noch aus dem Mailkasten gefischt werden und sind unten als Zitate angehängt.

Liveschreiben # 6

Wie schwierig es wird, wenn man eine Weile nicht geschrieben hat, erwähnt Ray gestern. Er ist auch Künstler, Autor und Maler. Er hat eine Kladde im Gepäck, in die er Aquarelle malt und die Tageserlebnisse skizziert. So wie er klingt, hat er einiges auflaufen lassen. Im Vorgarten bei den Simonsons in Vikse, sitzt er zum Frühstück im Schneidersitz, während ich mich mühsam aus dem Schlafsack schäle. Er serviert mir einen Kaffee und drückt die Faust in meine Richtung, bis ich kapiere, dass das der Gruß ist. So drücke ich auch meine Faust gegen seine. Hey, das ist cool, das kenne ich aus Filmen über Los Angeles Gangsterbanden. Fehlt nur noch das Fingerschnippen und was weiß ich noch alles, was zum Grußritual gehört. Rituale entstehen wie aus dem Nichts. Muss man sich so den Urknall vorstellen? Verschiedenes trifft aufeinander und versucht, im Laufe von aus sich selbst heraus entstehenden Prozessen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Ist es nicht so in jeder Beziehung, in jeder Familie?

Ich predige Ray von meinen zwei Jahre währenden Experimenten mit dem Liveschreiben: „Das alles“, mache ich eine ausladende Handbewegung über das Equipment, den Akku, das Phone, die externe Tastatur, „gab es vor zwei Jahren noch gar nicht für mich. Mühsam musste ich mich an die Sache herantasten, habe geübt mit der Technik, mit Solarzellen habe ich experimentiert, mit einem Finger auf der winzigen Touchscreen-Tastatur habe ich den Jakobsweg geschrieben, habe Krisen geprobt, indem ich bei Strommangel die Texte auf Papier skizziert habe, so wie früher, sie dann abfotografiert und in den fetten Zeiten der Reise gepostet. Habe mit Blogsoftware experimentiert. Ray steht ganz am Anfang seiner Experimente. Er hat das Smartphone erst seit wenigen Tagen. So muss sich ein Klavierschüler vorkommen, wenn er erstmals vor dem schwarzen, großen Kasten sitzt.

Ray ist mit seiner Schreibe etliche Tage zurück, noch immer in Bergen, als man ihm vom Fahrrad weg das Werkzeug geklaut hatte und er nach Ersatz suchen musste. Über den Kanadier aus Winnipeg schreibe er gerade, jenen Radhändler, der ihm die nötigsten Werkzeuge geschenkt hat. Lange noch nicht ist er in seinem Erlebnisstrang bei der Begegnung mit mir angelangt. Und ich fürchte, das wird ein ganzer Brocken Arbeit, denn die Livereise, direkt berichtet, noch ofenfrisch, verzeiht kein langes Aufschieben. Nichts ist älter, als der Blog vom Vortag.

Meine Forschungsarbeiten, die ich in den letzten beiden Jahren intensiviert habe, haben mich sämtliche Register der modernen Liveblogliteratur ziehen lassen. So habe ich auch an der Schreibtechnik selbst gefeilt. Wie kann ich zum Beispiel längst Vergangenes in den aktuellen Reisestrom einspeisen, so dass es A elegant klingt und B für den Leser, die Leserin auch noch plausibel klingt?

„Nutze die pure, erlebte Strecke als Skelett“, rate ich Ray, „und erlaube dir ansonsten alles Mögliche. Kümmere dich nicht um Fipptehler, äh, Tippfehler, schreib gnadenlos drauflos. Etabliere eine Art Homebase, nimm deine Lesenden hart an die Kandare. Die können in den Kommentaren für dich schuften, hey, und du wirst sehen, wie happy sie dabei sind. Denn sie kriegen das Gefühl, noch dichter dran zu sein an der Reise. Livebloggen ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.“

Ray fuchtelt mit dem Pinsel, malt die Szenerie mit Blick über den Viksefjord, der direkt hinter dem Gehöft der Simonsons liegt. Ich sage „die Simonsons“, weil auf dem Auto des Hausherrn „Simonson Elektrik“ geschrieben ist. meine Suche im Netz hat jedoch keine Treffer ergeben, bzw. ich lande bei einer großen Firma. Vielleicht arbeitet unser Host einfach nur dort und hat das Firmenauto? Gerne überrasche ich meine Gastgeber mit einer Postkarte, die ich irgendwann später am Weg schreibe. Ich fürchte, in diesem Fall muss ich an „Birger in Vikse“ adressieren, „dessen Vater ein Auto mit der Aufschrift Simonson Elektrik hat“. Ob das ankommt?

Kurz nach unserer friedlichen Übernachtungsgelegenheit wird die Strecke ca 10 km vor bis 10 km nach Haugesund zu einem Stück miserabel beschildertem Radweg, der zudem über weite Strecken an und oft auch auf einer stark befahrenen Straße, der E39 führt. Horribler Höhepunkt ist gewiss die geierschnabelsteile Straßenbrücke südlich von Haugesund, auf der man als Radler die Gnade erfährt, auf einem etwa 80 cm breiten Fußweg, der nur durch einen Bordstein von der ohnehin schmalen zweispurigen Fahrbahn getrennt ist, zu radeln. Im ersten Gang einen halben Kilometer aufwärts, dann genausoweit wieder steil abwärts. Wohl dem, der bei Sonne und Windstille passieren darf. Die LKW brausen zwar langsam, aber nur wenige zig Zentimeter an Dir vorbei. Ihre Spiegel sind zum Glück hoch genug, dass sie über deinem Kopf an dir vorbei passen. Rechts geht es nach einem fragwürdigen Stahlgeländer direkt in den Fjord. Wir verirren uns. Der norwegische Radweg sei bekannt für seine gute Ausstattung und die Beschilderung, sagt Ray. Pah! Die englischen Radwege von Dover bis Hull sind die besten, sage ich. Ich vermute, dass an dem Teilstück, das wir radeln Wegweiserkonflikte herrschen, weil der Weg zum Teil neu gebaut ist und man über mehrere Alternativrouten radeln kann, die einander widersprechen.

Ein sehr schönes Stück folgt ca. 10 km südlich von Haugesund, das aber getrübt wird durch die vielen Müllautos, die waghalsig und stinkend auf der schmalen Straße zwischen Felsen und Weidezäunen an einem vorbei rauschen. Gewiss das bisher gefährlichste Teilstück des Nordseeradwegs – auf den A-Roads südlich von London habe ich mich ostermontags sicherer gefühlt. Erst kurz vor Skudeneshavn wird die Strecke ruhiger, schöner, gelassener. Stoßweise Verkehr, der sich vermutlich durch die Fähranbindung erklären lässt. Fähren fahren morgens um 6, um 9, um 13 Uhr, und um 18-Uhr-nochwas fährt die letzte. Ray ist mit einer Freundin in Stavanger verabredet, die er noch an diesem Abend treffen will. Ich bin erst am nächsten Tag um 15 Uhr verabredet mit Brian, dem Sohn unseres Dänisch-Übersetzers. Da Skudeneshavn so schön ruhig ist, und ich nicht weiß, ob nicht wieder eine Haugesundhölle vor den Toren Stavangers auf mich lauert, mit tiefen Tunneln und waghalsigen Brücken und Höllenhunden von Lastern, quartiere ich mich auf dem Campingplatz in Skudenes ein. Zehn Minuten per Rad vom Hafen. Neben einem Wohnmobil und einigen Hüttenbewohnern bin ich der einzige Gast. 100 Kronen fürs Zelt, 20 für mich. Durchschnittspreis? Eigene Küche, sauberes Badhaus, Strom ohne Ende und ein super lahmes Wifi, durch das ich sogleich Bilder pumpe für SoSo in der Homebase. Zum Skypen taugt es mäßig.

Morgens beim Packen, wird mir klar, wie es funktionieren kann mit dem Liveschreiben und den winzigen Elementen, die man gerne noch erwähnen würde. Im Grund muss ich es machen wie mit dem Taschen packen. Nur, dass es sich nicht um Gegenstände handelt, die ich in den Text packe, sondern um geschriebene Bilder. Jenes Mädchen am Abend zum Beispiel, als Rays Fähre ablegt, das am Hafen steht und minutenlang winkt zu einem Fenster auf der Fähre, hinter dem man verspiegelt eine Person erkennt. Mann? Frau? Träge verlässt das Schiff den Hafen, Dieselrußgestank. Der Pott hängt total schief. Jenes Bild irgendwie in die große Packtasche dieses Live geschriebenen Buchs zu stopfen, und zwar elegant, das ist mein Ansinnen. Das sollte ich mal als Technik ausprobieren. Die Packtaschen am Rad sind ziemlich chaotisch, seit ich kaum noch Kleider am Leib habe. Aber letzten Endes löst sich das Chaos nach zwanzig Minuten stopfen, und alles irgendwo rein fummeln und am Ende steht ein sauber gepacktes, fahrbereites Vehikel da, hey, Mann, und das schreiberisch zu erreichen, das wäre mal ein Ding. Die fein gepackte Fahrradpacktasche der Literatur. Seit über einer Woche gaukelt mir jener Abend im Crask Inn, in den Highlands im Kopf, über den ich noch immer nicht geschrieben habe. Es wird mit jedem Tag komplizierter, den noch in die laufende Geschichte einzuflicken. Fast unmöglich erscheint es mir, den Baustein „Breakfast im Gemeinschaftsraum eines englischen B&B nach einem Fußballwochenende in Sunderland“ zu schreiben.

Wenn das Crask Inn in nur irgendeiner Weise doch bloß mit dem Fahrgastraum der Fähre nach Stavanger in Einklang zu bringen wäre, in dem ich nun sitze und diese Zeilen hacke, könnte ich die Geschichte super elegant integrieren.

Wir nähern uns dem anderen Ende der Fährverbindung, einem Ort, dessen Name mit M beginnt. Das Fon hängt an der Steckdose. Ca. 30 Fahrgäste auf den flugzeugsitzähnlichen Sitzen. Gemurmel. Handys klingeln, Kinder greinen, Flachbildschirme flimmern. Ich binde den Sack zu, auf dass er irgendwie rund wirken möge.

++++++++++++

Kommentare

Wildgans schrieb:
Rund wie ein gestricktes Einkaufsnetz, wo das und jenes durch die Maschen fallen kann, das sich aber auch bis zur Knallvölle weiten kann….
Macht Spaß, und ich schreibe abwechselnd mit elender Löwenzahnausmerzschufterei diesen Kommentar. Also alles macht Spaß. Das Lesen ist an/aufregend…
Gruß von Sonja
P.S. Gibt es im nächsten Land Ikeaautobahnen- oder Radwege?

+++++++++++

Sirifee schrieb:
Ha, beim Packen wie beim Schreiben kommt`s darauf an, auf etwas verzichten zu können – oder? Dennoch, ein kleine Rückblende mit erlebter Rede oder inneren Monolog macht sich doch meist ganz nett.
Genieß das feine Wetter. Ich hab alles nach draußen auf meine Terrasse verlegt, wo ich im Seewetterbericht höre, dass es auch noch die nächsten Tage in unseren Breiten nicht nur schön bleibt, sondern gar noch schöner wird.
Liebe Grüße aus sunny Norfolk
Siri Buchfee

Tag 58 – die Strecke

Ein fast radfreier Tag. Irgendlink ist heute Nachmittag mit Brian und Ray auf dem Berg gewesen. Dem Preikestolen. Das Wahrzeichen der Gegend, der Gurten* von Stavanger sozusagen, meinte er vorhin am Telefon. Beeindruckend sei das gewesen. Viele TouristInnen habe es gehabt. Danach hat er sich für heute Nacht auf dem Camping in Stavanger eingecheckt.

Und morgen ist nicht nur Internationaler Handtuchtag, sondern morgen wird er endlich auch das Ei abliefern.

Zur Erinnerung: Einige Tage vor Irgendlinks Abreise hatte Künstlerin MB die verrückte Idee in die Welt gesetzt, Irgendlink könne doch eigentlich – um seiner Reise noch einen zusätzlichen Thrill zu verleihen – einen Gegenstand von A nach B transportieren. Und diesen jemandem abliefern, den er unterwegs trifft. Allenfalls von wo- und wemanders einen anderen Gegenstand bekommen, den er mit nach Hause bringt. Via Berlin und Norfolk reist nun schon seit Wochen so ein Gegenstand, genannt das Ei, in Irgendlinks Radtasche mit. Bis morgen. Denn sein Bestimmungsort ist Stavanger.

Irgendlink hat aktuell nicht mehr allzu viel Akku, da er heute viel fotografiert und wenig Strom erradelt hat. Kann sein, dass er es noch schafft, den Platzwart vom Akkuladen zu überzeugen. Kann sein, dass nicht. Im Bad des Campingplatzes wird er seinen Zusatzakku jedenfalls nicht einstöpseln. Einmal Klau genügt.

>>> Stavanger Preikestolen – Stavanger Camping: zum heutigen Kartenausschnitt: bitte hier klicken zum Berg und hier klicken zum Campingplatz. Eine Route kann das System heute nicht herstellen – wegen der Fährverbindung.

________________________________________________________________________

* der Gurten ist Berns Hausberg. Und Bern einer Stadt, die wir beide sehr mögen.

Stavanger

Camping Skudenes bis Fähre dauert zehn Minuten per Rad. Ich schaffe die 9:10 Uhr-Fähre. Seit der Sommer eingekehrt ist, erlebe ich so etwas ähnliches wie Nacht nur noch zwischen 23 und 4 Uhr. Herrlich. Gut anderthalb Stunden dauert die Überfahrt. Am gegenüberliegenden Fährhafen treffe ich ein deutsches Radlerpaar auf dem Weg nach Bergen. Sie berichten weniger erfreuliche Dinge: dass die Gegend zwischen Larvik, wo sie gestartet sind und Kristiansand ganz im Süden nicht so doll wäre, die sie sich sparen würden, von ausgebuchten Hotels in Stavanger erzählen sie und von alpinen Streckenstücken. Von garstigen Straßen. Usw. Wie das eben so ist, wenn man eine hunderte Kilomerter lange Radlerstrecke in ein paar Sätzen skizziert.

Ich schwärme ihnen von meiner Blümchenwelt seit Bergen vor, verunschöne Schottland und England mit Schlechtwetter, würze Frankreich und Belgien mit vorfrühlinghafter Stimmung – et voilà.

Über Seitenstraßen, die schlecht mit dem Radweg Nummer 1-Schild gekennzeichnet sind, erreiche ich unter Zuhilfenahme des GPS Stavanger. Phantastisches Städtchen, ca 120.000 Einwohner, die sich weitflächig über Inseln und im Hinterland der Fjorde verteilen. Um fünfzehn Uhr treffe ich Brian, den Sohn von Georges, der den Basistext des Projekts ins Dänische übersetzt hat.

Stadtführung und gemütliches Kennenlernen. Stavanger hat eine zweigegliederte Altstadt, die sich auf beiden Seiten des Hafens erstreckt. Enge Treppen, Holzhäuser wie in Skudenes, aber das Zwei-Altstädte-Bild wird etwas „verunharmonischt“ durch Neubauten an den Hängen und ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das im Hafen liegt.

Wir kaufen Fisch – im frisch umgebauten Haus nördlich der Stadt kredenzen wir lecker Essen. Herrlicher Blick aus der zum Fjord hin verglasten Wohnzimmerfront. Im Fjord liegt eine Ölplattform zu Reparatur. Schiffe kreuzen, drücken keilförmige Formen in die Wasserfläche. Alleine das Spiel der Schiffe auf dem Fjord zu beobachten, könnte eine Lebensaufgabe sein.

Ich beschließe, einen Tag hier zu bleiben, um die Stadt näher zu begutachten und nachmittags, wenn Brian frei hat, wollen wir den Berg besteigen, dessen Namen ich immer vergesse. Er heißt Preikostolen.

Im Hafen liegen morgens plötzlich zwei Kreuzfahrtschiffe. Die Queen Victoria und die Pullmantur. Wollen mal hoffen, dass es sich nicht so verhält wie mit dem Schachbrett und dem Reiskorn. Bei dem alten chinesischen Denkspiel legt man auf das erste Feld des Schachbretts ein Reiskorn, das sich von Feld zu Feld verdoppelt: erst zwei, dann vier, dann acht und so weiter, bis wir im Hafen von Stavanger ein Heidenchaos an Kreuzfahrtdampfern hätten. Ohnehin müht sich gerade die Rokaland, die für sich alleine schon ein rechter Klotz ist, aber zwischen den beiden mit Lustpassagieren vollgepumpten Pötten wie ein Winzling wirkt, in der Enge der Fahrrinne zu wenden. Ein Mann, mit einem Fähnchen winkend, auf dem 08 gemalt ist, läuft vor einer Touristengruppe, gut 30 Menschen – die Lemminge von 08 scharwenzeln vor mir über den Zebrastreifen. Ich schlussfolgere, dass auch die Lemminge von 01 bis 99 irgendwo in der Stadt unterwegs sind. Wie lange wird der Stau, wenn sie alle gleichzeitig, quasi als eine Phalanx aus Lemmingen, den Zebrastreifen überqueren. In Norwegen nimmt man Zebrastreifen sehr sehr ernst.

Fünf bis acht Jungs, gefolgt von fünf Mädchen tragen ein Schlauchboot über die Kaimauer. Vor der Skyline aus Luxusdampfern sieht das aus wie Enten im Park. Busse mit offenen Fenstern karren Touristen durch die Stadt. So ähnlich müssen die Datenpakete, die Byteweise im Internet versendet werden, aussehen. Gebündelte Formationen aus Einsen und Nullen, die als Informationsträger, keiner weiß wie, vom Ursprungsort zum Bestimmungsort gelangen. Ha. Ich phantasiere.

Weiter weiter weiter, driften in der Stadt. Ich besuche eine Galerie, beeindruckende Ausstellung in Schwarz-Weiß. Vier verschiedene KünstlerInnen aus Schweden, Norwegen und Finnland. Eine Frau aus Bergen hat etwas mit Schachbrett kreiert. Und morbide Äste mit schwarzem Samt beflockt. Granit baumelt als Pendel neben einem Notizbuch, in dem auf jede Seite nur ein Satz geschrieben ist, den ich in meinem kindlichen Ratenorwegisch als „Wo ist Deine Neugier?“ übersetze.

Später ruhe ich in einem Park zwischen einem Kinderspielplatz und einem Friedhof. Eine junge Mutter versucht, ihr jüngstes Kind zu fotografieren. Sie redet Englisch. Das Kind kann kaum gehen und schaut nie in die Kamera. Die ältere Schwester, vielleicht fünf, versucht, die Aufmerksamkeit der Mama zu erregen, indem sie waghalsige Schaukelkunststücke provoziert und ruft und lacht und mit sich selbst redet. Für eine 125telsekunde gönnt die Mama der Älteren einen Blick durch den Sucher, um sodann die Kleine mit „Wuff Wuff“ und „Oink Oink, hrch hrch“ und anderen Geräuschen vor den Sucher zu kriegen. Faszinierend.

Ich hole Ray am Dom ab und wir treffen Brian nach der Arbeit. Mit dem Auto nehmen wir die Fähre nach Tau, parken auf dem Besucherparkplatz des Preikostolen. Die Spätschicht. Das Besucherzentrum liegt nur 3,6 km und etwa 450 Höhenmeter von dem Felsen entfernt. Voller Menschen international: vier Spanier muss Brian vor dem Hinweisschild zum Felsen fotografieren. Allerherrenländerstimmen. Leckeis und Cola. Ich sage Spätschicht. Wir können von Glück reden. Vermutlich treffen wir gerade den Inhalt der beiden Kreuzfahrtschiffe, die sich schon morgens dort hinauf geackert haben.

Der Weg führt über drei „Stufen“, die steil durch Geröllhalden ansteigen. Kein einfaches Wanderterrain. Die Dramaturgie des Weges könnte von Dürrenmatt stammen. Harmonisch sanft sich steigernd mit weiter, schöner, besser werdenden Aussischten, ein Gebrigssee auf zwei Dritteln der Strecke. Noch immer kommen uns die Nachzügler der Frühschicht entgegen: müde französische Mädchen, baßerstaunte bärtige Russen, eine Gruppe von fünf Jungs in knallengen Björn-Borg-Hosen, in denen sich die Penisse markant abzeichnen. Deutlich kann man die Links- von den Rechtsträgern unterscheiden. Vermutlich die Crew eines Pornodrehs zu „The Prude Preikostolen Prick“, der von fünf unschuldigen Jungs aus dem Gudbrandsdal handelt, die allesamt ihre Unschuld auf dem kahlen, nackten, lasziven Felsen verlieren. Hatte ich erwähnt, dass keiner von ihnen auch nur ein Haar auf der Brust hatte? Ganzrasur.

Kurz später zwei Shaolin-Mönche, so dass es mir langsam seltsam vorkommt. „Die Kralle des Drachens Teil 3“. Wie viele Filmteams erwarten uns da oben? Fehlt nur noch, dass Lex Barker von den Toten aufsteht, er und sein Bärentöter. Hough. Das Bloggesicht spricht mit gespaltener Zunge. Brian mutiert mittlerweile zu „Mein roter Bruder“. Die Sonne setzt insbesondere den Knöcheln zu.

Der Berg, dessen Namen ich immer vergesse, ist eine fußballfeldgroße Felsfläche, die senkrecht in den Fjord fällt. Wir picknicken die Sandwiches, die uns Lil, Brians Frau, gebaut hat, beobachten das internationale Treiben. Die erwarteten Filmteams sind uns erspart geblieben. Brian munkelt jedoch, dass demnächst ein Bollywood-Film vor dieser Kulisse gedreht werden soll. Vielleicht.

Beim Abstieg begegnen wir der Nachtschicht, Jungs und Mädels, die mit vollbepackten Rucksäcken, alles mitschleppen, was man für eine Nacht auf dem Felsen benötigt. Gut acht Stunden dauert der Trip mit An- und Abreise von Stavanger.

Kurz vor zehn Uhr checke ich auf dem Campingplatz am Mosvangen ein, kaum fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt. Zwischen See und E39 gelegen, ist der Platz zwar idyllisch, aber die Hauptstraße ist fürs Zelten doch ein bisschen zu nahe.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)