1-Liveschreiben
Wusstest Du eigentlich, dass du dich mitten in einem literarischen Experiment befindest? Dass die Seiten, die du gerade liest, roh und druckfrisch sind, ja, dass sogar das, worüber in diesem Buch berichtet wird, gerade erst erlebt wird? Dass es, außer der Idee für die Reise, die nur das Skelett ist, an dem das Fleisch wächst, aus dem die Geschichte besteht, keinerlei Plan gibt. Und selbst das ist veränderbar. Wird er weiterhin den Radweg Nummer eins nehmen, wie es die Idee „Ums Meer“ vorsieht, oder weicht er aus in die Berge? Wird der Protagonist – ähm, ich, dein Autor und Geschichtenerleber – seinen Flug buchen können, die Fähre erreichen? Die Geschichte, die du gerade verfolgst, ist das Ergebnis einer mindestens zweijährigen Forschungsarbeit, in der ich mich pö a pö quasi selbst ausgebildet habe, die Operation am offenen Herzen der Literatur durchzuführen.
Mit Zweibrücken-Andorra im Frühling 2010 hat alles begonnen. Damals fand das erste live geschriebene Buch statt. Fand statt? Darf ich das so schreiben? Gewiss. Etliche andere Experimente folgten. Mit dem Jakobsweg – ein Kommentator taufte das Buch aus dem Winter 2010 „Nach der Schuld ist vor der Schuld“ – gelang erstmals ein durchgängiges, literarisches Werk etwas holprig, aber die angedachte Form schon deutlich zu erkennen.
Vielleicht kann man es vergleichen mit den ersten Versuchen mit Herzverpflanzungen? Was war das damals für eine Aufregung, als die Meldung um die Welt ging, in Südafrika hat ein Herzchirurg ein Herz verpflanzt. Die ersten Patienten wurden nicht alt, aber die Technik hat sich seither verbessert.
Liveschreiben ist nicht anders. Es wird seinen Weg gehen, ich, dein Autor, werde nicht der einzige sein, der das macht. Weitere werden kommen, werden sich verschiedener Themen annehmen. Vielleicht wird das Liveschreiben sogar die Kinderschuhe der Reiseliteratur verlassen und es werden ganz neue, erstaunliche Wege eingeschlagen, im übertragenen Sinn? Der menschlichen Phantasie bleibt dabei alles offen.
In diesem Buch, dessen Zeilen noch druckfrisch sind, konnten wir einiges verfeinern, was etwa in „Nach der Schuld ist vor der Schuld“ noch klemmte: ja, WIR, ist doch „Ums Meer“ das Werk mehrerer Autoren und Autorinnen. Sofasophia in der Homebase – ich kann nur immer wieder darauf hinweisen – trägt mindestens 50% zur Operation am offenen Herzen der Literatur bei. Aber auch die unbekannte Komponente, du da draußen, schaltet sich verstärkt ein und trägt mit hilfreichen Kommentaren und Hintergrundinformationen zum Gesamtwerk dieses live geschriebenen Buches bei. Es ist sicher vermessen, mich als alternden, hastigen Weißkittelprofessor darzustellen, der das Skalpell auf ganz eigene Weise ansetzt und den kleinen Finger während des Schneidens abspreizt – Schwester, Tupfer bitte – aber hey, nun, da ich dies schreibe, drei Uhr nachts, eiskalt, mein Atem schlägt auf dem Touchscreen des iPhones nieder, Nachtvögel stoßen Laute aus und die See rollt ruhig in der Bucht unter Wheems, nun ist mir gerade nach ein bisschen Liveschreibphilosophie.
Vielleicht schreibe ich ein How-to, ich Dr. Frankenstein der modernen Blogliteratur? Mir wird in diesem Moment klar, dass ich die Experimente zuvor, insbesondere das Jakobswegbuch, so stehen lassen muss, wie sie einst live geschrieben wurden. Den ersten Herzpatienten holt schließlich auch niemand mehr zurück.
Tipp: wenn du diesen Artikel als Durststreckenartikel verwenden möchtest, musst du den Ortsanker Wheems heraus nehmen und alle zeitlichen Belege entfernen. Wenn du ihn aber morgen, an Tag 51 der Reise, veröffentlichst, kann er so bleiben wie er ist. Ob Professor Barnard damals sich auch Notizen gemacht hat, um seine OP-Technik zu verbessern?
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4-Liveschreiben
Schnappschusstechnik.
Die Schnappschusstechnik ähnelt der Twittertechnik. In kurzen Textfragmenten gibt Dr. h.c. Liveschreiber unmittelbar während des Erlebens Eindrücke wieder. Hierzu nutzt er den Touchscreen als Eingabemethode. Bis die externe Tastatur connected ist, wären die Eindrücke längst verblasst.
Die Schnappschussmethode habe ich noch nie ausprobiert. Zu sehr haftet ihr der Twittermakel an. Zu sehr hege ich den Dünkel, Literatur darf nicht flüchtig sein und zu sehr graut mir davor, im Abstand von wenigen Viertelstunden ein Blog vollzuspammen, das gerade von seinen längeren, velosophischen Texten lebt.
Ein typischer Liveschreibartikel würde wie folgt aussehen:
First Blog
Wheems Camping acht Uhr früh. Wasserleitung tutet wie Nebelhörner.
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Denke über eine neue Liveschreibtechnik nach, die so ähnlich funktioniert wie Twitter. Schnappschüsse des Erlebten, aufs Elementare reduziert.
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Was die Orkneys vom Festland unterscheidet? Die atemberaubende Stille. Fast schon möchte man meinen, der viele Wind muss so sein, sonst kämen die Menschen in der Ruhe um.
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Mach doch ne Serie über die Techniken des Liveschreibens, wo du schon mal mit dem Operation am offenen Herzen der Literatur Artikel angefangen hast. Eine Anleitung zum Buch direkt von unterwegs schreiben. Welcher Autor, welche Autorin träumt nicht davon?
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Die Schnappschusstechnik kann eigentlich gar nicht funktionieren. Ihr fehlt der Zusammenhalt. Oder hattest du etwa gedacht, nur weil du das bist und weil du so unique schreibst, kriegen die da draußen ein Verständnis für das, was du zerhackst und neu zusammensetzest?
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Der Hahn kräht. Fühlt sich an wie daheim.
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Hoffnung! Vielleicht ist es ja die Magnifikanz der Reise, die Faszination, dem bewegten Künstler über die Schulter zu schauen, die das Rückgrat bilden für die Schnappschussfolge?
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Alles ist erlaubt!
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Du, der/die du dies liest, bist dir im Klaren, dass dieser Text nie und nimmer ein Schnappschusstext ist, geschrieben in zeitlich weit auseinander liegenden Momenten und livegebloggt: Es ist ein Text, der nur so tut, als sei er ein Schnappschusstext.
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Vielleicht eine Anleitung? Jetzt fangen auch schon die Wasserleitungen der Nachbarhäuser an zu tuten. Vielleicht sind das doch Nebelhörner?
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Versteh einer die Orkneys. Mike von Wheems erzählt mir gestern, die Insel habe sich rasant verändert, sie sei schnell geworden. In der Tat hat man eine Art Touristen-Pump-System installiert: Von JOG, Gills Bay und Thurso pumpen die Frühfähren Tagestouristen auf die Insel. An deren Fährhäfen in St. Margarets Hope, Stromness und Burwick stehen Busse bereit, um sie im Land zu verteilen. Selbst vom 200 km entfernten Inverness aus werden Touristen per Bus Richtung Orkney gepumpt.
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Das Telefon klingelt. Geliebte SoSo entführt mich sanft in die Heimat. Schon erstaunlich, wo so ein menschlicher Geist sich gleichzeitig befinden kann, wie er Zeit und Raum zu durchschreiten vermag.
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Du solltest die Schnappschusstechnik mal in „echt“ ausprobieren.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)