In der Nähe von Tarragona an der spanischen Mittelmeerküste züngelt das Ebro-Delta meilenweit ohne jegliche Erhebung, ein absolut eintöniges Gebiet, das von Kanälen durchzogen ist, Deichen, Pumpstationen. Reis wird dort angebaut. In der Nacht kriechen lange, graubraune Lobster aus ihren Löchern und kratzen am Zelt.
In den Wintern 1991 und 1993 habe ich das Ebrodelta zwei Mal durchquert, bei dem Versuch, mit dem Fahrrad nach Gibraltar zu radeln. Damals ist mein Ebenen-Trauma entstanden. Wo andere Radler laut „Juhuuu“ schreien, weil es keine Berge gibt, fällt mir das Herz in die Hosentasche. Ich habe mich so verloren gefühlt im Ebrodelta, die unheimliche Weite und das nicht wissen, wo dein „Gegner“ sich versteckt. Eboraphobie, die Angst vor großen weiten Flächen, auf denen Gemüse angebaut wird. Nun durchradele ich schon den zweiten Tag dieses ebroeske Fenland, Waterland, wie es in Graham Swifts Roman heißt. Das Land der langsam fließenden Flüsse. Ich atme tief und ruhig. Die Beine kurbeln im steten Rhythmus, Herzschlag vielleicht 100, Blutdruck in bester Lage, Einatmen, Ausatmen, dabei etwas denken, ab und zu den Blick heben, Horizontlinie schnurgerade, zerzieselt einzig von ein paar Kiefern, die gezackt neben einer meilenweit entfernten Kirche stehen. Ist das Framton? Von links, von Westen zieht ein Gewitter heran. Die Welt schlägt im harmonischen Takt. Nachdem der Morgen weitgehend trocken war, sogar sonnig, was ganz sicher dem Sonnentanz zu verdanken ist, den Frau Freihändig und andere Bloglesende um Punkt 12 Uhr getanzt haben (hey, Dankeee), kommen nun schubweise Regenschauer. Hagel. Auch hier ist ein Rhythmus drin. Wenn ich es am Tacho ablese, fahre ich von Kilometert Null bis drei im Regen, von vier bis neun ist es trocken, von 10 bis 13 wieder Regen. Ich übertreibe mit der „Genauigkeit“.
Über Hinterlandsträßchen durch ein riesiges Farmgelände. Immer wieder Pumphäuser und Wassertürme. Das Land des Pumpens, denke ich. Zu einer riesigen Farm gibt es eine LKW-Zufahrt, die von den ganz Großen angefahren werden darf. Alle anderen Wege haben eine Barriere und Verbotsschilder in verschiedenen Sprachen, was mich zu dem Schluss bringt, dass internationale Speditionen die Farm anlaufen, um Gemüse und andere landwirtschaftliche Produkte 40-tonnen-weise heraus zu pumpen, und in die „trockeneren“ Gegenden des Landes zu transportieren. Manchmal kommt mir die ganze Welt, unser gesellschaftliches Miteinander, vor wie ein einziges großes Geflecht verschiedener Pumpen. Ganz offenkundig der Öl-Fluss mit echten Pumpen und Tausend-Meilen-langen Pipelines, aber auch der Gemüsefluss, der Mikrochip-Fluss, der Geldfluss, der Fluss von Arbeitskraft. Stoßweise Atem. Der Tacho zeigt, je nach Windrichtung zwischen 22 und 14 Kilometern. Nach einigen Stunden werde ich müde, verkrieche mich in einem Pub, wärme mich auf.
Nachmittags ist das Regenkleider-an Regenkleider-aus Spiel endgültig vorbei. Der tägliche Weltuntergang entlädt sich in Form eines eiskalten Gewitters südlich von Boston. Nun weiß ich endlich, wie groß Taubeneier sind. I’m not amused. Ich stelle die Tour in Frage. Jetzt bloß keine sinnlosen Sinnfragen, erheitere ich mich bei einem Pint. „Ich muss die Trübseligkeit, die die Widrigkeiten der Unabänderlichkeiten mit sich bringen, so gut möglich ausblenden“, fabuliere ich zwecks Förderung meiner Heiterkeit einen Satz mit ganz vielen „Keit“.
Meine Gibraltartouren sind allesamt gescheitert. Zweimal südlich vom Ebro-Delta in der Gegend um Valencia, zweimal in Seo d’Urgell, südlich von Andorra. Wenn ich meine Langstreckenradtouren betrachte, und die Ziele, die ich angepeilt hatte … eigentlich sind fast alle Touren gescheitert. „Plötzlicher Lustverlust“ führt zum Kollaps. Stimmen die äußeren Begebenheiten: schlechtes Wetter in Kombination mit Flughafen und potenter Kreditkarte, bist du ruck zuck wieder daheim.
Nein. So weit ist es jetzt noch nicht. Durch Boston habe ich wieder Sonne, kaufe eine Karte von ganz Britannien inklusive Schottland, die ich nur lesen kann, wenn ich die Glubschaugenlesebrille aufziehe.
In Boston faszinieren mich die grün gewordenen Kähne, die gesunken im Watt des Flusses The Haven liegen. Das Wasser läuft gerade mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in Richtung Meer und die Ebbe legt die alten Kähne frei. Westlich von Boston entdecke ich einen Campingplatz namens Orchad, den ich für drei Kilometer über eine mäßig befahrene A-Straße ansteuere (vorbei am Flugplatz!). Für 8 Pfund checke ich ein. Das Gelände hat sogar einen kleinen Hügel, der 50 cm über dem Normalniveau liegt. Meine Fahrradreifen hinterlassen Striemen in der klatschnassen Wiese und wenn man darüber läuft, quatscht es, mehr noch, das Quatschen schwingt sogar eine Weile nach, wenn man stehen bleibt. Man verursacht durch simples Laufen unterirdische Schwingungen, als würde man über die Abdeckplane eines Swimingpools wackeln oder über ein Wasserbett. Hervoragende Schlafbedingungen.
Beim Einschlafen überdenke ich die Tour. Vielleicht muss ich meine Gewohnheit ändern. Aufhören mit dem Zelten. In den Hotelmodus schalten (nein, das ist keine unterschwellige die-LeserInnen-anbettel-Methode!). Eine völlig rationale Überlegung: auf Dauer tut mir die Nässe und die Kälte nicht gut. Da die Vorhersagen für die Küste bis zum Ende des Vorhersageuniversums auf dem iPhone, also sechs Tage lang, nur Regen und Temperaturen zwischen 3 und 11 Grad zeigen, sollte ich mich auf eine Woche Hotel- und B&B-radeln einstellen, um meine Tourenfähigkeit zu erhalten. Was habe ich auch für Möglichkeiten: Aufhören oder Weiterradeln. Wenn weiterradeln, dann „europennerisch“ draußen, eins werdend mit dem Wasserland, oder etwas komfortabler unter Auferbietung finanzieller Ressourcen. Tja, lieber Irgend, du hast die Wahl, wer soll denn nun dein Herzblatt sein?
Bilder: Gesunkene Kähne auf The Haven