Die Tour gerät ins Stocken. Das Wohlfühlgefühl der ersten Woche in Luxemburg, Belgien und Frankreich, ist einer gewissen Irritation gewichen, wie sie einen überkommt, wenn man sich auf „neues“ Terrain begibt. Vielleicht haben die Gerüchte doch etwas Wahres, dass in England alles anders ist als auf dem Kontinent. Auf der Strecke von Deal bis Canterbury gibt es für mich fast nur den Radweg, Cycleroute Nr. 1, die auf schmalen Countryroads, kaum befahrenen Sträßchen, verläuft. Fast immer begrenzt durch Stacheldraht, Hecken und Mauern. An vielen Häusern hängen Warnschilder, dass sie videoüberwacht werden, an einer Kirchenpforte ist sogar eine Tafel angebracht, die potentielle Diebe warnt, dass sie sowieso gefasst werden, da alle Gegenstände mit unsichtbaren genetischen oder irgendwelchen anderen Codes versehen sind, und man sie jederzeit aufspüren kann, egal, in wessen Hände sie sind. Kurz hinter Deal folgt ein Golfplatz, neben dem es einen Campingplatz gehabt hätte und wenig später warnen Schilder, dass man sich auf einer Privatstraße befindet, und dass die Benutzung Geld kostet. An Wohnstraßen, die davon abzweigen, stehen große Schilder, die besagen, dass die Bürger hier gegenseitig aufpassen, potentielle Diebe sind gewarnt. Es fühlt sich nach Bürgerwehr an. Und als ich nach einigen Kilometern ans Ende des Privatwegs komme, ist dort eine Schranke und ein Mauthäuschen, das mit drei aufmerksamen Bürgern besetzt ist. Der Mann an der Schranke erklärt mir, dass die Benutzung für Radler nichts kostet und winkt mich durch. Wir kommen übers Wetter ins Gespräch, dass es etwas wärmer sein könnte, sagt er, und auf meine Frage, ob es solche Mautstraßen öfter gibt in England, antwortet er, nicht allzu oft. Die vielen Zäune und Verbotsschilder und Warnungen und Bildchen mit Videokameras drauf und Scherben auf Mauern und dornigen Hecken und Stacheldraht, Draht, Draht, Draht, versetzen mich in eine gewisse Panik: wo die Leute sooo arg aufpassen und sich hinter Mauern verschanzen, muss es ja jede Menge Gesindel geben. Argwöhnisch beäuge ich nun jeden, der mir begegnet und bin gewarnt, wenn an der nächsten Straßenbiegung eine Phalanx Omas auf mich zu rollt. Zu einprägsam war ein Monty Python-Slapstik, in dem Omas mit ihren Regenschirmen und hinter ihren Rollatoren, junge ahnungslose, kräftige Männer verdreschen. Unvergessen auch die Baby-Bande, die es mit roher Gewalt auf Typen wie zum Beispiel mich abgesehen hat.
Canterbury sei nicht sehr groß, man könne es mit dem Rad in 20 Minuten durchqueren, hat mir gestern einer der drei radelnden Jungs erzählt. Stimmt. Die Cycleroute Beschilderung funktioniert wunderbar. Bisher habe ich mich auf dem Fernradwerg nur in Städten ein bisschen verirrt, aber stets wieder auf die Route zurück gefunden. Seit Dover radele ich ohne Karte, nutze im Zweifelsfall die gespeicherten Tracks im iPhone, um zu sehen, wie weit ich von der Strecke verirrt bin. Frage die Menschen, wenn es sich nicht gerade um bösartige Omas oder Babys handelt. Die Fußgängerzone in Canterbury ist an diesem Samstag fast so stark bevölkert, wie das Zweibrücker Stadtfest an einem Samstag abend. I’m kidding a little bit. Aber im Ernst. Die Studentenstadt pulsiert. Menschen aller Nationen flanieren durch die lebhafte Fußgängerzone. Alle Läden offen. Über die Universität verlasse ich die Stadt nordwärts auf einer alten Salzstraße. Über teils unbefestigte Splitpisten geht es nach Whitstable, das grob gesagt an der Themse-Mündung liegt, auch wenn das geografisch vielleicht nicht ganz richtig ist. Im dortigen Homing Park frage ich, nach ca. 50 km unterwegs, wie es sich denn in England mit den Campingplätzen verhält. Oft passiere ich riesige Gelände, auf denen Monster von fest installierten Wohnwägen stehen und von denen ich eher glaube, dass sie Trutzburgen der Gutbürgerlichkeit sind, Home-Sweet-Home-Simulationen im Outback des englischen Alltags, nur nicht klassische Campingplätze, wie man sie vom Kontinent kennt, auf die man abends auffährt mit seinem Gespann, oder dem Radel und dem Zelt, aufbaut, übernachtet, morgens wieder weg. Hohe Hecken umgeben die hießigen Trutzburgen und vorm Homing Park befindet sich ein eisernes Tor. Die Dame an der Rezeption erklärt mir, dass ich natürlich hier zelten könne, wenn denn noch etwas frei wäre. Dank Ostern sind sie ausgebucht, doch halt, nur eine Nacht? Moment mal, klappert sie am Computer, ich habs gleich, hmmm, da wäre noch was, bis Morgen frei, aber sie müssten um 11 den Platz räumen. 27 Pfund kostet der Spaß. Wieder untersage ich meinem Hirn, in Euro umzurechnen. Wenn nicht Ostern wäre, erklärt die Dame, würde es nur 19 Pfund kosten. Nun weiß ich, wo der Hammer hängt. Mit meiner Kreditkarte, gebe ich mich als Mitglied der „Upper Class“ zu erkennen.
Mir wird klar, was es ist, was sich so anders anfühlt, als anderswo: ich weiß einfach nicht, wie die Menschen hier ticken. In Frankreich, Deutschland, Schweden und und und, habe ich im Laufe vieler Reisen herausgefunden, wie ich die Leute nehmen muss, den ganz normalen Kerl von der Straße, den rum-prollenden Asso, den Polizisten, den Neureichen, den Gutemenschen und den Menschenverächter. Hier weiß ich noch gar nichts über die Leute und dummerweise baumelt im Hinterstübchen noch ein Pressebericht über die im Feudalzeitalter „stehengebliebene“ englische Gesellschaft, den ich vor Kurzem gelesen habe.