Schnecken mal wieder. Ich dachte schon, es gibt sie nicht mehr. Die trockenste Tour aller Zeiten, postuliere ich halbwach im Zelt. Neben mir rauscht der Fluss Lucelle. Man möge mir verzeihen, dass ich den französichen Namen des Flusses benutze. Er gefällt mir einfach besser als das dahin geschnodderte „Lützel“ mit all seiner Härte inmitten. Aber vielleicht passt der Flussname an seinen verschiedenen Flusskilometern ja zur Landschaft? Die Gegend ist hart hier unten. Ringsum blecken kalkweiße Felsen. Auf vielen von ihnen weht die Schweizer Flagge, das weiße Kreuz auf rotem Grund im unheimlich warmen Wind, der sich heute womöglich nicht ganz so stark gegen mich wenden wird wie gestern in der Hochebene. Hoffentlich.
In Flussnähe ist es feucht genug, dass sich die Schnecken aus der Erde trauen. Dunkelrote Nacktschnecken. Kriechen übers frisch gemähte Gras, das schon zu Heu wurde, noch ein bisschen restfeucht. Vergessenes Heu, das mir ein weicher Zeltunterboden war. Ich muss aufpassen, dass ich beim Packen keine Schnecke ins Zelt einwickele. Schüttele den Tau vom Oberzelt, drehe und wende das Innenzelt, schüttele Krümel und Insekten aus. Die Hängematte spanne ich an diesem Morgen nicht auf. Meine Entscheidung steht: Ich werde nicht dem Lützel folgen bis zur Birs und schließlich zum Rhein, nein nein, ich tue das, was der fremde Mann gesagt hat, ja ja, was er wohl eher suggerierte: Herr Irgendlink, denk dran, je näher Basel, die Großstadt kommt, desto mehr Brumm. Und der Radweg führt oft auf oder direkt neben der Straße. Willst Du mit diesem letzten, hektischen Eindruck vom Verderb der durchs Jahrhundert driftenden Motorgesellschaft die Schweizrunde beenden? Oder wählst Du nicht besser, den dornigen (besser steinigen (noch besser unendlich steilen)) Weg, den die Juraroute vorgibt?
Ich fühle mich fit und so radele ich den Pfad am Fluss entlang. Es sind nur ein zwei Kilometer bis ins Dorf. Der fremde Mann am gestrigen Abend sagte doch, man kann da radeln. Nuja. Man kann da radeln, aber man muss sich zwischen Hecke und einem frisch keimenden Maisfeld hindurch zwängen. Die Schößlinge sind gerade mal fünf Zentimeter hoch, stehen in Reih und Glied. Irgendwo liegt ein Baum quer, so dass der geneigte Radler schließlich doch durchs Feld trampeln muss, um vorbei zu kommen. Ich folge den Spuren des fremden Mannes und seines Sohnes, um so wenig Schaden wie möglich anzurichten, überquere einen Steg, lande beim Sportplatz. Sieh an, auch hier hätte ich prima zelten können.
Die Möglichkeiten, die man hat im Leben und die einen wie eine Wolke dunkler Materie umgeben, tun sich in seltenen Fällen posthum auf. Das ist dann der Moment, der einen in Selbstvertrauen aufgehen lässt, der einen stärkt, der konserviert werden muss, bzw. in einer geheimen Schublade im Sekretär des inneren Zweiflers abgelegt werden muss, die man in Momenten, in denen man – ja, bleiben wir beim Zeltlagerplatzsuch-Bild – dann aufzieht, wenn man irgendwo in der Dämmerung steht. Nahe einer großen Stadt womöglich und partout keinen geeigneten Zeltplatz zu finden scheint. Es ist verdammt schwer, bei Dunkelheit einen Zeltplatz zu finden, der taugt. Dennoch sind sie da. Immer. Es gibt viele und überall. Sie verstecken sich in der dunklen Materie, die im Moment eben nicht zulässt, dass man die paar Quadratmeter für die Nacht an gemütlicher Stelle findet, die man braucht.
Aber was rede ich. Ich hatte doch den besten Platz der Welt. Im Dorf angekommen, radele ich zum kleinen Volg-Laden, vergleichbar etwa mit, ja was? Unvergleichbar. Man kann dort jedenfalls alles, was das Reisendenherz begehrt, kaufen. Ich kaufe Käse, ein Brot, Milch, Saft, einen fertigen Hörnlisalat, dann ist mein Geld alle. Nur noch vier Franken nochwas. Und begebe mich zum Abzweig der Juraroute. Dort stehen die für die Gegend üblichen Hinweisschilder für RadlerInnen, dass die Strecke soundsoviel Meter auf soundsoviele Kilometer steigt. Ich meine, es waren sechs Prozent angezeigt, vielleicht auch neun. Egal, hau rein. Nennt mich „Erster-Gang-Irgend“, oder „Irgend der Erstgänger“ (in Anlehnung an das obskure Wort Wiedergänger?).
Eine gute Stunde Arbeit und ich bin oben. Zwischendurch messe ich meine Höhenmeter pro Sekunde in Erinnerung auf meine Radlerbegegnung mit Christian, dem Mikroelektronikingenieur, komme auf zehn bis zwölf Zentimeter pro Sekunde. Aber meine Messung ist nicht präzise. Zwanzig sind es jedenfalls nicht. Muss schmunzeln ob der Zahl zwanzig, die ja auch beim männlichen Geschlecht die Messlatte allen Seins ist, schmunzele mich den Berg hinauf und lande auf der großen Wiese, von der aus man mutmaßlich die Alpen sehen kann. Da sind keine Alpen. Da ist nur Dunst, Sonne, verderbter Sommer, leidendes Gras, Kühe, die im Schatten von hohen Bäumen grasen, Elektrozaun, Stacheldraht gar, aber auch viel Offenes. Es hätte für mich am gestrigen Abend genug Wildzeltmöglichkeiten gegeben, selbst auf der kleinen, sich windenden Bergstraße schon. Eine Stunde Kurbeln und die dunkle Materie des Wildzeltreisenden wird plötzlich sichtbar. Sie offenbart einen prächtigen, gemütlichen Wohlfühlplatz nach dem anderen. Irgendwo gibt es sogar einen Schuppen, etwas abseits der Straße, in dem sich ein Selbstbedienungsladen befindet, der Produkte eines nahe gelegenen Hofs bereit hält. Fleisch, Käse, kühle Getränke in einer Styroporbox. Ich wäre nicht verhungert. Zahlen kann man mit Bargeld oder Twint, ein Handybezahlsystem, das in der Schweiz sehr populär ist. Auf treu und Glauben.
Ich ruhe bei dem Picknickplatz neben der Hofladenscheune. Zwei Feuerstellen gibt es, Bänke, ein Tisch, viel Schatten, schreibe den Blogeintrag vom Vortag, habe viel Ruhe und Zeit. Es mag gerade mal zehn Uhr sein, ich bin fast oben. Basel noch etwa zwanzig Kilometer entfernt.
Die Strecke hat sich tatsächlich gelohnt. Die kleine Straße gehört mir alleine. Weiter gehts durch Felder und Wiesen vorbei an Kühen. Noch ein Alpenblick ohne Alpen, dann sehe ich plötzlich die andere Seite. Nach Norden zeichnet sich fern ein Gebirge ab mit runden, ballonartigen Bergrücken. Die Vogesen? Der Grand Ballon? Da stand ich vor zwei Wochen und schaute in meine Zukunft. Hierher. Nun gehts weiter. Mariastein. Ein wuchtiges Klosterstädtchen. Baustelle. Schlechte Umleitungsausschilderung. Ich mogele mich hinterm Briefzusteller durch die Bauarbeiter. Wie andere Radlerinnen und Radler auch. Nächste Kuppe. Nächster Blick in die Tiefe. Basel da unten. Industrie und hohe Häuser, zum Greifen nahe und auf einem Hügel gleich vor mir eine riesige Ruine. Sie heißt Landskron. Wie die Ruine Landskron nahe Oppenheim am Rhein. In dem Städtchen wohnte ich einmal eine Weile.
Wenn Du auf der Kuppe hinter Mariastein mit Blick zur Landskron angelangt bist, denkst Du unweigerlich, ach Basel, gleich bin ich da. Weit gefehlt. Der Radweg macht noch ein paar Schlenker, Basels Agglomeration verschwindet noch einmal hinter einem Bergrücken. Als würden Kulissenschieber in einem überdimensionierten Theater Szene um Szene neue grünwaldige Bergrücken heranschaffen. Plötzlich in Frankreich, Sundgau, Bahnlinie, der Radweg bleibt gnädig flach. Zwei Fußgänger irren suchend umher. Sie haben die Hülle eines Fernglases verloren. Der Wind hat sie womöglich verweht. Ich verspreche, die Augen offen zu halten und sie auf einen Pfosten zu hängen, falls ich sie finde. In der Tat wurde die Hülle gefunden. Von einem Mann mit Elektromobil. Er kehrte extra noch einmal um, um es den beiden Fußgängern zu holen.
Natürlich verirre ich mich. Natürlich gabs noch mal eine kleine Baustelle auf dem Radweg irgendwo in oder nahe Oberwil. Die letzten fünf oder mehr Kilometer führen mehr oder wenig durch die Agglomeration, durch Wohngebiete, am Ende schnurgerade auf einer Fahrradstraße bis zu einem Park namens Totentanz. Der ist unweit des Rheinufers.
Am Totentanz hatte ich mich mit M. verabredet. Ein Plausch am Nachmittag und vielleicht würde sie sogar ein paar Kilometer mitradeln. Ihre Bude ist nur wenige hundert Meter vom Radweg entfernt in der Altstadt.
In einem Park lümmeln wir eine Weile auf der Wiese, quatschen, radeln schließlich weiter am Rheinufer bis zum Hünigenkanal, den ich von meinen Mit-dem-Rad-zur-Liebsten-Touren nur zu gut kenne. M. kennt die Gegend in- und auswendig. Komm mit, sagt sie, ist aber nicht unbedingt schön zu radeln, ich möcht dir was zeigen. Zunächst folgen wir der Kanalroute ein paar Kilometer, verlassen das kleine Hunigue, kommen in die Petite Camargue, ein Idyll aus Schilf, Froschgequake, Libellen und anderen Insekten. Durchzogen vom Kanal. Biegen links ab und stehen nach ein paar Minuten in einem turbulenten, hektischen, lauten typisch französischen Gewerbegebiet. Hier gibts die großen Supermärkte, Baumarkt, Fastfood, Parkplätze, Kreisverkehre. Ganz verloren per Radel steuert M. uns auf einen kahlen Bau zu, eine riesige Boulangerie und Café. Lädt mich ein auf Törtchen und Kaffee. Wir schleppen unser Tablett hinauf in den ersten Stock und raus auf die Terrasse, von wo man einen wunderbaren Blick hat übers Getümmel. Tja, M. hat meinen Geschmack für Skurriles gut getroffen. Dunkle Materie mal wieder. Da radelte ich in den letzten Jahren so oft an diesem „Kleinod“ vorbei, ahnungslos, nur wenige hundert Meter vom wirklichen Naturidyll entfernt …
(Verfasst am 2. Juli 2023)