Es ist verrückt, dass das Wetter unter uns Radreisenden solch ein elementares Thema ist, obwohl wir es doch nicht im geringsten beeinflussen können. Die Wettervorhersage ist eine meiner Lieblingsapps. Ich benutze grundätzlich diejenige, die im Telefon eingebaut ist und lade mir die Orte darauf, die ich in Kürze passieren werde. So kann ich stundenweise sehen, ob es regnen wird oder nicht. Denke ich zumindest. Die Wahrheit schaut natürlich viel komplizierter aus. Meine Standard-Wetterapp liefert mir quasi Wetter von der Stange. Nichts besonderes, stinknormale Prognosen, die meist nicht eintreffen. Dennoch ist mir mein Wetter lieb und teuer. Am vorgestrigen Abend sitze ich in der Küche der Ulmer Paddler und schaue Karte und Wetter und sehe, es wird regnen ab frühmorgens bis spätnachmittags. Überall. In Ulm, um Ulm und um Ulm herum. Ich brauche also gar nicht erst aufstehen und ich werde wohl einen Ulm-Spaziergang machen. Und erst nachmittags den Iller-Radweg aufwärts radeln, dachte ich mir.
Doch dann: nach einem nächtlichen Schutt aufs Zelt herrscht um acht Uhr früh Stille. Kein Plätschern. Zelt auf, rausgucken. Trüber Himmel. Die Spitze des Münsters ragt in den Dunst. Wetterapp auf. Tatsächlich. Regen ist abgesagt.
Ich habe nun zwei Wettermöglichkeiten. Die von gestern Nacht und die aktuelle Version. Woran will ich glauben?
Erst einmal einen kleinen Stadtspaziergang machen. Die Keramikerin aus Neustadt an der Eich, die mit Wohnmobil bei den Paddlern im Hof übernachtete, hatte mir vom Fischerviertel erzählt. Viel Fachwerk. Das ganz alte Ulm. Und vom Schiefen Hotel. Das schiefste Haus der Stadt steht sogar im Buch der Rekorde. Die Stadtmauer, habe ich tags zuvor gesehen, ist auch begehbar und scheint spannend. Und natürlich das Münster. Der 191 Meter hohe Turm.
In der Tat gibt es mehrere schiefe Häuser an dem Flüsschen Blau, der in Ulm in die Donau mündet. So als hätte der unglückliche Architekt aus Asterix und Kleopatra sie gebaut. Es gibt ein schmales Hotel, bei dem vermutlich keine Doppelbetten zwischen die Wände passen würden und eben das schiefe aus dem 15. Jahrhundert.
Die Pforte zum Turm des Münsters öffnet um zehn Uhr, so habe ich noch eine Weile Zeit, das Stadttreiben zu beobachten. Hundegassigänger und torkelnde Nachtschwärmer machen Schichtwechsel und in der Kirche findet ein Gottesdienst statt. Vor allen Pforten sitzen Bettler. Ab und zu kommen mir Menschen mit Brötchen entgegen und ich stelle mir ihre Spur als mathematischen Vektor vor und wenn ich die Vektoren kombiniere, kann ich berechnen, wo die Bäckereien sind. Fast wie Wetterberechnen. Vielleicht ein bisschen exakter.
Immer noch kein Regen. Ich steige auf zum Turm über schmale Wendeltreppen. Zähle anfangs die Stufen. In den dunklen Steigen mit den winzigen Gucklöchern gibt es nicht viel zu tun. Verhaspele mich. Immer wieder unterbrechen Plattformen den Aufstieg, wechselt die Drehrichtung der Treppe. Auf halber Höhe befindet sich eine Art Galerie mitten unterm Turm, in der Bilder von anderen Gotteshäusern mit Türmen weltweit zu sehen sind. Für fünf Euro Eintritt kriegt man also dreißig Kirchtürme weltweit. Ein Schnäppchen. Am Münzprägeautomat, der drei Motive bereit hält und am Ende der Galerie steht, präge ich mir das Ulmer Münster. Dann weiter aufwärts in luftige Höhen. Die letzten über hundert Stufen steigt man mitten unter der Turmspitze, die ein von Streben durchwirktes Etwas ist. Insgesamt seien es über 700 Stufen, sagt mir eine Frühsportlerin, die den Turm aus Fitnesszwecken besteigt. Manchmal kämen einem auf diesem letzten Stück, auf dem sich sowohl Auf-, als auch Abstieg befinden auch Leute mit Rucksäcken entgegen. Dann wirds eng. Weiter unten führen Auf- und Abstieg auf getrennten Wendeltreppen.
Nun bin ich mitten im Wetter. Sei dein eigener Kachelmann. Ich sehe: Dunst. Es könnte Regen geben, prognostiziere ich. Blick Richtung Iller. Dort scheint das Grau ein bisschen heller. Hoffnung.
Die Wetterprognosenindustrie ist ein Riesengeschäft. Es geht um jede Menge Geld, wenn man einen Wetterdienst betreibt, so zumindest verstehe ich die sporadischen Tweets, die der Kachelmanndienst ab und zu postet, und in denen er als eine Art Abtrünniger unter den Wetterzauberern ein paar Einblicke gibt in die Machenschaften. Wetter wird aus Daten von Wetterstationen berechnet und dann anhand von Algorithmen verschiedenster Natur als eine Prognose dargestellt. Zwei Porgnosen, zwei verschiedene Wetter. Da die Daten von den Stationen Geld kosten, kauft natürlich niemand alle Daten, die zur Verfügung stehen. Stattdessen werden Regionen, in denen man sich den Datenkauf spart einfach interpoliert. Wenn man ganz sparsam ist, kauft man sich zum Beispiel New York und Berlin und zieht dann eine gerade Linie zwischen der Hitzewelle in New York zum Unwetter in Berlin und voilà gibt man überall dazwischen ein angepasstes Symbol aus. Das Beispiel ist natürlich überzogen.
Vom Ulmer Münster melde ich: Regen vielleicht und eine Temperatur zwischen zehn und zwanzig Grad. Ich bin der Wetterbaron des Ulmer Münsters.
Torkelnd vom Drehwurm der Wendeltreppen komme ich unten wieder auf den Markt und frage mich, ob die vermeintlichen Nachtschwärmer, die ich zuvor gesehen habe, nicht vielleicht doch nur oben auf dem Turm waren.
Gegen Mittag schwinge ich mich auf den Iller-Radweg. Meist auf dem Damm am Fluss geht es auf Kieswegen durch Wald flussaufwärts. Es könnte eine langweilige Angelegenheit werden, so wie am Tag zuvor an der Donau. Nur, dass ich meist direkt am Fluss bin und der bietet Abwechslung in Form von zig Wehren, über die die Wassermassen des vielleicht fünfzig Meter breiten Kanals hinabstürzen. Alle paarhundert Meter solch ein Wehr und daneben auch eine Parkbank, um es zu betrachten. Die Iller fließt in Terrassen. Man hat viel Zeit zum Nachdenken über sich, die Tour, die Umgebung, den ganzen Rest. Ist der eigene Lebensstrom nicht auch so eine Art Terrassenfluss? Von Mal zu Mal schwingt man sich eine Stufe höher, erlangt mehr Weisheit, gewinnt Erkenntnisse. Der Vergleich ist ausbaufähig, aber die Kälte von etwa zehn bis zwanzig Grad setzt mir zu und ich mische mich mit der Tristesse des Himmels und sehne mich nach mehr Abwechslung. Aber das ist auch kein Problem. Man muss den Flussweg nur verlassen und findet sich auf Bypass-Radwegen auf ruhigen Straßen wieder auf dem Weg durch die Dörfer und Städte. In Illertissen entere ich eine riesige Backhaus-Halle, ein moderner verglaster Bau mit sechs oder zehn Meter hohem Gastraum. Voller Sonntagskaffeeschlürfvolk. An einem einsamen Tisch sitzt ein Cowboy, ein Typ mit echtem Cowboyhut und Stiefeln, zusammengesunken, schlafend. Vor ihm auf dem Tisch steht ein Bier. Ich gönne mir ein Stück Himbeertorte und Kaffee und setze mich an den Tisch nebenan; und schlafe prompt auch ein. Was bin ich elend müde und das Gemurmel des Kaffeevolks hat so eine beruhigende, beinahe hypnotische Wirkung.
Erst als jemand in der offenen Schiebetür Scheiße ruft, hinausgeht, sich auf sein klappriges Rad setzt und in den Regen radelt, werde ich wieder wach. Regen also. Dann doch. Kachelmann und ich und die Wetterindustrie hatten also recht. Ein guter Fahrregen. Die Autoscheibenwischer stehen auf langsamem Intervall. Regenjacke ist zwar angezeigt, aber nicht zwingend nötig.
Nahe Memmingen begegne ich einem Mann, dessen weißer Pudel Flocke heißt, und er verstrickt mich in ein höchst interessantes Gespräch zur Landesgrenze. Wir laufen auf der Baden-Württemberger Seite ein Stück nebeneinander. Denke ich. Aber nein nein, sagt er, die Grenze verläuft hier völlig chaotisch, wir sind in Bayern und er macht eine Zick-Zack-Handbewegung. Drüben ist auch Baden-Württemberg und hüben ist auch Bayern. Die Grenze verläuft da, wo der Fluss früher war.
Ein Pandominium der besonderen Art, von Menschen entpandominisiert, sozusagen, aber das ist nur meine saloppe Einschätzung.
Ab Buxheim, also in der Memminger Gegend, nimmt das Illertal endlich eine liebliche Form an. Bei Aitrach quartiere ich mich auf dem Campingplatz ein. Einziger Gast auf der Zeltplatzwiese. Zum Essen gehts zum Steirer Brukwirt im nächsten Dorf. Ein kulinarischer Spießrutenlauf, denn jeden ersten Sonntag im Monat ist hier Musikantenstadel angesagt. Quetschkommode und Gesang, hie und da ein Blechbläser. Das Lied Aber dennoch hat sich Bolle wird angestimmt und zum Glück muss ich nicht im proppenvollen Hauptraum essen, sondern komme nebenan bei den Keglern unter. Ein kühles Bier und ein Gericht von der Steirer-Karte (es gibt auch eine schwäbische Karte und die Schnipo-Klassiker) und ein Blick aus dem Fenster in die Dämmerung: es könnte Regen geben.