Birkenfeld, Tag drei der Reise. Samstagfrüh. Am Ortsrand arbeitet ein Mann mit Axt und Kettensäge, was ist auf dem Gelände?, frage ich und weise über den Stacheldrahtzaun, an dem in regelmäßigen Abständen Schilder hängen, Militärisches Irgendwas, aber das Gelände scheint verlassen. Syrer? fragt der Mann zurück, zögert, fragt weiter: Nichts mehr? Okay, das Militär ist weg und zwischendurch war es eine Auffangstelle für Asylbewerber, rekapituliere ich. Im Hinterstübchen flimmert noch ein Funke Erinnerung, dass Zweibrücken und Birkenfeld zu Hochzeiten der Flucht große Auffanglager waren. Nun herrscht wieder Stille in dem kilometerlangen Areal. In Birkenfeld ist samstagfrühwenig los. Nur in der Bäckerei an der Hauptdurchgangsstraße hat sich eine Menschenmenge gebildet. Frischbrötchengieriges Volk. Ein junger Papa mit zwei Kindern vor mir. Der kleinere der Buben fällt aus unerfindlichen Gründen hin und fängt an zu plärren, was der Vater beflissentlich ignoriert. Ist der Bub vielleicht gar nicht sein Sohn? Ich bin perplex. Er steckt das Wechselgeld ein und sagt zu dem vielleicht Dreijährigen: Komm jetzt, oder willst du alleine hier bleiben? Der Bub schreit. Der Vater geht zur Tür und lässt ihn zurück. Irgendwann rafft sich das Kind auf und rennt hinterher. Alle in der Bäckerei sind wie paralysiert.
Später, wieder auf dem Rad, mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht reagiert habe. Ich hätte das Kind aufheben müssen, es trösten, als Stellvertretender einfühlsamer Mensch. Warum kommt einem in Krisensituationen nie der richtige Gedanke, warum immer zu spät? Wer weiß, vielleicht ist das Erlebnis in der Bäckerei ein Schlüsselerlebnis für das Kind, das ihn ein Leben lang prägen wird? Vielleicht hat er diese Schlüsselerlebnisse aber auch täglich und sie liegen auf ihm wie Mist.
Jenseits von Birkenfeld führt der Radweg durch einen Mix aus Kuhweiden und Wald hinüber zum Traunbach, der einen schließlich in die Berge, zu seiner Quelle hin entführt. Die Gegend ist spannend. Es gibt ein Buddhistenkloster und viele große Anwesen, in denen womöglich viele faszinierende Menschen wohnen. Es folgt eine schier endlose Steigung auf geteertem Waldweg.
Plötzlich fast auf dem Erbeskopf. Ein Hinweisschild sagt, dass es nur 7,7 Kilometer sind bis zum Thron des Hunsrücks. Das GPS zeigt 726 Meter. Kalter eisiger Wind. Das verschwitzte T-Shirt fühlt sich beim Abwärtsradeln nach Thiergarten an wie ein kaltes Korsett.
Thiergarten hieß nicht immer so, erzählt mir ein Mann, der auf Morgenspaziergang ist. Er trägt Filzpantoffeln, stützt sich auf einen Stock und empfiehlt mir, zum Baumarkt zu fahren zum Mittagessen. Da gäbe es das halbe Hähnchen für 2,50 und überhaupt wäre es besser über den Baumarkt zu radeln, anstatt runter nach Hermeskeil. Günstigeres Esses, weniger Schwitzen weil nicht runter und wieder rauf müssen und die alte Bahntrasse mit dem Radweg sei in der Nähe. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Nicht nur wegen des Hähnchens, sondern auch wegen des Zauberworts Bahntrassenradweg. Sags noch einmal, Bahntrassenradweg. Das heißt Tunnel und Brücken und kein Straßenverkehr und Picknickbänke und Idyll. Hier oben in Thiergarten ist es recht garstig. Kahle Wiesen und Felder, umgarnt von Fichtewäldern. Dazu pfeift der Wind. Irgendwo auf einer Wiese steht ein alter Bitburger Bierlaster, umfunktioniert zum Hühnerstall. Thiergarten sei das höchste Dorf der alten Rheinprovinz, sagt der Mann mit den Filzpantoffeln. Bevor die Fürsten kamen und hier ihre Tiere weideten oder jagten, was genau, weiß er auch nicht, hieß der Ort Tranken. Tranken wie Trinken, nur mit A. Mit dem Kinn weist er nach unten ins Neubaugebiet. Dort gab es einst eine Quelle. Die Nikolausquelle. Die Leute im Dorf trieben Handel mit dem Wasser. Aber dann kamen die Jungen und wiesen ein Baugebiet aus und die Quelle, die man sich wie eine wässrige von Rinnsalen durchzogene Wiese vorstellen muss, wurde zugebaut und überall liegen Drainagen. Das Wasser fließt nun in die Prims. Futsch. Für immer. Und er wettert über die Verantwortlichen, da muss man doch zweimal blöd werden. Wie bitte, frage ich, haben Sie eben zwei mal blöd werden gesagt? Ja, zweimal blöd werden. Der Spruch gefällt mir. Auf dem Weg durch den Wald lasse ich mir die Worte im Hirn zergehen. Plötzlich eine Rakete, senkrecht in den Himmel ragend, bereit zum Start, so scheint es. Und Flugzeuge. Sogar eine Concorde steht auf dem Gelände praktisch mitten im Niemandsland. Ein Schild am Eingang erklärt, dass es sich um die Hermeskeiler Flugzeugausstellung handelt. Die Ausstellung öffnet aber erst am 1. April.
Weiter zum Baumarkt. Samstagliches Treiben. Zwei Fressbuden. Keine Grillhähnchen, aber die hätte ich mir wohl sowieso nicht angetan. Stattdessen gibt es eine Currywurst und Smaltalk mit einem Gästepaar am Stehtisch. Ein scharzer Kleinwagen fährt vorbei mit offenem Fenster und sol-chen Bässen. Die Anfangssequenz von Pink Floyds Wish You Were Here dröhnt aus den Lautsprechern. Das macht mich ganz melancholisch. Der Himmel trübt ein. Solllte Wikipedia recht behalten wollen und extra für mich nun Regen über Hermeskeil machen? Immerhin sei es einer der regenreichsten Orte Deutschlands.
Es regnet nicht. Ab Hermeskeil folgt die Rheinland-Pfalz-Radroute dem Ruwer-Hochwald-Radweg. Gut dreißig Kilometer bis zum Dörfchen Zerf. Dann geht es durch Felder, vorbei an Höfen und Viehweiden hinauf zur Wasserscheide, um schließlich kilometerweit steil abwärts ins Saartal zu führen. Weinberge. Hände tun weh vom Bremsen. Ich verpasse Saarburg, dessen Wasserfall ich mir so gerne angeschaut hätte. Als ich an der Saar stehe, folge ich dumm wie ein Schaf der Beschilderung nach Konz, statt den Schlenker nach Links durch Saarburg zu machen. Es ist bald dunkel. Ich bin müde und unaufmerksam. Nur noch knapp 15 Kilometer. Dort ist ein Campingplatz, der offen hat, und auf dem ich übernachten möchte. Drei Feuerwehrmänner, die für die Webseite Fotos von ihrem Feuerwehrauto machen, erklären mir den Weg: über die Saarbrücke (unter der wir gerade stehen) nach Konz, da, schau, da kannst du ihn schon sehen. Die machen auch Essen und es gibt Wohntonnen, die man mieten kann, ist ja noch recht kalt und als Essen empfehlen sie Hähnchenflügel mit Pommes, das sei eine Spezialität und typisch für diese Gegend. Wieder läuft mir das Wasser im Mund zusammen und im Geiste miete ich eine der Tonnen, dusche heiß und ewig. Die Männer erzählen mir auch von einem kuriosen 24 Stunden-Lauf, der als Wohltätigkeitslauf für ein Trierer Hospiz jährlich stattfindet. 198 Kilometer von Koblenz die Mosel hinauf bis hierher. Schon acht Läufer, die es tatsächlich geschafft haben, die gesamte Strecke in 24 Stunden zu laufen. Ein Kollege von ihnen sei einmal mit einem uralten Rad von Morbach im Hunsrück nach Koblenz geradelt und habe anschließend noch am Hospizlauf teilgenommen. Der Mann war siebzig.
Halboffenen Mundes ob so viel Leistungswillen verabschiede ich mich. Neunzig Kilometer in den Beinen.
Der Camping ist zu. Eine Telefonnummer am Eingang. Die Campingwartsfamilie erlaubt mir, dennoch mein Zelt aufzuschlagen und eine Flasche Wasser schenken sie mir auch. Ohnehin habe der Kaufland im Ort bis 22 Uhr auf und das Schwimmbad, falls ich mich waschen möchte, sei bis 21 Uhr auf. Egal. Ich bin glücklich. Nur laut ist es hier, umringt von Straßen.