Irgendwann zuletzt vor zwanzig Jahren

Der alte W., den ich nicht gut kannte, wohnte im letzten Haus rechts in der steilsten Straße des Dorfes, ganz hoch oben, so dass man es sich zwei Mal überlegte, ob man zum Spielen bei seinen Kindern vorbei schaute. Nur der Tennisplatz lag weiter oben, in einem alten Steinbruch. Auch wenn ich den alten W. seit über zwanzig Jahren nicht gesehen habe, bestürzte mich sein Tod. Auf dem Klo war er zusammengebrochen – zack, das Herz – seine Frau fand ihn morgens schon fast kalt. Am selben Tag, letzte Woche, starb auch H., den ich besser gekannt hatte, als den alten W. H. war noch kürzlich bei meinen Eltern zu Besuch nach einem langen Tag in der hiesigen Spezialklinik, den er wartend und bangend um sein Augenlicht in den altmodischen Fluren verbrachte. Ich hatte überlegt, mal rüber zu schauen und ihm und seiner Frau Hallo zu sagen, wie geht’s, was macht die neue Hornhaut, und ihm Mut zu machen, die schaffen das schon in der Klinik, die sind Spezialisten, aber der Abend war hektisch, ich hatte einen ach so wichtigen Termin. So kam es, dass ich H. an seinem zehntletzten Lebenstag nicht mehr getroffen hatte und erst per Telefon benachrichtigt wurde, dass der Tumor im Hirn, der ihn zusätzlich zu seinem lästigen Augenproblem zu weiteren Klinikbesuchen zwang, ihn zerfressen hatte. Das Kortison habe aus ihm einen Mann gemacht, den man kaum wieder erkannt habe, aufgeschwemmt, kaum fähig aufzustehen, zudem psychisch so am Ende, dass sein Gesicht kein Lächeln hatte. Da musste ich an den alten Sch. denken, den ich so gut wie nicht kannte, und der mir vor ein paar Jahren, nur wenige Wochen vor seinem Tod durch Hirntumor, sein altes Fotolabor geschenkt hatte, weil er sich frei machen wollte von jeglichem Besitz. Er verbrachte seinen letzten Tage im Bademantel, erinnerungsunfähig mit einer unvorstellbaren Kortisondosis und Morphium.
Der Winter 12/13 hat so viele gekostet, wie nie zuvor.
Eine Weile verbrachte ich letzte Woche damit, zu grübeln, wie schlimm das sein muss, zehn Tage vor dem Tod in einer Spezialklinik Lebenszeit auf den Fluren wartend zu verbringen und zu hoffen, dass man wieder sehen kann. Ich komme schließlich zu der Erkenntnis, dass der eigene Wille einem das Leben ganz schön schwer machen kann und dass man uns Menschen entweder bei der Eitelkeit packen kann, oder bei der Hoffnung, dass es sich zum Besseren wendet, dass am Ende alles gut wird. Ein Zehntel seines Restlebens verbrachte H. im Wartezimmer, bis Ärzte, Schwestern, Laborleute, ihren geheimen Tagesrhythmen gehrochend, ihn endlich durch den Klinikalltags-Loop schleusten. Ein Zehntel Restleben. Während der alte W., nichts ahnend, auf dem Klo, hochoben in der steilsten Straße des Dorfes, die unumstößliche Regel, Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal, zu widerlegen schien.
Die Kalkulation der eigenen kleinen Situation ergibt, dass ein Lebensjahr mittlerweile das Gewicht von einem Dreißigstel Restleben hat, also nun schon doppelt so viel wert ist, wie ein Jahr vor dreißig Jahren – so macht der eintrudelnde Lullifullifrühling kaum Spaß, obschon mich der Gedanke eine Nacht lang beschäftigt, dass irgendwann für jeden der Zeitpunkt ist, dass er einen anderen Menschen vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen haben wird und dass auch er selbst, aus vielen Perspektiven, zuletzt vor zwanzig Jahren jemandem begegnet sein wird – ich weiß, dieser letzte Satz ist holprig, und er macht auch vielleicht keinen Sinn, aber seine Lebenszeit damit zu verbringen, ihn zu denken, ist doch erhellender, als hoffend in einer Augenklinik zu warten.

Kuhchens Kuchen

Die Kuh im Stall
kaum meterhoch
schlicht nennen tut mans
Kuhchen.
Sonntags um die Kaffeezeit
wenns Stallloch endlich offen
tätschelst Kuhchens Mäulchen
zu Fressen gibt es Kuchen.

Sechs

„Nimm soviel Du willst“, sagt sie.
„Zwei. Falls ich mal Besuch kriege.“
„Du kannst auch drei nehmen, oder vier.“
(Pause)
„Willst Du sechs?“
„Zwei genügen. Wenn ich sechs will, komme ich zu Dir.“
„Dann kriegst Du vier.“

Endsumme Vierundvierzig-Nochwas

Das Telefon steht nicht mehr still. Wie Thaimassage trampeln die im Sommer gekündigten Anbieter – von was auch immer. Herr Irgendlink hatte im August in einer „Think like an animal – be like an animal“-Phase etliche Verträge gekündigt. Telefon, Internet, Versicherungen. Unnötiges Gelump. Nun besinnt sich der eine oder andere wohl seiner Kundendatei und drangsaliert. Es ist widerlich. Ein unausschlagbar günstiges Angebot jagt das nächste. Der Tiefpunkt konsumatorischer Abtrünnigkeit.
Freitags erlege ich ein Reh, Frontalzusammenstoß. Sofort tot. Nervige Behörden- und Versicherungstelefoniererei, Lauferei, Werkstattfahrerei. Blinker kaputt, Haare an der Stoßstange und dieses Bild im Kopf von dem noch warmen Tier im Straßengraben mit umgedrehtem Kopf. Mittwoch könnte „Untenst“ sein. Der absolute Tiefpunkt. Puls Hundertzwanzig, Blutdruck wie Drumochter-Summit bei vollem Gepäck hochradeln. Bei einfacher Bürotätigkeit und am Telefon immer wieder Nein kreischend. Schlechtwetter für mehrere Wochen in Aussicht. Das meine ich im übertragenen Sinn. Es gibt nur eins: wenn dein Körper bei stinknormaler Büroarbeit so tut, als sei er auf sportlichen Hochtouren, lass alles stehn und liegen, rufe ein letztes Nein in den Telefonhörer, beantworte sämtliche E-Mails mit Nein und setz dich aufs Radel. Ziemlich kühl. Runter in die Stadt. Das sind etwa 100 Höhenmeter, fünf Kilometer vom einsamen Gehöft entfernt wuseln dreißigtausend Seelen. Die Winterluft tut gut. Es riecht nach Schnee. Im Westen zeigt der Horizont einen rötlich-blassen Streifen. Beim Amt werfe ich einen Umschlag in den Nachtbriefkasten, radele zum größten Adventskranz der Welt, der ausgerechnet in unserer Stadt stehen soll. Nichts ist bewiesen und hinter vorgehaltener Hand berichten die Leute von anderen größten Adventskränzen, so dass es anmutet wie die Klassifizierung für verschiedene Altersgruppen beim Volkslauf: UNSER größter Adventskranz geht in der Klasse „Echte Tannenzweige mit Gaslampen“ ins Rennen und hält mit sagen wir mal 8,50 Metern den Rekord, während es woanders einen mit 7,50 Metern Durchmesser gibt, dafür mit Wachskerzen. In Wolfsburg, sagt jemand, habe man auf vier Hochhäusern Lichter aufgestellt, die einen Adventskranz aus Beton vorgaukeln, zig Meter hoch und mehrere hundert Meter voneinander entfernt.
Die Stadt und ihr pulsierendes Weihnachtswesen dringt nur schemenhaft durch den Panzer aus Sorgen. Das Radeln tut gut. Rüber zum Discounter, Brot, Käse, Butter, das Nötigste. Vor der Tür torkelt ein Besoffener, dem die verpisste Hose in die Knie hängt, Rosé vom Billigsten in der Hand. Der Mann tut mir so leid, dass ich ihm ein paar Euro in die Hand drücken möchte für noch mehr Wein. Der torkelnde Beweis für den finalen Tag des Maya-Kalenders.
Im Markt fließen die zukünftigen Habseligkeiten einer nicht sehr gepflegten Frau durch die Scannerkasse. Plötzlich sagt sie „Stopp! Wieviel?“ „Zwoundvierzig Siebenunddreißig“ liest die Kassiererin. „Lassen sie den Adventskalender mal weg“. Eine Frauenzeitschrift und weitere Kleinigkeiten. „Und jetzt?“ „Einundvierzig Achtundneunzig“. Erst allmählich rafft sie, dass der Storno des Kalenders den Preis wieder reduziert hat. Mit Kalender kommt sie auf Vierundvierzig-Nochwas. Kassiert massig Treuepunkte, packt ein, geht zur Tür. Der Typ hintendran ist schnell fertig. Ob er Treuepunkte will? Nö. „Die hätten sie doch der Frau schenken können“, mische ich mich ein. Aber die Kassenklappe ist schon wieder zu. Zue Kasse, keine Punkte. Dann ich. Ein Treuepunkt und die vom Vormann nehme ich auch noch mit. Drücke der Vierundvierzig Nochwas die Punkte im fahlen Licht der Parkplatzlaterne in die Hand. Wie ein Kofferraumgeschäft, eine Szene wie in French Connection. Die Verfolgungsjagd ist unhollywoodesk. Der torkelnde Rosétrinker ist verschwunden.
Der Tag war ziemlich beschissen wegen der Behördengänge und der Telefonbelästigungen und dem Reh, aber hey, ich hab ’nen Rucksack voller Essen und ein grundrenoviertes Fahrrad, einen hundert Meter hohen Berg vor mir. Wie Watte dämpfen die abgeräumten Felder der Saarpfalz die Trostlosigkeit der Vorweihnacht.