Prozesswesen

Runter in die Stadt. Die Einsamkeit des Gehöfts, auf dem ich lebe, endet nur hundert Meter entfernt auf der Landstraße, wo ich mich für gewöhnlich in den fließenden Verkehr einfädele. Ein Auto mit Sankt Wendeler Kennzeichen schleicht mit Sechzig vor mir her, trotz keinem Gegenverkehr überhole ich nicht, da vor dem Auto ein Wohnmobil fährt und vor dem Wohnmobil ein Tieflader mit Bagger. Bald schon sind wir an der Stadtgrenze, wo ohnehin nur noch Fünfzig gefahren werden darf. Was sind wir: Prozesswesen. In uns läuft ein Programm und wir alle sind Teil eines größeren Programms, das in Boole’schen wenn-dann-Schleifen ewig mahlt. Unds und Oders verknüpft mit Nichtunds und Nichtoders, garniert mit einem Ansonsten hie und da. Wie sähe die Welt von Oben betrachtet aus? Ein Gewusel an Fahrzeugen, die sich an Kreuzungen Vorfahrt gewähren, die unvermittelt, scheinbar Höherem gehorchend, abbiegen. An einer Baustellenampel fährt der Sankt Wendeler bei Längst-schon-rot. Ich stoppe und besinne mich während der Wartezeit auf die Gegenwart. Wenn wir Prozesswesen sind und so eine Art Programm abläuft, in jedem von uns, dann ist doch wohl der gegenwärtige Status des Programms am Wichtigsten. In meinem Fall: stehe vor einer Baustellenampel und warte auf Grün. Es ist ungemein wichtig, auf Grün zu warten, da nämlich in den Prozesswesen auf der anderen Seite der Baustelle auch ein Programm läuft und wir uns somit als Unterprozesse in einem größeren Prozess befinden. Auf der anderen Seite der Baustelle haben sie  Grün. Wenn du dich widersetzst und bei Rot fährst, so riskierst du einen Konflikt. Ich habe es eilig, habe einen Termin. Mein Prozess droht, aus zeitlichen Gründen zu kollabieren, was auf den Gesamtprozess nicht wirkungslos bleibt. Mittels Zeitschleifen hängt das alles zusammen. An der nächsten Ampel steht der Sankt Wendeler wieder vor mir. Mann, Mann, Mann, ist ganz schön was los in der Stadt. In gewissem Rahmen laufen wir Prozesswesen auch unter fehlerhaften Bedingungen reibungslos. Ich schaffe den Termin, ein Arztbesuch und habe sogar noch ein bisschen Zeit, aus dem Wartezimmer zu starren. Durch die zwanzig zentimeter breiten Lamellen der Jalousie. Ein in Streifen zerlegtes Bild, das eine Gießkanne vor einem dunklen Fenster im zweiten Stock des Nachbargebäudes zeigt. Die Herbstsonne wirft einen schrägen Schatten auf die Kanne, der sich exakt mit dem schrägen Ausguss der Kanne deckt und während ich gerade sinniere, ob sich in der Kanne Wasser befindet, nichts, bzw. Luft, nimmt mein Ohr ein seltsames Klacken in den Hinterzimmern der Praxis wahr. Vielleicht ist in der Gießkanne Blut? Das Klacken klingt wie eine Spielzeugdampfmaschine und ich stelle mir den Doc vor, wie er während seiner kurzen Verschnaufpausen zur Entspannung einen Spieleraum eingerichtet hat, in dem er mit ein paar Brocken Esbit die Dampfmaschine erhitzt und Miniatur-Maschinchen betreibt. Das wäre doch glatt ein Bild für den bauesoterischen Krimi, den ich einmal schreiben werde – wenn der irgendlink’sche Lebensprozess an die Stelle gelangt, an der es per Boole’scher Verknüpfung vorgesehen ist. Überhaupt, das Nichts, wende ich mich wieder der Gießkanne voller Blut zu, vor dem Fenster auf der anderen Straßenseite. Wenn eine Gießkanne kein Wasser enthält, ist sie leer, glauben die meisten Leute, aber das stimmt doch nicht. Luft ist immer drin. Und wo Luft ist, ist nicht Leere und nicht nichts. Wie hirnrissig kann ein Gedankenprozess ablaufen, wenn man in einem Wartezimmer sitzt kurz vor der Grippewelle und sich mit irgendwas die Zeit vertreiben muss (Zeitunglesen wäre im Fall geradezu selbstmörderisch, weil da ja die Grippeatome dran kleben). Am besten man fasst überhaupt nichts an und hält sich beim Atmen ein Taschentuch vor den Mund. Schon Blickkontakt könnte gefährlich werden. Während ich dergestalt eine Paranoia entwickele und mein Hirn über die Dampfmaschine und die Gießkanne voller Blut nachdenkt, kommt mir in den Sinn, dass in der Welt vielleicht das Nichts und das Etwas so perfekt gemischt sind, dass man es nicht mitkriegt. Dass diejenigen, die auf der Etwas-Seite des Lebens stehen, wo sie auch hinblicken, Materie erkennen, aber nicht wahrnehmen, dass zwischen den Molekülen und den Atomkernen und den Elektronen Lücken klaffen, in denen sich nichts befindet. Analog gibt es womöglich die Nichtswelt, in der ein Nichtsmensch gerade bei seinem Nichtsarzt aus dem Nichtwartezimmer auf eine leere Nichtgießkanne starrt und sich nicht vorstellen kann, dass sich darin etwas befindet.

Endlich kommt der Doc. Ich bin heilfroh, dass er kein Psychiarter ist. Er erklärt mir das Dilemma mit den vielen Viren in der Praxis, und dass er ein schwers Los habe, wegen der Viren. Ich glaube, er erwähnte den Begriff Immunsupression. Kurze Zeit später treibt mich der laufende Prozess zur größten Buchhandlung der Stadt. Ich durchforste das Regal mit den Mängelexemplaren und dem Ramsch und den billigen Lebensratgebern, welches mitten in der Fußgängerzone prangt. Ich schlage einen Bildband Woodstock auf. Rabenschwarze Füße ragen aus einem notdürftig zusammen geschusterten Zelt. Sechzigerjahre Männerfüße, Frauenfüße. Man sieht Hügel voller Menschen und unscharfe Fotos von den Musikern. Flowerpower. Zwei Bücher weiter liegt ein Bildband über das römische Weltreich. Ob es der Prozess so will, oder ob es purer Zufall ist: ein Mann in Oberlehrerkleidung tritt neben mich, greift nach dem Weltreichbuch und murmelt: Ich kaufe mir das römische Weltreich. Jetzt bloß nix sagen, denke ich mir. Wer weiß, wo das endet. Ruckzuck haste den Kerl an der Backe und er doziert über die römische Kultur und du wirst ihn nicht mehr los. Der sucht doch nur Anschluss. Eine Orgie kollektiver Prozessprogrammierung ist das heut‘ aber auch. Ich lasse Woodstock liegen.

Auf dem Heimweg sieht der interne Prozess vor, einen Hook anzulegen, auf dem man im laufenden Denkprozess irgendwann zurück kommen könnte. Schließlich ist mir in den letzten Stunden eine wunderbare Geschichte poassiert, die es aufzuschreiben gilt. Ich lege einen Anker in der nimmer enden wollenden Schleife des eigenen Denkens, der Tage jenseits der Gegenwart es ermöglicht, aus all dem Erlebten vor allem aus der Gießkanne und dem schrägen Schatten, einen Blogartikel zu zimmern. Eigenartig ist das schon, dass ich jetzt, Tage vorgerückt in eine andere Gegenwart, über eine längst vergangene Gegenwart schreibe. Zugegebener Maßen müsste sich im Vergleich zur Unendlichkeit sowieso alles von Menschen Gedachte um Gegenwart handeln. Man könnte sagen, die Zeitspanne zwischen Rom, Woodstock und jetzt geht gegen Null.

(23. Oktober 2012)

rednäbmranerhuztasre

Im Februar und März 2012 ist der Markt für Ersatzuhrenarmbänder gegenüber dem Vorjahr um fast 50 % eingebrochen. Was den Ersatzuhrenarmbandsunternehmerverbandsvorsitzenden vor einem Rätsel stehen lässt, ist für die Wissenschaftler der sprachvergleichenden Leseforschung alles andere als verwunderlich.

Nur schnell das billige Ding kaufen war mein Ansinnen. Der große Werbeagent hatte ganze Arbeit geleistet. In dem Hochglanzprospekt, das freihaus im Briefkasten lag, hatte er ein unablehnbares Angebot geschnürt: Zwei zum Preis von einem! Nur Idioten sagen da nein. Weshalb ich schon pervers früh bei Wichtel Aldi in der Abteilung für temporär verfügbare Billigstprodukte stöbere, den Wagen volllade, zur Kasse, wartend vor der psychologisch perfekt ausgetüftelten Bezahlungseinflugschneiße stehe. Die Uhr tickt, nicht nur für mich, sondern auch für den Discounter. Auf den letzten Metern vor der Kasse, in der heißen Region um das Auflegeband, tobt der Dritte Weltkrieg des Konsums. Batterien, CDs, Zigaretten im Hochsicherheitstrakt. Süßigkeiten auf Kinderaugenhöhe, Halsbonbons, asiatische Saucen, italienisches Gebäck und … ähhm? … und … hä? Was steht da auf der Packung? „ersatzuhrenarmbänder“. Alles klein, alles zusammen geschrieben. Das Produkt undefinierbar. Zwei Stück in einer Packung. Sowas hab ich noch nie gesehen. Es gibt diese „ersatzuh renarm bänder“ in verschienden Farben, mit verschiedenen Mustern. Für jeden Geschmack. Erst nachdem die Kundin vor mir bezahlt hat, dekodiere ich, dass es sich um Besfestigungsmethoden handelt für ein antikes Zeitmessinstrument, wie es die Menschen in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, lange vor der Erfindung des Smartphones trugen. Sie benutzten es sowohl zum Zeit messen, als auch als Statussymbol.

Schon werden meine Sachen gescannt. Es ist zu spät für den Kauf.

In einem Sanatorium im Schwarzwald ist der Ersatzuhrenarmbandsunternehmerverbandsvorsitzende derzeit in intensiver psychiartrischer Betreuung. Man sagt, er fasele unverständliches Zeug, wirkeapathisch, raufesichdiehaare und neigedazuganzesätzezusammenzuschreibenindentherapiesitzungenindenenmanversuchtmitttelsschreibth erapieandaszarteinnerederpatientinnenundpatienten heranzukommen.

Und schreibt alles klein wegen des Wortüberlegenheitseffekts.

Modell zur Erklärung der Entstehung von Kräften anhand zweier Guesthäuser in Sunderland

Bis 12 Uhr Ortszeit trödele ich im B&B Areldee herum. Erster Stock, Zwischengeschoss, Hinterhof. Der Ausblick zur See ist mir nicht wichtig. Die Hinterhöfe, auf die ich blicke, haben etwas Trostloses. Wind zaust an den Bäumen, leichter Regen. Der prognostizierte Sturm kommt gegen Nachmittag. Ob ich das Zimmer überhaupt verlassen soll? Schreiben, telefonieren, schlafen. Mit dem Wasserkocher, der in jedem B&B und in jedem Hotelzimmer in England zu stehen scheint, koche ich Kaffee. Es steht immer ein Teller voller Teebeutel, Instantkaffee, bisschen Gebäck bereit.

Wie hart muss es einen Engländer treffen, wenn er bei uns Kontinentern in einem Hotel nur ein Päckchen Gummibärchen auf dem Kopfkissen findet? Allein mit der Minibar.

Als mir die Decke auf den Kopf fällt, ziehe ich die Regenkleider an, raus in den Sturm. Roker Lighthouse, der Leuchtturm auf dem zuvor geposteten Bild, ist ganz nah. Meterhoch schießen die Wellen über die Kaimauer. Ein Tor versperrt dem lebensmüden Touristen den Weg auf die Mole. Ich laufe Richtung Sunderland, direkt am Meer. Den N1-Radweg, den ich gestern bei der B&B-Suche verloren hatte, finde ich zehn Meter unterhalb meiner Straße wieder. Nicht auszudenken, wenn ich mich nicht verirrt hätte. Ich wäre unter dem B&B-Strich hindurch geradelt, raus nach Whitburn, immer am Meer entlang.

Wie schicksalhaft der gestrige Tag war, wird mir nun klar. Da oben müsste das andere Guesthouse liegen, in dem ich als erstes eingecheckt hatte. Nennen wir es die “Villa”. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeiradelte. Ein korpulenter Kerl kommt gerade zur Tür raus und so frage ich nach Zimmer, in der Annahme, dass ein Haus dieser Lage doch ausgebucht ist. Immerhin hört man das Meer rauschen und aus dem Fenster im ersten Stock hat man bestimmt prima Aussicht. Der Kerl ruft den Host, und bittet mich herein. Ich soll das Fahrrad im Auge behalten, in dieser Gegend wisse man nie. Der Host torkelt aus dem Essraum, sturzvoll, Alkoholfahne, sehr freundlicher Kerl. Er könne mir ein Zimmer geben “En Suite”, also Dusche und Klo im Zimmer, 25 Pfund. Ich bin baff. Schnäppchen, Schnäppchen, Schnäppchen, greifense zu junger Mann, greifen se zu! Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Das Treppenhaus riecht nach Säure, womöglich nach Erbrochenem und ein verschwitzter Kerl, der offenbar auch hier wohnt, kommt die Treppe herunter, um den Host etwas zu fragen. “Bin ich alleine in dem Zimmer?” – “Klar, sieh es Dir doch an.” Das Fahrrad holen wir zur Sicherheit in den Flur. Macht nix mit dem Schlamm und dem Schmutz … Im ersten Stock zeigt mir der Host das Zimmer, in dem drei Betten stehen. Es ist weder sauber, noch sehr schmutzig, ähnelt in gewisser Weise einer Herberge auf dem Camino, ist geräumig genug, um mein nasses Zelt auszubreiten. Röhrenfernseher. Das Türschloss ist herausgebrochen, trotzdem reicht mir der Host einen Schlüssel. Fürs Fahrrad zeigt er mir den Hinterhof, eine Müllkippe. In der Küche sitzt seine Frau vor Facebook am PC, die Katze streicht über die Tische im Essraum, in dem das Breakfast serviert wird und der Hund springt an mir hoch, leckt mir die Hand.

Ich weiß nicht, was mich geritten hat, einzuchecken. Schon trage ich meine Taschen aufs Zimmer, lasse mich auf einen Kunstlederstuhl fallen, der wie ein Behandlungsstuhl beim Zahnarzt aussieht. Analysiere die Situation: der Fernseher im Nachbarzimmer ist deutlich zu hören. Die Hauptstraße direkt vor der Tür ersetzt das Meeresrauschen. Das Fahrrad steht entweder unten im Flur unbewacht und wer weiß, wer hier spät nachts ein- und ausgeht, oder es kommt in den Hinterhof auf die Müllhalde und wer weiß, wer dort nachts ein- und ausgeht? Der Host ist ein netter Kerl, “und du hast ja gesagt, der Kontrakt ist besiegelt, breite deine Isomatte auf dem Teppichboden aus und schlafe diese eine Nacht hier”, sagt eine innere Stimme. “Es wird Sturm geben”, erwidert eine andere innere Stimme, “du wirst vielleicht Tage hier bleiben müssen.” Dass das Ding nur 25 Pfund kostet, ist sicher verlockend, aber für 25 Pfund womöglich eine Nacht mit Fußballfans zu verbringen, die bis in die Puppen feiern? Der örtliche Club hatte ein Heimspiel.

So steht die Zeit still, es ist fast 20 Uhr Ortszeit, die Nacht naht, Herr Irgendlink fasst den wahnwitzigen Entschluss, hinauszuziehen in den Sturm. Notfalls ein Campingplatz – in Whitburn gäbe es einen, fünf Meilen nördlich, sagt der Host. Er ist mir nicht böse. In seinem Blick lese ich, dass er weiß, wo er steht, dass das Leben es nicht gut gemeint hat mit ihm und seinem Hotel und der Frau und dem Hund und der Katze und der Gesamtsituation.

Der Sturm umzaust mich. Es ist halb drei tagsdrauf. Ich treibe fotografierend über die Strandpromenade Richtung Hafen und philosophiere über das Leben. Ein Hauch Nordseeluft erinnert mich an meine ersten Ferien am Meer, zusammen mit meiner Schwester und den Eltern auf der Insel Föhr. Das muss 1976 gewesen sein, oder früher, und ich habe dort meinen Ekel vor Krebsen erlernt und vor allem anderen Getier, das keine Knochen hat. Sandburgen gebaut. Ein glückliches Kind. Wie vielleicht auch mein gestriger Host einst eins war. Wie konnte es so weit kommen? Wieso sind nicht alle Menschen von Geburt an glücklich und bleiben es für immer, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwachen? Naiv kindlich und sentimental treibt mich der Wind vorbei an Anglern, die in voller Regenuniform am Hafenbecken stehen und auf den großen Fisch warten. Ich fabuliere an einer Bloggeschichte, in der ich ein fiktives Sunderland entwerfe, in dem es genau zwei B&B-Häuser gibt, und die nie voll ausgebucht sind. Das heißt, sie dürfen es sich nicht erlauben, auch nur einen Gast zu verpassen, müssen froh sein, um jede Seele, die an ihre Tür klopft, und der sie Herberge geben können. Ein hanebüchenes Bild. Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. Beide Häuser sind gleich ausgestattet zum Zeitpunkt Null, irgendeinem Jahr soundsoviel, die genaue Zeit ist unerheblich. Dem Gast kann es zum Zeitpunkt Null vollkommen egal sein, in welches Haus er einkehrt. Weder ist das eine schmutziger, als das andere, noch ist es billiger, noch ist die Aussicht aufs Meer besser oder schlechter. So mag man einige Jahre wirtschaften in den beiden Häusern, ohne dass irgendetwas sich verändert, bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird, an dem es mit dem einen Haus wirtschaftlich den Bach runter geht und mit dem anderen Haus geht es aufwärts. Fast schon ein Bild, mit dem, man die Welt erklären könnte mit ihrer sozialen und materiellen Ungerechtigkeit: der Reichtum der einen bedingt die Armut der anderen. Die Armut der einen macht die anderen reich. Und alles nur, weil die gesamte Welt, ja, sogar unser Organismus, nach diesem Kräftegleichgewichtsprinzip funktioniert. Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder. Das Gästehaus “Villa” wird nicht mehr so oft gebucht wie das Gästehaus “Areldee”. Somit ist sein Host finanziell schlechter gestellt, kann nicht mehr renovieren, was wiederum weniger Gäste anlockt, was zur Frustration führt, weshalb der Host zu Trinken anfängt, um sich zeitweilig dem Frust zu entziehen und so weiter und so fort. In Areldee hingegen weht ein ganz anderer Wind.

Völlig perplex von meinen windzerzausten Gedanken, die ich in dem Moment, in dem ich durch die Hafenanlage zwischen Roker und Sunderland laufe, für ein grundlegendes Welterklärungsmodell, ach was, für ein Modell zur Erklärung allen Seins halte, stehe ich vorm Glasmuseum der Stadt. Trete ein. Wärme. Cafeteria. Essensduft. Griff zur Brusttasche. Schwer wiegt der Geldbeutel, geschmeidig die Kreditkarte. Der Sturm ist vergessen. Mein Alkoholiker-Host von gestern verblasst. Ich bin froh, auf dieser Seite des Lebens zu sein. Kaufkräftig, fähig, sich Wärme zu leisten, ein Essen, etwas Besseres, nicht das Beste, Mittelstand.

Nachdem ich die “Villa” verlassen hatte, stehe ich nur einen halben Kilometer weiter vorm Areldee. In der Tür hängt ein Schild „Vacancies”, Zimmer frei und gleich daneben bleckt ein Schild mit einem Fahrrad darauf und “C2C”. Der Coast to Coast Radweg führt über 140 Meilen von der Irischen See bis zur Nordsee und er endet feierlich in Sunderland. Es gibt sogar eine Stempelstation und die letzten Kilometer des C2C radelt man auf einem Planetenweg, auf dem die Planteten maßstabgerecht von der Sonne bis zum Pluto aufgereiht sind. Im Areldee, ganz in der Nähe des C2C-Finals, sind Radler willkommen. Peter, der Host, ist ein drahtiger, freundlicher Kerl, erzählt von seinem Schwager, der den C2C in einem Tag geradelt ist, teilt mir Zimmer 9 zu. Das letzte freie Zimmer. Nach mir dreht er das Vacencies-Schild im Fenster um und auf der Rückseite ist No Vacencies zu lesen.

Im Glasmuseum, in dem der Eintritt frei ist, betrachte ich eine äußerst spannende Ausstellung, die sich mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt. In einem völlig dunklen Raum sind zwei sensible Röhren wie Gegenpole aufgestellt, wie guter Host, böser Host, wie gescheiterter und erfolgreicher Host, und zwischen den Röhren, die mit elektromagnetischen Sensoren ausgestattet sind, wird jede Bewegung der Besucherinnen registriert und ausgewertet. Je nachdem, was man tut, fängt einmal die eine Röhre an zu leuchten und zu summen, einmal die andere und so schaukeln sich die Kräfte hoch, entstehen wie aus dem Nichts, aus der Leere des Raums. Ein weiteres Kunstwerk ist ein Sechzehnmillimeter-Film aus dem Jahr 1967, der von dem kanadischen Künstler Michael Snow geschaffen wurde. Das ursprünglich fünfundvierzig Minuten dauernde Material hat er digital zerlegt und den Film übereinander gelegt – wenn ich es recht verstehe, wurde das erste Stück des ursprünglichen Films überlagert mit den rückwärts laufenden Bildern des letzten Filmspulenstücks, so dass eine fünfzehnminütige, konfuse Masse bewegter Bilder entsteht, die sich in der Mitte des remixten digitalen Films treffen.

Meine Lieben, dies mag ein konfuser Artikel sein, aber das Thema der Kräfte und deren Entstehung, und wie man sie ableitet, verändert, kanalisiert, auflöst, ist kein leichtes Lullifulligeblogge, glaubt mir. Seit Belgien arbeite ich an einem Artikel wie diesem, wusste bisher nur nicht, wie ich ihn aufzäume.

Es wird nicht der letzte sein.

Schnell wie eine Sanduhr, mit goldenen Körnern

So muss sich ein Hochofen kurz vor dem Abstich fühlen. Voll brodelnder Lava. Wann schmilzt Eisen? 1200? 1400 Grad? Weißkochende Suppe unter Schlacke. Wie außerirdisch in Asbestanzügen ächzt der Hochöfner der feinen Künste. Funken sprühen.

Die letzten Tage, Wochen, Monate waren so intensiv, so voller Arbeit, Querelen, Kopfzerbrechen, dass es sich im Vergleich dazu richtig leicht anfühlt, wie sich nun die einzelnen Puzzlestücke des gelebten Lebens wieder zusammenfügen. Erledigungen zwingen mich runter in die Stadt, wo ich allmöglichen Leuten begegne, die Künstlerinnen H. und B. und ein lange nicht gesehener Ex-Komilitone flanieren in der Fußgängerzone. Ich erinnere mich an die Namen und atme insgeheim auf. Mein Hirn scheint wieder zu funktionieren. Am Busbahnhof schnappe ich das Gespräch zweier Männer auf zum Thema Weltuntergang. Fetzenweise: „Sonnensturm“, sagt einer, „in paar Minuten hier bei uns … Mayakalender … Weltuntergang … schneller als das Licht.“ Hä? Und als hätte der Endzeitler mein gedachtes Hä gehört, relativiert er: „Oder genauso schnell wie das Licht.“ Wir wollen doch hier die Relativitätstheorie nicht ad Absurdum führen. Vor einer Apotheke sitzt ein Saxophonist mit offenem Kasten voller 20 Cent Münzen und spielt so herzerweichend schlecht, dass ich nicht umhin komme, ihm Geld zu geben. Saxophon ist schwer. Die Rhythmusmaschine tockt grotesk im Hintergrund. Dankesblick und Saxman-Nicken, als die Münze fällt. „Kollege“, denke ich, und verschwinde hinter der Ecke. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen bei dem Gedanken, dass ich Europenner, ausgestattet mit den Insignien der Konsumgesellschaft doch auch nur ein paar Fehltritte von dem Leben auf der Straße entfernt bin und versuche mir zum Spaß auszumalen, wie einer wie ich, der keine Ahnung hat von Musik, nicht alt genug fürs religiöse Mitleidsbetteln auf Knien, zu Stolz für ein „Nehme jede Arbeit an Schild“, sich seinen Lebensunterhalt auf der Straße verdienen würde. Kann ja heutzutage jedem passieren auf der Straße zu landen. Nur ein paar Fehltritte zu viel. Werde ich iPhone-tippend in der Fußgängerzone hocken und an den „Protokollen eines existenziell gescheiterten Kunstfuzzies“ schreiben, live bloggend? Und die Kundschaft kann mit ihren iPhones, noch während sie vor mir steht, den Artikel abrufen, den ich gerade über das Geschehen da draußen in der Fußgängerzone mit all den hart arbeitenden, scheinbar so glücklichen Menschen schreibe? Wie sieht das eigentlich aus, wenn man bedürftig ist, bettelnd am Straßenrand gescheitert, Putzer der schmutzigsten Klinken des Universums? Ich meine das Driften geschäftiger Menschen in einer westlich zivilisierten Fußgängerzone aus dem Blickwinkel zum Beispiel von Saxman? Ich weiß es nicht. Ich möchte es mir nicht einmal vorstellen.

Mit dem Rad bin ich unterwegs, hatte ich das erwähnt? Durchquere die Stadt und radele hinüber in die Schwesterstadt (siehe Blogbild im Eintrag zuvor). Ich muss üben, trainieren für die Nordseeumrundung und mit dem Rad verlasse ich sehr gerne das einsame Gehöft, fühle mich per Rad in Innenstädten sowieso wohler, als mit einem belastend großen Auto.

Zwischen den Schwesterstädten, am neu gebauten Bahnhof Einöd ächzt eine Frau mit omakrummen Beinen nur dreißig Meter entfernt, „nur noch dreißig Jahre entfernt“, rechne ich, „dann bist auch du so weit, Knochenschwund, Stützstrümpfe, Schmerzen im ganzen Körper, froh um jeden Winter, den du überleben wirst, froh um jeden Meter, den du in der Frühlingsluft an deinem Rollator laufen darfst“. Die ehrenwerte Frau P. kommt mir in den Sinn, wie sie mich kürzlich angesehen hat, sehr wohlwollend, und mir viel Glück gewünscht hat für das Reiseprojekt: „Machen Sie das, so lange sie noch können,“ hat sie gesagt und ich habe genickt. Von allen Stellen kriege ich das zu hören: Lebe, so lange es noch möglich ist. Die meisten Menschen merken viel zu spät, dass es für etwas zu spät ist. Wo hätte ich gedacht, dass sich die Angst vor dem „Nicht mehr so können, wie früher“, schon so zeitig einstellt, gerade mal Mitte Vierzig. Aber es ist so. Hör gut zu, junger Mensch. Beeile dich. Tu, was du tun willst sofort. Warte nicht. Verschiebe nichts. Spätestens ab der fünften Lebensdekade rinnt die Zeit.

Am Abend erzählt mein Vater von einer Sanduhr mit goldenen Körnern, die man in Zeitlupe rieseln sehen kann. Zu jung, um genau hinzuhören, nehme ich nur wahr, wie er sagt, dass er mit Glück 90 werden könnte, und dass die zehn fünfzehn Jahre, die ihm vielleicht noch bleiben einen so hohen Wert haben, dass er sich genau überlegt, wie und mit wem er seine Zeit verbringt, wem er seine Aufmerksamkeit widmet. Der Abend glänzt. Rote Sonne sinkt. Zwei helle Sterne an einer Stelle, wo keine sein sollten. Ich muss an die Männer mit dem Sonnensturm denken. Schneller, als das Licht.

Hom Sweet Hom

Eine Trainingsrunde von etwa 30 km Länge führte mich heute nach Homburg, der sogenannten Schwesterstadt von Zweibrücken. Das Bild zeigt den Marktplatz im Stadtzentrum, wo nächste Woche Kollege T. seine Tapasbar eröffnet.
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