Schnappschüsse von Gleis Nimmerlein. Im Zweibrücker Bahnhof lungern übernächtigte Kerle auf den Gitterbänken. Pfütze unterm Sitz. Pisse oder Bier? Kalter Rauch. Schnapsgeruch. Drei Girlies, kaum dreizehn, unterhalten sich über die Zubereitung von Whiskeymischungen. Fachfraulich stolz mit rosa Röckchen, Täschchen, Handychen …
Gleis eins ist ein Glastrümmerfeld. Spucke, Kippen, Kaugummis, Scherben. Der Zug ist nahezu pünktlich. Ein Pufferzug, der dank Begegnungsverkehr an manchen Bahnhöfen warten muss. So holt er jede Verspätung wieder auf. Mit im Zug Markus, Norddeutscher Schwager einer Zweibrückerin. Er hat auch das Foto im vorigen Artikel gemacht. Wir schwätzen dies und jenes. Unsere Missionen. Er auf Autokauf in Stuttgart. 1500 € für einen 1993er BMW.
Die einzige Zugtoilette ist defekt. Abgesperrt. Zwei Kinder mit schmerzverzerrtem Gesicht klemmen die Beine. In Annweiler fünf Minuten Aufenthalt. Ich und Radel und Rucksack raus. Baum finden. Blase leeren. Tut gut. Rechtzeitig zurück im Zug.
Landau. Karlsruhe. Dort wirds voll. Radel zwischen Tür und Angel. Kaum Sitzplätze. Verdrossene Stille. Das Mädchen gegenüber fährt schwarz. Die Schaffnerin ist gnädig, gibt ihr die Chance zum Nachlösen. Wohl wegen des Kinderwagens, aus dem ein hungriges Maul sperrt. Das Mädchen behauptet, sie habe kein Geld zum Nachlösen. Also Personalausweis. Volles Programm. Bis Basel hätte ich gar keine Fahrradkarte gebraucht, erklärt die Schaffnerin. Als das Mädchen mit dem Kinderwagen aussteigt, gibt sich der Junge neben mir als ihr Freund zu erkennen. Legt seinen dicken Geldbeutel ins Netz unter dem Kinderwagen. Schweigend steigen sie aus. Ein Rastamann mit orangenen Klamotten sitzt neben orangenem Koffer. Als er aussteigt, bleibt der Koffer stehen. Er gehört also widersinniger Weise dem sonnenbrillenträger mit der gelben Outdoorjacke.
Vom Höcherberg nach Oberthal auf dem Saarland-Radweg
Im Uhrzeigersinn auf dem Saarland-Radweg unterwegs durchwandert Liveblogger Irgendlink ein faszinierendes Stück Nordsaarland. Alle zweieinhalb Kilometer macht er ein Hipstamatic Foto der bereisten Strecke und dokumentiert einen der schönsten Fernradwege Deutschlands.
Die Kunststraße rund ums Saarland nimmt langsam Gestalt an. Wegen des brillianten Herbstwetters kann ich nicht umhin. Ich muss hinaus in die Welt. Die zweite Etappe auf dem Saarland-Radweg macht mich endgültig süchtig. Mit dem Auto transportiere ich das Radel bis zum Endpunkt der gestrigen Etappe auf dem Höcherberg. Setze dort ein.
Gefangene! Was wäre das Künstlerauge, ohne genau hinschauen? Alltagsstraßenverkehr. Ein Kleintransporter mit drei Kerlen im Führerhaus, wie sie dröge durch den Arbeitsalltag driften. Ich vermute Gipser auf dem Weg von einer Baustelle zur nächsten, und es schleicht sich ein beklemmendes Gefühl ein, das nach Schweiß riecht in Firmenautos kurz nach der Mittagspause, nach Müdigkeit und nach Leere. Ich kenne das Gefühl aus frühen Berufen, ein Gefühl von Schnitzel essen auf Firmenkosten, danach wider die Natur weiter schuften. Jedes Kind weiß, voller Bauch studiert nicht gern. Noch ungerner arbeitet er direkt nach dem Essen. Und ich Künstler begegne nun diesen armen Kerlen, wie sie nebeneinander im Firmenauto von Baustelle zu Baustelle fahren. Ich hoffe, niemand von denen denkt. Ein anderes Auto, das mir entgegen kommt, zeigt eine überschminkte Frau am Steuer. Schönheit ihr Lebensziel. Gefangene, schießt es mir in den Sinn. Es gibt nur noch Gefangene in dieser Welt. Konsumsträflinge. Hörige auf dem Weg von einer Baustelle zur nächsten. Menschen, denen man eingeredet hat, dass sie so und so aussehen müssen und sich deshalb viel Fett ins Gesicht schmieren müssen, damit die Augen gut rauskommen. Geld. Geld. Geld. Schön, schön, schön. So lautet das Diktat. Derweil schickt sich Mister Leichtfuß-irgendwo-zwischen-den-Welten-schwebend, halberkennend-Irgendlink an, seinen selbst gewählten Verzweiflungsberuf auszuüben. Was für eine Welt. Die zehn Jahre alte Karre ohne TÜV stelle ich auf dem Parkplatz vor der Höcherberghütte ab, ziehe das Radel raus, atme tief durch. Auf der Heckscheibe steht noch immer im Schmutz: „Art is a dirty Job“, wie ich es vor der Kunstmesse im März mit den Fingern eingeritzt habe. Seither bin ich kaum Auto gefahren. Wie auch, wenn man vier Monate um die Nordsee radelt? Im Innenraum wuchern Spinnweben. Ich lasse sie.
Jetzt beiße ich mich fest an meinem neuen Liebling, dem Saarland-Radweg
Was gibt es an dieser Stelle des Saarland-Radwegs zu berichten? Kilometer 17,5 bis 35. Ich durchradele das Ostertal und werde natürlich mit den Anwohnern konfrontiert. Passanten. In Niederkirchen verbellt mich der Hund einer Friseurin. Hat schlimme Erfahrung gemacht mit Mann mit Hut. Radler mit Helm ist für Hund wie Mann mit Hut. Kurzum, das kaum drei Jahre alte Hundchen verbellt mich, dass es nur so eine Art ist, als ich das alte Feuerwehrhaus fotografiere. Die Friseurin erklärt mir, dass das Tier ein traumatisches Erlebnis hatte, weil irgend so ein Witzclown mal versucht hatte, seinen Hut auf den Hund zu stülpen. Wir schwätzen eine Weile und irgendwann gibt mir die quirlige Kira, so heißt das Tier, Pfötchen. Das hat sie aber feiiiin gemacht. Nebenan ein zwölf Quadratmeter großer Kreis auf freiem Platz, in dem jemand zig Bierdosen zusammen gekehrt hat. Das waren die Männlein, erzählt mir die Frisörin. Die treffen sich immer hier auf dem Platz mit ihren Autos, hören Musik, feiern, lassen das Leergut liegen. Scherben und Menschenglück. Und der Moment. Wie nah sie einander doch sind. Ich konstatiere, Menschen, die nicht wissen, wohin sie ihren Müll tun sollen, müssen zurück in die Schule. Ein Verkehrsflieger überquert die Szene und ich ahne: wir sind in der Einflugschneise nach Saarbrücken. Weiter, weiter, weiter. Altes Paar auf Parkbank. Ich beneide sie um die Innigkeit. Tapfer fotografiere ich in zweieinhalb Kilometerschritten weiter. Hart an der Grenze zur Pfalz verläuft der Radweg Richtung Oberthal. Dort gebe es eine faszinierende Eisenbahnbrücke, erzählt mir jemand. Nach 17,5 Kilometern kehre ich um. Nun also insgesamt 35 Kilometer seit Homburg im Uhrzeigersinn auf dem Saarland-Radweg. Auf dem Rückweg erinnere ich mich, pausierend auf einer Parkbank gegenüber einer Kläranlage an meinen alten Kunstlehrer, wie er herunter betete, wer jemals die Sonnenblumen von Van Gogh gesehen hat, wird nie wieder sich trauen, eine Sonnenblume zu malen. So oder so ähnlich hat er gesagt. Er wollte vermitteln, dass es sich mit dem Bild um einen nie topbaren Meilenstein handelt. Vermutlich hat er es so auf der Kunstlehrer-Akademie gelernt und betet es nun einfach runter. Ich beobachte die Kläranlage, denke an Van Gogh und dass er das Wunder Kläranlage nie beobachten durfte, weil es damals noch keine Kläranlagen gab. Der Mann musste Sonnenblumen malen, nicht Kläranlagen, damit zeitgenössische Kunstpädagogen predigen dürfen, wer jemals eine Van Gogh’sche Sonnenblume gesehen hat, wird sich nie trauen, eine Sonnenblume darzustellen.
Gleich um die Ecke fotografiere ich eine Sonnenblume, die es in sich hat. Ich bin zufrieden mit dem Bild. Ich muss an meinen Kunstlehrer denken. Ich muss an Van Gogh denken, wegen meines Kunstlehrers.
Es hat mich einfach überkommen, ich musste das gelbe, runde Ding fotografieren. Ich habe es hipstamatisiert. Apps gab es zu Van Goghs Zeiten noch nicht. Ich denke an mein Ohr. Derweil neigt sich die Sonne dem Horizont und die Windmühlen drehen müde im Herbstwind.