Chronik einer Burgenblogger Bewerbung

Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin

Mitte August 2014

Facebook verpetzt, dass Burg Sooneck am Mittelrhein 2015 für ein halbes Jahr Kost, Logis und ein kleines Salär für einen willigen Blogger bietet. Ob ich mich nicht bewerben wolle, fragen verschiedene Freunde. Ich sage nein, keine Idee. Zwei Wochen lang geistert die Burg, der Job, der Mittelrhein im Hinterstübchen. Unterbewusst schleicht sich die Offerte immer wieder an. Zu den Akten legen impossible.

Anfang September 2014

Ideeeee! Ich schreibe eine witzige Glosse in Form einer Bedienungsanleitung und packe in den Text alles nötige, was die huldvollen Ausschreiber des Jobs wissen müssen. Weberfahrung, Blogkompetenz seit 2001, Nordseeumrundung, Jakobsweg, alles, was man so im Laufe eines Mobilbloggerlebens auf dem Kerbholz hat. Zwei Stunden Arbeit. Besonders gut nach Fipptehlern suchen, wir sind hier nicht auf einer Livereise, auf der man Schreibschludereien einfach so mit ich hab das alles auf dem Handy getippt, ich war müde, es regnete, entschuldigen könnte. Abschicken.

Kurze Zeit später 2014

Die Sache wird viral. Facebook- und Twitteraccounts zum Thema Burgenblogger sprießen wie Pilze. Uralte Facebookseiten, die völlig verwaist waren sind plötzlich wieder in Betrieb. Nigelnagelneue Blogs werden registriert. Die Bewerberzahl nimmt zu. Mit Burgenblogger und Mittelrhein als Schlagwort auf die erste Googleseite zu kommen, wird zunehmend schwerer. Videoblogger und Facebookträumer geben sich in den sozialen Medien die Klinke in die Hand. Likebettelei und Retweetwahnsinn machen sich breit. Von Seiten der Veranstalter läuft es bestens. Mit Ihren Socialmediapräsenzen schütten sie hektoliterweise Öl ins Feuer. Monsieur Irgendlink kommt in die Bredouille. Muss mitbloggen. Das Blog umstricken. Kategorie Mittelrhein einrichten, sich mit Rheinromantik beschäftigen.

7. September 2014

Dass es auf der Burg laut ist, ein Steinbruch nebenan, das ohnehin lärmgebeutelte Mittelrheintal am Bein usw. sickert durch. Madigmacher schreiben von miesbezahltem Job (und bewerben sich vermutlich dennoch).

Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin
Umschlag versiegelt mit dem Namen der künftigen Burgenbloggerin

8. September 2014

Eigentlich ist die Sache gelaufen. Ich weiß, wer Burgenbloggerin wird, notiere den Namen auf einem Zettel und packe ihn in einen versiegelten Umschlag.

Eine Woche später 2014

Schon über dreihundert Bewerbungen, twittert die Rhein-Zeitung. Wau. Die Bedingungen für den weiteren Verlauf der Bewerbungsphase werden bekannt gegeben: zuerst werden fünfzig Bewerberinnen und Bewerber in die engere Wahl genommen, dann zehn. Wozu erst fünfzig, dann zehn? Wieso nicht gleich nur zehn? Mir schwant übles. Ich versuche mich in die Lage der Ausschreiber zu versetzen. Es dämmert.

14. September 2014

Am letzten Tag der Bewerbungsphase rotiert Twitter mit einer Bewerberzahl nach der anderen. Vierhundert, fünfhundert, darf’s ein bisschen mehr sein? Bis zur Deadline um 23:59 Uhr sind es über siebenhundert. Chappeau Mailserver!

15. bis 29. September 2014

In Kleinburgenbloggersdorf herrscht völlige Verwirrung. Die Veranstalter geben schon wenige Tage nach dem Ende der Frist bekannt, dass sie die Burgenblogger-Fifty ausgewählt haben. Aber niemand wird informiert. Ein gefühltes Mittelalter vergeht, bis am 29. September endlich die Nachricht kommt, haben soeben achthundert Mails versendet mit den Zu- und Absagen.

29. September 2014

Über Twitter jubeln und weinen die Zu- und Abgesagten im Minutentakt, dass es nur so eine Art ist. Juhuuu und oh ich bin so traurig. Irgendlinks Postfach ist leer. Und leer. Und leer. Auch im Spam ist nichts zu finden. Monsieur Irgendlink hatte zuletzt seine unendliche Geduld bewiesen, als er vom Gotthard heimkehrte und nicht wusste, wer Fußballweltmeister ist. Nonchalant flüsterte er, ich muss es nicht wissen. Spätestens bei der nächsten WM werde ich es erfahren.

29. September, eine gefühlte Spätromantik später 2014

Ich muss das jetzt wissen! Schreibe Mail an die Bewerbungsadresse. Autoresponder, nichtssagend. Nie wirst du unter der Kontaktadresse je etwas erfahren. Tot. Twitter fragen. Drei weitere Burgenblogger haben auch keine Mail erhalten. Schrödingers Burgenblogger? Ein quantenphysisches Experiment? Die anderen verpetzen irgendwann die magische Adresse vom Onlineredakteur, der die Strippen in der Hand hält. Zu müde, um da jetzt noch zu mailen. Dornröschenschlaf.

Zeitlos skeptisch 2014

Wieso fünfzig, dann zehn und dann die eine? Monsieur Irgendlink zieht sein Jurykostüm an, läuft im Kreis, um sich besser in die Denkweise einer Jury versetzen zu können. Plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Wickie-esque ich hab’s rufend: wenn ich Jury wäre, würde ich mir die tolle Viralkampagne doch nicht versauen, indem ich gleich die Karten auf den Tisch lege. Ich würde die fünfzig besten Pferde im Stall erstmal schön im Glauben lassen, dass sie dabei sind – das macht über einen Monat gratis Twitter, Facebook, sich den Wolf bloggen – und so das Projekt schön in den Medien halten, das würde ich tun! Auf dem Schreibtisch liegt der Umschlag, den ich am 8. September versiegelt habe, mystisch glimmend, fast wie im Film.

Ein Jahrhundert später, 30. September 2014 – 20:47

Sehr geehrter Herr Irgendlink,

vielen Dank für Ihre Nachfrage. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie gestern ganz offensichtlich keine Mail bekommen haben.

Mein Kollege Lars W. und ich haben jede Bewerbung einzeln gesichtet und uns die Vorentscheidung nicht leicht gemacht. Es galt, 50 besonders geeignete Bewerbungen auszuwählen – aus weit mehr als 700 Einsendungen.

Leider müssen wir Ihnen heute eine Absage für Ihre Bewerbung mitteilen. Wir möchten uns für Ihre Bemühungen ganz herzlich bedanken. Und wir würden uns freuen, wenn Sie auch weiterhin unsere Berichterstattung über den Burgenblogger verfolgen.

Mit freundlichen Grüßen

1. Oktober 2014.

Ich bin endlich wieder frei.

Ganzheitliches Burgenbloggen – der Mittelrhein ist nunmal nur Mittelrhein

Die Burgenbloggerei, respektive die Bewerbung zum Burgenblogger, die ich neulich abgeschickt habe, spült ganz neue Aspekte an den Traumstrand der feinen Künste: Videoblogging, Verschlagwortung, Suchmachinenbuhlerei, all das moderne Zeug, das in einer geheimnisvollen Wolke die Webmenschen des neuen Jahrtausends umwirbt, wird plötzlich greif- und fühlbar, und es übt einen gewissen Reiz aus. Fast wie früher, als Kind, als man seinen Chemiebaukasten auspackte oder den Zauberkasten und staunend vorm Inhalt saß. Ein Koffer, der, wenn man ihn auftut, einen Goldglanz ins Zimmer wirft.

Das Atelierfest 2014 wäre nie so intensiv dargestellt worden im Irgendlink-Blog, wenn ich mich nicht auf diese verflixte Burgenbloggerbewerbung eingelassen hätte.

Die Idee, die Kamera im Intervallmodus auf den Kunstaufbau zu richten war zwar schon lange da, aber, hey, warum hätte ich das Video auf Youtube hochladen sollen? Wir Künstler sind schon seltsam verträumte Wesen, denen das Getümmel der Welt ziemlich egal ist. Es sei denn, wir öffnen die geheime Box, aus der golden das Licht strahlt. Kurzum: Ich hatte Lust, das Offene Atelier in diesem Jahr intensiv bei Facebook und Twitter zu bewerben. Ein lautes Hallo hinauszuschreien ins Niemandsland verzweifelter Websuchender.

Durch die Burgenbloggerei musste ich mich mit dem beschäftigen, was die anderen siebenhundertnochwas Menschen so treiben, die sich auf den Job beworben haben. Mann, da sind ja echte Profis dabei. Journalistenschule, Videoexperten, Marketingmanager, Kampagnenvorantreiber, Träumer, und auch ganz normale Künstler wie du und ich. Für drei Blogeinträge bin ich sogar selbst abgetaucht ins Mittelrheintal, weil es eben das Thema so mit sich brachte. Interessant! Interessant auch die Kongruenz – das Leben ist ja ein Verbinde-die-Punkte-Spiel – zu meinem fast schon in Vergessenheit geratenen Projekt Protokolle am Fluss, das schon seit bald zwanzig Jahren schmort: den Rhein von der Quelle bis zur Mündung erradeln, erwandern, sehen, was passiert, darüber schreiben, fotografieren und ansonsten das Leben einfach so zu leben, glücklichsein. Das könnte doch prima mit dem Job als Burgenblogger einhergehen? Wenn ich Burgenblogger würde, würde ich mir zuerst Urlaub gönnen. Sagen wir vier Tage pro Monat, was bei einem halbjährigen Job vierundzwanzig Urlaubstage ergäbe. Mit Wochenenden also ungefähr dreißig Tage, die man jenseits der Burg verbringen könnte – genug Zeit, um am Gotthard loszuradeln, den Rhein runter bis zur Burg, auf der man eingekerkert seinem Brotjob Burgenblogger nachgeht, weiter bis zur Nordsee. Das würde die Eskapade Mittelrhein um ein ganzheitliches Etwas bereichern. Eigentlich auch intelligent: wenn du dir ein Bild machst von etwas, dann tue es auch richtig. Konzentriere dich nicht nur auf das Naheliegende, beziehe auch das Nächste und Übernächste mit ein. Den Hoch-, den Ober- und den Niederrhein. Und alle anderen Rheine auch.

Zwei Tage nach dem Offenen Atelier habe ich endlich wieder Zeit, mich um meine Roadmap zu kümmern. Nächste Projekte. Mittelrhein steht drauf. Ein paar Spiralen, die ich lokalen Medien schmackhaft machen möchte und ganz weit oben meine große, offene Wunde, die Straße nach Gibraltar. Das ist eine Fahrradttour nach Gibraltar, die ich seit 1991 immer wieder begonnen habe, aber nie weiter, als bis Valencia gekommen bin. Vielleicht klappt’s ja im November?

Dann ist auch mehr Dynamik im Gepäck. Videos, Ton. All das moderne Zeug. Obschon auch stets der Back-To-The-Roots-Trieb in mir schlummert: Handgeschriebene Texte in französichen Notizbüchern.

(In diesem Text lasse ich mal weitestgehend den Link- und Suchmaschinenschnickschnack außenvor. Irgenwie ist man ja auch (noch) Mensch.

Revolutionäre Projekte zum Thema #Burgenblogger und #Mittelrhein

Mittelrhein Grafik Karikatur

Was macht eigentlich der Knopf Kreativmodus an meinem Burgherrenkit Irgendlink?

Er schaltet die Einheit auf zufällige Wiedergabe. Entweder werden Sie verstört die Ergebnisse beobachten, oder vor Entzücken in die Luft springen.

Aus meiner Bewerbung zum Burgenblogger – Bedienungsanleitung für eine Ritterburg

Oder anders gesagt: wenn man dem Künstler nicht sagt, was er tun soll, dann macht er was er will. Treibt Schabernack. Lässt die Ideen sprudeln. So entstehen grotesk-phantastische Ideen auf dem weiten Feld zwischen Dada und Karikatur, zwischen Ironie und bissigem Humor.

Natürlich spielen die Reize, die die Umwelt auf einen ausüben eine große Rolle. Zum Beispiel das Bild, das die Rheinzeitung in ihrer Ausschreibung zur Burgenbloggerei verwendet hat. Es zeigt Burg Sooneck, auf der der Burgenblogger dereinst residieren und arbeiten soll, mit einem riesigen hineinmontierten Pfeil, der auf den Burgturm zeigt. Schon von Anfang an hat mich dieser Pfeil gestört. Er will und will nicht in das romantische Bild einer Ritterburg über dem Mittelrhein passen. Kann mal jemand den doofen Pfeil vor meinem Burgfenster wegnehmen, war einer meiner ersten Gedanken. Schrei’s laut hinaus. Als ob man, wenn man auf Burg Sooneck einzieht, immer diesen Pfeil vor den Augen hätte. Ha.

Kurzerhand habe ich das Bild aus dem Netz kopiert und durch Halftone auf dem Smartphone genudelt und einen Cartoon gebastelt, auf dem aus dem Burgturm eine Stimme in die Sprechblase schreit, Kann mal jemand den doofen Pfeil vor meinem Burgfenster wegnehmen.

So weit so gut. Der nächste Schritt wäre gewesen, auf den Teilenknopf zu drücken und das Bild zu Facebook, Google und Twitter zu portieren, aber halt halt halt, gibt’s da nicht noch so etwas wie ein Urheberrecht? Und, verflixt, wer hat überhaupt das Bild gemacht? Ist das ein Stockfoto? Ist es gemeinfrei? Darf ich es verwenden? Schnell mal nachschauen. Ach und tatsächlich, unter dem Bild steht ein Name: Ulrich Pfeuffer. Google fragen. Es gibt ja so viele Pfeuffers. Welche mit drei F. Und Ulrichs. Welche mit zwei L. Auch diesen Ulrich Pfeuffer gibt es. Fotograf in Koblenz. Mittelrhein. Könnte passen. Klasse Seite. Besonders gut gefallen mir seine Ostsee-Bilder in der Rubrik Unterwegs. Sie sind so schön still. So unprätentiös. Ein Augenschmaus.

Impressum gibt es auch auf der Seite, also Mail an Ulrich, mal nachfragen, wie er die Sache sieht. QQlka, mein Galerist meint zwar, oooch, das kannste verwenden, ist doch künstlerische Freiheit,  Paragraf fünf oder so, wird doch keiner etwas dagegen haben. Aber das ist mir in Anbetracht des Wespennests Burgenbloggerei ein bisschen zu heikel. Und außerdem ist es höflich, zu fragen. Vielleicht lernt man ja nette Leute kennen?

Herr Pfeuffer hat noch nicht geantwortet. Vielleicht findet er diese Art Humor doof. So doof wie ich den Pfeil. Deshalb steht an dieser Stelle nicht das Cartoon-Bild, sondern … muss ich mir noch überlegen, wird sich ja in Irgendlinks Archiven irgendwas finden lassen, das man zurechtbiegen kann, dass es in den Artikel passt.

Schnitt.

Nachts erwache ich mit dem phantastischen Gedanken, ich könnte mein Alterego, den MudArt Künstler Heiko Moorlander zum Burgenblogger bewerben. Der hat sowieso viel mehr Charisma als ich. Und Geld wie Heu. Der könnte ein revolutionäres Projekt ausrufen, das das Mittelrheintal auf einen Schlag weltberühmt macht. Ein Dorado für Taucher und MudArtisten soll es werden. Der Rhein in Schlammen war geboren, in Anlehnung an die jährlich stattfindende Veranstaltung Rhein in Flammen.

Okay, es ist sicher keine gute Idee, sich als Burgenblogger zu bewerben mit einem Projekt, das das Rheintal ab Koblenz unter Wasser setzt und zweihunderttausend Menschen umsiedeln will. Aber revolutionäre Kunstideen fordern nunmal ihren Preis.

Vielleicht wäre es besser, wir würden die Staumauer im Binger Loch machen, sagt QQlka. Wir sitzen auf der Südterrasse des einsamen Gehöfts und lassen die Ideen sprießen. Man könnte das Tal trocken legen und eine 65 Kilometer lange Shoppingmall daraus machen. Ein Paradies für die kaufkräftige junge Mittelschicht. Dach drüber. Shops in den Felsen meiseln, fast wie Andorra. Gute Idee, sage ich. Die ist von dir, sagt QQlka. Von uns, beschwichtige ich. Ideen sind immer das Zusammenspiel vieler. Ideen sind produktiv gewordene Kommunikation.

Ab hier wird es vielleicht ein bisschen philosophisch in diesem Satireartikel, aber der Beweis, wie der Zusammenschluss von Ideen funktionieren kann, liegt ja ungeschminkt vor uns. Die Burgenbloggerkampagne nimmt ihren Lauf durch die sozialen Medien. Die vielen Bewerberinnen und Bewerber inspirieren sich gegenseitig, beflügeln einander. Eigentlich ist das virtualisierte Mittelrheintal durch die Kampagne ein fruchtbarer Acker geworden, auf dem theoretisch wir alle, die wir darüber schreiben, denken, hoffen, mitfiebern, wer denn nun der einzige Burgenblogger, die einzige Burgenbloggerin wird, prima leben können.

Auch ich habe viel gelernt. Die wenigen Profijournalistinnen (ja, tatsächlich konnte ich nur Frauen finden, die vom Fach sind und das Zeug hätten zur Burgenbloggerin), haben mich mächtig inspiriert und mir mit ihren offen gelegten Bewerbungen die Dinge klar gemacht, die ich zwar ahnte, aber die ich bisher nicht so im Fokus hatte. Durch die offene Darstellung unserer Bewerbungen und Ideen, haben wir uns gegenseitig weiter gebracht. Das war nicht nur ein kollektives Hose runterlassen. Das war gemeinsames Schaffen an einer großen Sache. Für den Kunststraßenbau und die nächsten Projekte konnte ich vor allem eins mitnehmen: höchste Blogdisziplin und tiefe Einblicke in die Promotion von Projekten. Ich werde es auf den nächsten Livereiseprojekten gut gebrauchen können.

In knapp zwei Tagen endet die Bewerbungsfrist für den Posten auf der Burg. Ich bin gespannt, wieviele sich beworben haben und wie es weiter geht.

Oh, und ehe ich’s vergesse, Blogartikel will Bild. Nehmen wir doch diese kleine Karikatur zu den Mitteln der Burgenblogger: Herzblut und Ideen:

Mittelrhein Grafik Karikatur
Das hier ist der Mittelrhein, da fließen unsere Mittel rein – die Mittel der Burgenblogger: Ideen und Herzblut

Rheinromantik 2.0 – Kratzen am Mythos Burgenblogger

Die fliehenden Stunden des Lebens - Sonnenuhr
Die fliehenden Stunden des Lebens – Sonnenuhr

Jetzt, jetzt und nochmal jetzt! Das ist das Credo des modernen Bloggens, hart am Wind der unmittelbaren Gegenwart, kaum erlebt und schon im Netz. Die mögliche Zeitempfindung auf einen einzigen Punkt konzentrieren und versuchen, sich der Gegenwart so weit wie möglich zu nähern. Aber gibt es das Jetzt überhaupt? Unser Hirn verhindert das angeblich (aber es kommt verdammt nah ran). Es mischt Erinnerungen und Hoffnungen zu einem berauschenden Gebräu, das uns nur vorgaukelt, wir leben im Jetzt, obwohl wir stets in unserem Erleben und Empfinden einen Sekundenbruchteil dem Jetzt hinterherhinken. Haben wir womöglich gar keinen Einfluss auf unser Handeln? Schalten wir eine Stelle weiter in die virtuelle Welt, in der wir ja auch eine Unmittelbarkeitsvermutung hegen, so geht die Gaukelei weiter und es mischen sich noch weitere Substanzen hinzu in dieser höchst modernen Form der Alchemie. Wahrheit und Unwahrheit, die in den Kommentarsträngen der sozialen Medien aufeinander knallen, wie Krieg auf Basis von Gerüchten, Geglaubtem und arglos als wahr Angenommenem. Der moderne Blogger im Allgemeinen und der Livereisende im Besonderen ist Teil eines Verwirrspiels, schlüpft, gewollt oder nicht, in die Rolle eines lebenden Avatars, einer Abenteuerfigur, die für Couchpotatoes oder Überarbeitete und Gelangweilte erlebt, filmt, berichtet und sie ein gut Stück mitleben lässt in seinem – es steht ja im Internet, es ist wahr – kleinen, subjektiv zusammengeschusterten Leben. Das Dasein als lebender Avatar, als selbst ernannter Held subjektiv erlebten Alltags, bietet ein unglaubliches Potential. Nicht nur, dass man der Sehnsucht nach dem Jetzt hart auf den Fersen ist, man ist auch dem Produkt, das man schafft, sehr nahe. Und das in einer Zeit, von der man sagt, dass der produzierende Mensch sich immer weiter von seiner Arbeit entfremdet.

Schon Schlegel hatte es prophezeiht: der Burgenblogger dokumentiert sich selbst

Bloggen ist eine sich selbst dokumentierende Kunstform. Durch die Vielfalt der zur Verfügung stehenden elektronischen Mittel (Video, Foto, Sound, Text) entsteht ein unmittelbarer und durchaus miterlebbarer Bericht. Vielleicht ist es so ähnlich wie einst Friedrich Schlegel mutmaßte, ein Produkt, das dazu dient, das Produzierende darzustellen. Anfang des 19. Jahrhunderts bereiste der Schriftsteller das Mittelrheintal. Er gilt als bedeutender Vertreter der Rheinromantik. Kaum vorzustellen, dass die sechzig bis siebzig Kilometer lange Engstelle zwischen Bingen und Koblenz einmal ein beschauliches, stilles Stück Gegend war, das Tausende von Sehnsüchtlern anlockte. Rau und wild. Auf der Suche nach Abenteuer, Ruhe und gleichzeitig auf der Flucht vor der einsetzenden Industrialisierung, wandten sich die Rheinromantiker der Natur und der Vergangenheit zu. Das verwunschene, damals kaum erschlossene Mittelrheintal, dem sich zudem die Niebelungensage gut andichten ließ, war der ideale Ort dazu. Der Romantiker vor 200 Jahren, wurde durch eine abenteuerliche Fahrt auf einem schwer schiffbaren Abschnitt des großen europäischen Stroms belohnt. Burgen, Stille und viel Grün inklusive.

Das Mittelrheintal, Brücke „zwischen zwei Romantiken“

Und heute? Der moderne Mensch will vor allem eins: Von A nach B. So schnell wie möglich. Und noch eins: Südfrüchte, Fahrräder, Autos und Energie und somit will er auch, dass diese Waren transportiert werden. Noch immer ist das Schiff das Verkehrsmittel Nummer eins, wenn es darum geht große, schwere Lasten zu transportieren. Tag und Nacht im Einsatz, ist es nicht einmal ein so langsames Transportmittel, wie man vermutet. Ihm zur Seite kreischt die Bahn und unisono im Chor jault Gummi auf breiten, wohlasphaltierten Bundesstraßen. Schluss mit ruhig. Als Nadelöhr zwischen Nord und Süd hat der Mittelrhein ein schweres Los. So schnell wie möglich will man hindurch; und verweilen, so wie früher, will kaum einer mehr. Wenn man näher hinschaut, ist das aber auch der Trend der Zeit weltweit. Die Hatz von A nach B, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit.

Rheinromantik 2.0 – die Fortsetzung der Romantik mit anderen Mitteln

Auf die kürzlich ausgeschriebene Stelle als Burgenblogger (die Bewerbungsfrist endet am 14. September) haben sich mittlerweile schon mehr als 300 Bloggerinnen und Blogger beworben. Kurzerhand aufgesetzte Twitter und Facebookaccounts spriesen wie Pilze aus den sozialen Medien. Videofreaks, Twittericonen und alle möglichen Derivate von Webexistenzen rangeln um den ruhigen Posten auf Burg Sooneck im Welterbe Mittelrheintal. Der Sturm vieler vor der Ruhe eines Einzelnen. Irgendwie ist das signifikant für die Schizophrenie unseres Seins.

Ich fürchte, die Rheinromantik 2.0 hat mit der Rheinromantik vor 200 Jahren nicht mehr viel gemein, wie auch die Welt selbst sich gewandelt hat. Schneller, schneller, schneller und mehr, mehr, mehr sind die Zauberformeln, nach denen wir heute leben. Wir müssen uns beeilen, rangeln, müssen bestehen im täglichen Konkurrenzkampf um Jobs, Materielles und Begehrliches.